Der Durchbruch-Mann

taz-Serie „Die Aktivisten“ (Teil 9): Hans Martin Fleischer gehören die vier Segmente der Mauer, die im November 1989 am Potsdamer Platz als Erste herausgebrochen wurden. Seit Jahren will er etwas daraus machen. Ein Mauerfall-Denkmal etwa

von MICHAELA KIRSCHNER

Er spielt Kontrabass, und Jazz geht ihm über alles. Er plant einen Handel mit kubanischen Kaffeebohnen und Röstmaschinen aus den USA. An der Geschäftsidee hängt sein Herz. Er verlegt die Bücher, die sein Vater, ein pensionierter Lehrer, schreibt. Die sind ihm wichtig. Und die Mauer? Die auch. Er ist es müde, zu erzählen, warum. Hans Martin Fleischer seufzt und packt dann doch aus – einen Stapel Fotos, Bücher und eine Geschichte, die in den wilden Zeiten der Wende begann.

Dezember 1989, kurz nach dem Mauerfall. Fleischer ist in Japan unterwegs und verteilt selbst gespechtete Mauerstücke als Gastgeschenke. Die Japaner reißen sie ihm aus der Hand. Sein Geschäftssinn erwacht. Als Abgesandter der japanischen Kaufhauskette Seibu kehrt der BWL-Diplomand zurück nach Deutschland. Er soll größere Segmente für eine Ausstellung auftreiben. Die findet er beim Stasi-Betrieb Limex, der die Mauer im Ausverkauf hat. Im Katalog der Firma erkennt der Student jene vier Teile der Mauer wieder, die die DDR-Führung als Erste aus dem 155 Kilometer langen „Ring um Berlin West“ herausheben ließ. Drei Tage nachdem der erste Schlagbaum hochging, am 12. November 1989.

Fleischer zeigt Fotos aus jener Nacht, die um die Welt gingen: Menschentrauben, ein Meer von Kameras. Scheinwerfer im Todesstreifen. Ein Kran, der aus der Dunkelheit hervorkriecht. Das erste Stück Mauer, das in der Luft schwebt. „Das“, sagt Fleischer, „war der entscheidende Augenblick.“

Für eine fünfstellige Summe verkauft die Limex die historischen Mauerteile an Hans Martin Fleischer. Der hat sie heute noch. Inzwischen ist er Ende dreißig und seit sieben Jahren beim Bezirksamt Treptow als Pressereferent angestellt. Wie ein Referent sieht der braun gebrannte Mann nicht aus, eher wie ein Surfer. Die schulterlange Mähne hat er aus Oasis-Zeiten herübergerettet. Maueraktivist werden wollte er nie. Doch was bleibt einem „grünen Jungen“ übrig, der sich „in einem Anflug von Geschichtsbewusstsein, gepaart mit Unternehmergeist“, vier Betonkolosse an Land zieht? Die niemand kaufen will. Für die sich niemand interessiert.

Seit damals ist er einen langen Weg gegangen. Zunächst war da die Hoffnung, dass die Mauer ihn reich machen würde. Doch weder Liebhaber noch Museen wollten sich die Stücke etwas kosten lassen. Über die Jahre hat das Geschichtsbewusstsein den Unternehmergeist besiegt. Fleischers Geldbeutel ist leer geblieben, dafür hat er nachgedacht und nachgelesen – über die deutsche Teilung, die europäische Teilung, den Kalten Krieg. Heute, elf Jahre nach dem Fall der Mauer, möchte er ein Denkmal errichten. Ein Denkmal für die Stimmung des Durchbruchs, des politischen Umbruchs, die der Mauerfall weltweit symbolisiert. Am Potsdamer Platz, dem Originalstandort, wäre noch Platz dafür.

Nahe dem heutigen Sony Center begann damals der Abriss. Bis vor kurzem war an der Stelle eine Baugrube, jetzt kann man sich hier zum Fototermin treffen. Auf einem Rollwagen zieht Fleischer seine Mauer hinter sich her. Nicht die echte, die wiegt knapp drei Tonnen pro Stück. Weil der Transport der Originale für einen Pressereferenten unbezahlbar ist, fristen sie seit fünf Jahren in einem Lager in Brandenburg ein Schattendasein. Die Nachbildungen aus Styropor sind handlicher, halb so groß und so leicht, dass der Wind sie fast wegweht.

