Historische Ampel

Seit den Anschlägen vom 11. September sind Sozialwissenschaftler wieder gefragt. Da kommt selbst die Kultursenatorin mal zum Otto-Suhr-Institut

„Ich würde gerne Vorlesungen in Arbeits- und Sozialämtern abhalten“

von THOMAS KLATT

Kurz vor dem Ende ihrer vermutlich kurzen Amtszeit hat Adrienne Goehler noch einmal Akzente gesetzt. Als erste Kultusenatorin besuchte sie das Otto-Suhr-Institut, die Alma Mater der Sozialwissenschaften. Das Institut der Freien Universität hatte aber auch zu einem hoch aktuellen Kolloquium über Islam, Islamismus und Terrorismus geladen. Der Hörsaal konnte die Interessierten kaum fassen.

Die Senatorin für Wissenschaft, Kultur und – wie sie ausdrücklich betont – Religionen regte den verstärkten Auszug aus dem Elfenbeinturm der Lehrenden und Lernenden an. Denn mit dem 11. September sei „so etwas wie eine Renaissance der Geistes-, Kultur-, und Sozialwissenschaften einhergegangen. Die Wissenschaftsspezialisten sind von den vielen Anfragen erschöpft. Wir wissen alle verdammt wenig über den Islam“, schildert die Senatorin den Informationsstand in der Stadt.

Gerade deshalb warnte sie vor einfachen Antworten und Lösungen im Talkshow-Format auf das Terrorproblem. Die Entscheidungsträger bräuchten die Fachkompetenz der Theologen, Ethnologen oder Islamwissenschaftler, betonte Goehler. Die Fachleute sollten aber auch ihre Seminarräume verlassen und zu den Menschen gehen, die einer geordneten wissenschaftlichen Debatte fern stünden, sie aber umso nötiger hätten. Wieso nicht öffentliche Lehrstunden zum Beispiel in Theatern, Kirchen oder Moscheen? „Ich würde gerne auch Vorlesungen in Arbeits- und Sozialämter abhalten“, schlug Goehler vor.

Doch mit dieser Idee rennt die Senatorin offene Türen ein. Die Freie Universität startet nicht nur Ende Oktober eine Ringvorlesung „Nach dem 11. September“ (siehe links), sondern sie hat auch schon vor dem 11. September die Entscheidungsträger der Republik beraten, etwa das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

Schon vor Jahren hätten die Sozialwissenschaftler des OSI auf die Entwicklung von internationalen Terrornetzwerken hingewiesen, doch ohne entscheidende Resonanz, betont der Ethnologe Georg Elwert: „Die Sozialwissenschaft hat nicht geschlafen“, sondern die Politik, muss sich das erstaunte Auditorium dazudenken.

Er und seine Kollegen haben schon seit längerem die wachsenden Gewaltmärkte der Welt beobachtet. Terrorismus und Selbstmordattentäter seien der islamischen Theologie und Gesellschaft fremd. Für den Ethnologen Elwert steht fest, dass die Kriegsherrendynamik wie beim Terrornetzwerk Al-Qaida an Faktoren geknüpft sind, die mit der Religion im Lande nicht unmittelbar zu tun haben.

Elwert kann vier Faktoren benennen, die für ein aktives Terrornetzwerk wichtig sind. Erstens brauche man eine kommunikativ isolierte Gruppe, eine Art organisiertes Sektierertum. Zweitens, so habe er festgestellt, müsste ein großes Reservoir von Menschen mit Blockade-Erfahrung als primärer politischer Erfahrung vorhanden sein. Drittens müsse es eine charismatische Mobilisierung geben und zuletzt ein großes Gebiet, in das man sich zurückziehen und in dem man paramilitärisch üben könne als eine Art Freiraum für diese Gewaltmärkte.

Immer wieder wiesen in letzter Zeit Kirchenvertreter darauf hin, dass Armutsbekämpfung den Frieden sichern helfe, da der Terrorismus seine Basis in den Armutsvierteln und Flüchtlingslagern der Welt habe.

Die Sozialwissenschaftler verneinen diese Forderung zwar nicht, aber betonen, dass die Attentäter vom 11. September nach heutiger Erkenntnis gerade nicht zu den Armen der Welt, sondern zum Bildungsbürgertum zählten. „Das sind keine Marginaliserten, keine Armen, keine Dummen, keine Ungebildeten. Es sind Angehörige einer gebildeten Mittelschicht, weit gereist, kosmopolitisch, nicht arm, die sich zu diesem Mittel entschlossen haben, weil sie es für das letzte aller möglichen Mittel für sich selbst erkannt haben. Warum in dieser Totalität und Radikalität, das bleibt immer noch die große Frage“, sagt die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer.

Die OSI-Fachleute begrüßten zwar die differenzierte Berichterstattung über den Islam nach dem 11. September. Dennoch sei verstärkte Aufklärung nötig. Die Medien dürften vor allem keine Panik verbreiten. „Ich habe eine Art historischer Ampelkoalition entdeckt. Erst postulierte man im 19. Jahrhundert die gelbe Gefahr vor den Chinesen. Dann die rote Gefahr, die mittlerweile erledigt ist. Und jetzt haben wir die grüne Gefahr“, warnte Gudrun Krämer.