Der Westen hat alles totgemacht

Eigentlich muss Diepensee erst in zwei Jahren dem Großflughafen Schönefeld weichen. Doch das Dorf hat sich jetzt schon aufgegeben

von ULRICH SCHULTE

Der Friedhof ist ein guter Ort, um die Geschichte eines sterbenden Dorfes zu beginnen. Ein Eisenzaun im Herbstnebel, daran lehnt ein blaues Damenrad. Der Besitzer, ein alter Mann, schlurft mit dunkelgrünen Gummistiefeln durch die Gräberreihen. Er trägt Blaumann und zwei Gießkannen. „Die meisten wollen weg, schauen Sie sich die vergammelten Häuser doch an“, sagt er. „Nur einige Hausbesitzer wollen bleiben. Aber die wurden überstimmt.“

Ihnen bleibt keine Wahl, in zwei Jahren müssen Friedhof und Dorf Platz machen für die neue Startbahn des Großflughafens Schönefeld. Schon jetzt ist die Rollbahn nur 500 Meter entfernt. Wenn ein Airbus startet, klirren die Scheiben der Leichenhalle. Dann muss der Pfarrer innehalten in seiner Predigt.

Diepensee also. 653 Jahre alt, in der DDR ein begünstigtes Dorf – die Schweinemast, 13.000 Tiere, brachte bescheidenen Wohlstand. Heute liegen die geduckten Mastställe wie Walskelette zwischen den Häusern, tot und leer. Gut 300 Einwohner sind übrig, davon ist ein Fünftel über sechzig. Sieben Straßen. Der Jugendclub 2000. Ein Gutshof, von dem weißer Putz blättert und den sie hier stolz „das Schloss“ nennen.

Der alte Mann, der mit dem Rechen gerade Furchen in die Wege zieht, kam als Kind. Ein halbes Jahrhundert ist das her. Die Eltern liegen ein paar Schritte weiter unter rot-gelben Ahornbäumen. Will er weg?

„Tja, wie sieht’s bei mir aus ...“

Sein Blick sucht sekundenlang Rat bei einem fallenden Blatt.

„Ich beuge mich dem Fortschritt.“

Nicht resigniert klingt das, eher nüchtern. Geschäftsmäßig. Er hat mit Diepensee abgeschlossen. Und für die Eltern sorgt Paragraf 9 des Umsiedlungsvertrags – Umbettung verstorbener Angehöriger.

Viele der Alten überlegen, sich verbrennen zu lassen, sagt Pfarrer Jochen Michalek. Eine Urne umzusetzen sei nicht so kompliziert. Auf manchen Gräbern kleben grüne Zettel: Das Ruherecht ist abgelaufen. Angehörige bitte bei der Friedhofsverwaltung melden. Darüber ist in verwitterten Granit gemeißelt, was nicht mehr stimmt: Unvergessen.

Der Bewohner von Nr. 14

Der Verfall ist allgegenwärtig. Der kapitalistische Westen hat nicht die bessere Zukunft gebracht, sondern sich wie ein Krebsgeschwür um die alte, enge Dorfstraße gelegt – am einen Ende schwingen sich baumdicke Fernwärmerohre über das Kopfsteinpflaster, am anderen steht der Flughafenzaun.

Tagelöhnerkaten aus dem 19. Jahrhundert links und rechts, zwischen den grauen Backsteinen sprießt Farn, die Fenster sind zersplittert oder mit Brettern vernagelt. Über allem hängt der Geruch verglühter Kohle – hier braucht nicht mehr viel umgesiedelt werden.

Der Bewohner von Nr. 14 lehnt im groben Seemannspullover am Türrahmen, ein zerknittertes Gesicht, in den Falten um den Mund lange, graue Bartstoppeln.

Der Mann ist 67, redet in kurzen Sätzen, alle paar Sekunden saugt er die Wangen nach innen, als läge ihm ein bitterer Geschmack auf der Zunge. „Nächstes Jahr bin ich auch weg. Hier gibt’s ja nischt mehr. Keine Arbeit. Höchstens den Imbiss. Der Westen hat alles totgemacht“, sagt er.