Was tut ein Maueraktivist für seine Sache? „Ich dränge mich niemandem auf“, sagt Fleischer. Wenn er mit seiner Styropormauer an einer Veranstaltung teilnimmt, so wie jüngst am 17. Juni vor dem Reichstag, hat er eine Genehmigung in der Tasche. Wenn er Journalisten auf sich aufmerksam machen will, schreibt er Pressemitteilungen. „Ich bin ja nicht Stanke“, gibt er zu bedenken. Erich Stanke ist Berlins prominentester Mauerschützer. Der Geschäftsmann erwarb nach der Wende die Grenzübergangsstelle am Potsdamer Platz, samt Mauer. Seitdem beharrt er auf seinem Besitzrecht. Mit Senat und Investoren trägt Stanke juristische Schaukämpfe aus, die Medien lockt er mit spektakulären Aktionen. Sich an Beton zu ketten und mit Diesel zu übergießen käme Fleischer nicht in den Sinn. „Ich bin kein Mauerbetroffener. Mir geht es um die Symbolkraft meiner Stücke. Die Dinger sind der Wahnsinn, nur hat das bis jetzt leider noch niemand kapiert.“

Auch das ZDF nicht. Zum 40. Jahrestag des Mauerbaus ruft es plötzlich bei ihm an. Fleischer freut sich: „Das ist ja mal was.“ Das ZDF hat die Pflastersteinmarkierung, die Eastside Gallery und Erich Stanke im Kasten. Was hat Fleischer zu bieten? Die Fahrt ins Lager dauert anderthalb Stunden. Da bleibt Zeit für ein paar Erklärungen.

So populär die Fotos vom Abriss der legendären Stücke sind, so unbequem ist ihre Detailansicht. Ein großes Hakenkreuz prangt auf einem der Segmente. 1997 ließ es die Berliner Zeitung auf den Plakaten für eine Werbekampagne einfach wegretuschieren. Alle Entscheidungsträger, bei denen Fleischer über die Jahre in Sachen Denkmal anklopfte, haben sich beim Anblick des Nazisymbols abgewandt, Exregierungschef Eberhard Diepgen ebenso wie „Partner für Berlin“-Chef Volker Hassemer. „Für ein Hakenkreuz will sich keiner von denen stark machen, egal, in welchem Kontext“, sagt Fleischer. Dabei sei doch gerade in diesem Fall der Kontext wichtig. Das Graffito stamme nämlich von einem Nazigegner, vermutlich einem Esten. Der habe es aufgesprüht, um die geheimen Zusatzprotokolle des Hitler-Stalin-Pakts anzuprangern. Die Existenz dieser Protokolle, in denen 1939 zwei größenwahnsinnige Diktatoren Europa auf dem Reißbrett zwischen sich aufteilten, wurde von sowjetischer Seite erst 1989 bestätigt. Hakenkreuz, Hammer und Sichel und der Slogan: „Estonia – Free the Baltic States“ waren ursprünglich als Sinneinheit über drei Mauerstücke verteilt. Das Segment mit Hammer und Sichel zerbrach, als man es heraushob. Geblieben ist das Hakenkreuz und, rechts davon, ein kleiner Davidstern. Diese Kombination, diese Proportion, ist in Deutschland nicht gesellschaftsfähig.

Hans Martin Fleischer sieht das anders. Gegen die Mauernostalgie der Wessis, gegen „Schmetterlinge und Blumen aus Kreuzberg“ will er seine sperrigen Mauerstücke setzen und den Menschen einen Denkanstoß geben. Das Hakenkreuz ist für ihn kein Schandfleck, sondern „ein symbolischer Widerhaken, der die Mauer als Siegestrophäe für den Kapitalismus unbrauchbar macht“. Gern würde er mit Unterstützung des Berliner Senats am Potsdamer Platz ein kleines Museum einrichten. Mit seinen Stücken, ein paar Multimediaterminals und einem Endlosfilm, der den Besuchern den Fall der Mauer ins Gedächtnis brennt. Wie wichtig dieser Augenblick war, kann Fleischer nicht oft genug betonen: „Es war ein Wahnsinnsumbruch. Ein globaler Gegensatz hat sich damals aufgelöst. Dass diese Mauerteile gefallen sind, hat den Menschen das Urvertrauen in die Gestaltbarkeit der Welt wiedergegeben.“

Die Menschen – das sind die, die an diesem Nachmittag an seiner Styropormauer vorbeischlendern. Manche bleiben stehen, wollen sie anfassen. Andere gehen einfach vorüber. Dann ein Anruf, wieder das ZDF. Hans Martin Fleischer und seine Jazz-Band sollen fürs „heute-journal“ den Song „Wonderwall“ von Oasis spielen. Live, um drei Uhr nachts, am Potsdamer Platz. Bitte! Jahrelang haben die Medien seine Pressemitteilungen ignoriert, jetzt ist der Funke übergesprungen. Fleischer strahlt. Und plötzlich spürt man sie, die Durchbruchsstimmung jener Novembernacht 1989, der er ein Denkmal setzen will.