Angriff auf Brigade Sorgenfrei

Eine Gruppe Sozialhilfeempfänger trifft sich täglich vor dem Neuköllner Rathaus. Das erregt den Bürgermeister und die Bezirksverordneten. Die Gruppe soll weg – nur wohin, weiß niemand. Eine Aufzeichnung der allgemeinen Ratlosigkeit

„Wir haben Probleme, über die wollen wir hier reden.“

von WOLF VON DEWITZ

Der Bürgermeister sagt: „Das lustige Treiben der Brigade Sorgenfrei.“ Und lacht. Aber nur kurz. Denn zum Scherzen ist ihm eigentlich nicht zumute. „Die saufen, krakeelen, pöbeln, urinieren und hinterlassen Fäkalien.“ Und, nach kurzem Innehalten: „So geht das nicht weiter.“

Heinz Buschkowsky (SPD) ist Bezirksbürgermeister von Neukölln. 330.000 Einwohner aus über hundertfünfzig Staaten, 13,3 Prozent Arbeitslosigkeit. „Ein sozial problematischer Stadtteil“, sagt er nachdenklich. Nun sind die sozialen Probleme sprichwörtlich vor seiner Haustür angelangt. Eine Gruppe sozialer Tiefgänger (ja, das auch: Mitbürger) hat sich auf Rathaustreppe und Bänken eingefunden. Sie trinken Bier und billigen Fusel. Tätowiert und mit teils abgerissenen Klamotten. Laut Buschkowsky hindern sie Angestellte und Passanten am Zugang zum Rathaus. Mehr noch: „Diese entsozialisierten Personen verfolgen sie bis ins Rathaus hinein.“

Seit April treffen sich die 30 bis 50 Sozialhilfeempfänger und Arbeitslosen täglich auf dem Neuköllner Rathausplatz. Von mittags bis zum Einbruch der Dunkelheit. Ein optischer Widerborst im harmonischen Platz, neben Blumenpracht, Plätscherbrunnen und Freiluftcafé. Und am Abend – „wenn die im Vollsuff sind, gleicht das hier einer Müllhalde“, so Buschkowsky. Zumal es sich um Personen handelt, die als polizeilich bekannt gelten. „Das Aggressionspotenzial ist hoch“, bestätigt die PDS-Fraktionsvorsitzende Silvia Stelz.

Der Tropfen zu viel auf das Fass der bürgermeisterlichen Toleranz war: ein Akt der Leidenschaft. „Die kopulieren hier in aller Öffentlichkeit!“ erregt sich Buschkowsky. Eine Sekretärin im Büro der Frauenbeauftragten bestätigt das. Ja, sie habe gesehen, wie ein Pärchen es miteinander getrieben habe. „Der Baum hat ganz schön gewackelt.“

Nun haben die Wogen der Empörung jegliche Fraktionsgrenzen überspült. SPD, CDU, FDP, Grüne, PDS sind sich (erstmals?) einig. In den Worten von Stefanie Vogelsang, stellvertretende Bezirksbürgermeisterin (CDU): „Dagegen muss etwas unternommen werden.“

Das ist ihr gutes Recht. Schließlich ist das Rathaus, in dem sie sitzt, Eigentümer besagten Platzes. Ein neues Schild besagt: Alkoholverbot und Hundeleinenpflicht. Damit dem Schild auch angemessene Beachtung zukommt, patrouillieren Ordnungshüter auf dem Platz. Es hagelt Platzverweise und Anzeigen. Drastischste, nicht jedoch seltene Maßnahme: das Vorfahren von vollbesetzten Mannschaftsbussen der Polizei. Dann nimmt die „Brigade Sorgenfrei“ Reißaus – auf die andere Straßenseite. Und kehrt zurück unmittelbar nach Abzug der Einsatzkräfte.

„Wir machen doch gar nichts“, sagt Frank P. (38) achselzuckend. „Ja, wir haben Probleme – über die wollen wir reden, deshalb treffen wir uns.“ Also nur ein Austausch finsterer Curriculae Vitae? Der Ex-Fallschirmspringer bringt es in seinem eigenen Leben auf Körperverletzung, Drogenabhängigkeit und Dealerei, Verhaftung mit 23 Kilo Heroin im Gepäck, fünf Jahre Knast, im Hafturlaub Flucht nach Mallorca, wieder Verhaftung, wieder Knast. Nun ist er frei – und nicht mehr kokainabhängig, wie der dreimal geschiedene Deutsch-Spanier und Vater von zwei Kindern betont. An seiner Seite Freundin Sabine. Die war auf Tabletten und Alkohol. „Jetzt sind wir clean“, krächzt das Pärchen im Chor und stürzt sich noch eine Dose Schultheiss in den Rachen. Neben ihnen steht Daniel K. (32). HIV-positiv, chronisch Hepatitis-C-krank. Einst heroinabhängig, nun auf Entzug mittels Methadon. Schwere Körperverletzung, Raub, acht Jahre Knast hat er auf dem Buckel. Und Eddie P. (29), vier Jahre eingebuchtet wegen Banküberfalls. Auch bei ihm Heroin, nun Polamidon.

„Die kopulierenhier in aller Öffentlichkeit!“

„Sie nennen uns Brigade Sorgenfrei?“, schimpft Eddie, „das ist blanker Zynismus. Wir gehen doch kaputt an unseren Sorgen.“ Verzweiflung statt Aggressivität. Ein Mann namens Hans kommt an, streckt seinen linken Armstumpf in den Himmel. „Vor dem Unfall spielte ich Gitarre – und jetzt? Was soll ich denn machen?“ Es sind soziale Grenzfälle, über die sich gerne wohlwollend sprechen lässt – aus sicherer Distanz. Die Sozialhilfeempfänger berichten von einer wahren Odyssee durch Berlin. Kottbusser Tor, Mehringdamm, Möckernbrücke, Hermannplatz – weitergetrieben im Rhythmus von Polizei-Großeinsätzen. Endstation Rathaus Neukölln?

„Der Rathausplatz darf nicht verwahrlosen“, meint Sebastian Klücker (FDP). „Der Zustand des Platzes ist repräsentativ für den ganzen Stadtteil.“ Klücker erwägt den Einsatz von Sozialhilfeempfängern, die gegen einen geringen Zuschuss den Platz sauber halten sollen. Wenn das nichts bringt, soll ein privater Wachdienst ran. Nur auf die Frage, wo sich die „Brigade Sorgenfrei“ dann treffen solle, weicht er aus.

Andernorts werden in solchen Fällen Streetworker zur Entschärfung der Lage eingesetzt. Doch da wird der Bürgermeister deutlich: „Für diese Personen kommt der Einsatz von Sozialarbeitern zu spät.“ Silvia Stelz (PDS) bringt es auf den Punkt: „Eine Lösung für das Problem weiß ich auch nicht.“ Damit ist sie nicht allein im Rathaus Neukölln.