Er kann das Erzählen selten üben, die Greisin von gegenüber hat ihre Katzen, sonst sind alle weggezogen. Die Miete ist billig, 300 Mark im Monat, aber es ist einsam geworden um Nr. 14. Trotzdem klemmt der Rentner jeden Abend ein Starkstromkabel an das Hängeschloss vor seinen Schuppen. Da drin steht sein blaues Simson-Moped. „Wird viel geklaut hier.“

Drüben, in Königs Wusterhausen, da soll es besser werden. „Da krieg ich zwee Stuben und eine Küche. Brauch nicht mehr zu heizen, ist nicht so weit zum Einkaufen.“

Warum also bleiben? Hier, wo man für jeden Liter Milch nach Waltersdorf muss, drei Kilometer hin, drei Kilometer zurück. Wo es ein nachmittagsfüllendes Ereignis ist, zu Karl-Heinz Vogels Wellblechbude an der Rotberger Straße hinüberzulaufen. Sich zu den anderen zu setzen, die nicht mehr zu arbeiten brauchen oder nicht dürfen, mit Jägermeister und Jahns-Bräu aus der Flasche. Und immer wieder die Frage: Wie geht es weiter?

In der Karl-Marx-Straße schaut ein Rentnerpärchen nicht auf, als ein Lasthubschrauber niedrig über die Dächer donnert. Sie kennen die Stille nicht mehr. Die beiden schleppen Einkaufstüten in einen der drei gesichtslosen Betonquader.

In den Sechzigerjahren waren die Mieter noch stolz auf die sozialistischen Luxusappartements, heute wollen alle raus aus den feuchten Löchern. Nach dem Umsiedlungsbeschluss 1999 hat die Flughafengesellschaft noch einmal 100.000 Mark in Lärmschutzfenster investiert, in neue Straßenlaternen und die Doppelrutsche auf dem Spielplatz.

Man dürfe eben niemandem das Gefühl geben, Diepensee werde aufgegeben, sagt Michael Pilz. Er lebt seit 1979 im Dorf, trägt Jeanshemd zum dichten Schnauzbart. Eigentlich hat er Facharbeiter für Schweinezucht gelernt.

Jetzt arbeitet Pilz im Berliner Finanzamt, einmal in der Woche hält der ehrenamtliche Bürgermeister Sprechstunde im Gemeindebüro. „Jeder im Dorf hat neulich einen Brief der Flughafengesellschaft mit dem persönlichen Entschädigungsangebot erhalten.“ Man müsse sich die Frage stellen, inwiefern sich ein Dorf direkt neben dem sich ausbreitenden Flughafen entwickeln könne, sagt Pilz.

Er spricht nicht weiter, die Antwort ist klar. Diepensee hat längst verloren, das Dorf hat sich aufgegeben.

Die wenigen Hausbesitzer, die das nicht wahrhaben wollen, wohnen an der Waßmannsdorfer Straße. Dort verstecken sich weiße Einfamilienhäuser seit Jahrzehnten hinter alten Kirschbäumen. Hier warnen Schilder vor bissigen Hunden, hier brandet die Wut heftig über brusthohe Gartenzäune.

Noch ein alter Mann. Dass seine Augen verschwimmen, liegt nicht nur an dicken Brillengläsern. „Ein Scheißstaat ist die Bundesrepublik“, sagt er. Alle wollten sie hier bleiben, die ganze Straße. „In zwei Jahren bin ich siebzig. Was soll ich in Königs Wusterhausen noch aufbauen?“

Er zeigt auf das pelzige Moos in seinem Garten. Das sei auch erst mit den Flugzeugen gekommen. In den Rasen im Vorgarten ist es gekrochen, sogar auf die schwarzen Dachziegel.

Als wüsste es schon um seinen Sieg.