Zu lahm für schnelle Züge

Die einzige handbetriebene Bahnschranke fällt morgen zum letzten Mal. Der Schrankenwärter bekommt einen neuen Job. Doch Charlottenburger Kleingärtner sind sauer. Schuld ist der Mauerfall

VON JOHANNES GERNERT

Der Gartenzwerg sieht aus, als wäre er tot. Er liegt auf dem Rücken, in roten Shorts und mit gelbem Shirt. Auf einem Schwimmreif treibt er in dem klodeckelgroßen Teich, im trüben, algengrünen Wasser. Über dem Teich baumelt ein Plüsch-Papagei mit zerfetzten Federn vom Dach des Bahnwärterhäuschens. An der Wand lehnt ein Besen neben einem aufgerollten Gartenschlauch und einer grellgelben Gießkanne. An den Fenstern des Häuschens sind Gitter angebracht.

Die ganze Bahnwarte steht in einem Käfig. Zur Sicherheit. Es gab mal Ärger, nachts, mit einem betrunkenen Chaoten. Man kann die kleine Bahnlaube deshalb jetzt von außen begutachten wie ein Relikt in einem Eisenbahnzoo. Nicht mehr allzu lange allerdings. Das Häuschen ist akut vom Aussterben bedroht. In ein paar Wochen, Monaten vielleicht, wird es abgerissen. Dann muss auch der Gartenzwerg weg, der Papagei und die Gießkanne. Vor allem aber wird die Schranke im Ruhwaldweg verschwinden. Die Schranke, wegen der das Häuschen überhaupt dort steht. Inmitten des Laubenpieperpanoramas.

Schuld daran ist das Pilzkonzept. Schuld ist der Mauerfall, die Wende und die schlichte Tatsache, dass man anschließend mit dem Zug wieder quer durch Berlin fahren konnte. Natürlich wollte die Bahn diesen Umstand nutzen. Sie hat also schon vor etwa 14 Jahren angefangen, darüber nachzudenken, wie genau die Züge denn nun durch Berlin geleitet werden sollen, in einem größeren Netz. Es standen drei Ausbau-Modelle zur Auswahl: die Achse, der Ring und der Pilz. Man hat sich für den Pilz entschieden, über den es in der Broschüre „Bahnstadt Berlin“ heißt: „Als Hut des Pilzes fungiert der nördliche Berliner Innenring, als Krempe die Stadtbahn, als Stiel die Nord-Süd-Verbindung.“

Die Krempe, so viel war schon vor 14 Jahren klar, würde die Schranke im Ruhwaldweg den Kopf kosten. Es würden schnellere Züge fahren, mehr von ihnen. Das Tempo würde zu hoch werden für die Schranke. Zumal sie noch von Hand gesenkt und gehoben werden muss. Deshalb wird die Schranke irgendwann im Laufe des 1. Juli zum letzten Mal fallen. Jemand wird ein Schild anbringen, auf dem steht, dass das Überqueren der Gleise verboten ist. Später wird man die letzte handbetriebene Schranke Berlins abtransportieren und durch einen Zaun ersetzen.

Jens Eggebrecht wird etwas anderes machen müssen. Er ist einer der beiden Schrankenwärter, die sich in den letzten Wochen darum kümmern, dass im Charlottenburger Ruhwaldweg kein Auto vor den Zug fährt. Es ist kein besonders aufregender Job. Meist kommen um die acht Züge während einer Schicht vorbei. Die erste Schicht fängt in den frühen Morgenstunden an und dauert bis Mittag. Dann kommt die Ablösung. Abends um zehn ist Schluss. Es gab mal eine Zeit, da wurde die Schranke rund um die Uhr bedient. Da saßen manchmal auch Frauen im Häuschen. Auch nachts. Und weil einmal ein Besoffener Krawall gemacht hat, wurde der Käfig gebaut. Es schaut jetzt auch eine Kamera über den Bahndamm.

Wenn die Schranke die Ankunft der Schnellzüge überdauert hätte, wäre Eggebrechts Beruf wohl richtig aufregend geworden. Der Zugmelderuf hätte wesentlich öfter als acht Mal schrill aus dem Häuschen geklingelt, wie ein alter Wecker. Eggebrecht hätte die Tür geöffnet, wäre rausgeeilt, hätte die Kurbeln gepackt, die aus den grün lackierten Kästen ragen, hätte wie ein Leierkastenmann auf Speed gedreht, die rot-weiße Schranke hätte gebimmelt, warnend, hätte sich gesenkt, langsam, beschaulich, wie es sich gehört in einer Kleingartenkolonie. Eggebrecht wäre wieder nach drinnen gegangen, hätte der Leitstelle gesagt, dass der Bahnübergang geschlossen ist. Und dann wäre ein Zug vorbeigeschossen. Einer von diesen neuen, leisen, unhörbar schnellen.

Der Bahnwärter macht jetzt genau dasselbe. Es dauert ein bisschen. Man hört das Vibrieren der Gleise, rhythmischen Lärm. Dann schiebt sich langsam eine blaue alte Lok über den Bahndamm. Zurzeit fährt nicht allzu viel. „Güterzüge, Bauzüge, ’ne Menge Schotterzüge. So ’ne Sachen“, sagt Jens Eggebrecht.

Einige Autos, Fahrradfahrer und Fußgänger stehen hinter der Schranke und warten. Ein älterer Herr hat seinen Cockerspaniel gerade noch rechtzeitig zurückgepfiffen. Der Hund war frech unter der Schranke durchgewedelt. Vermutlich hätte die Lok bremsen können. Ein ICE hätte es wohl nicht mehr geschafft.

Weil die Züge noch nicht im Minutentakt vorüberschweben, sondern nur stündlich poltern, hat Jens Eggebrecht nicht gerade viel zu tun. „Da liest man halt ein bisschen“, sagt er. Auf seinem Schreibtisch liegt die Bahn-Zeit, auf deren Titel Bahnchef Mehdorn die neuesten Umsatzerfolge verkündet. „Da kuckt man ein bisschen“, sagt Eggebrecht. Durch die dreckig-beigen Gardinen hinaus, neben denen sich der türkise Putz pellt. Neulich, nach einem Sturm, hat Eggebrecht mit dem Fernglas die Strecke überprüft und dabei Zweige auf den Schienen liegen sehen. Hat er der Leitstelle gemeldet. Daraufhin haben die ihn hingeschickt und er hat das Geäst weggezogen. Vollkommen ungefährlich. Ohne Eggebrecht nämlich fährt gar nichts. „Wenn ich hier nicht runterdrehe, bleibt der Zug stehen“, sagt er.

Eggebrecht sieht nicht aus wie der geborene Bahnwärter. Eher wie ein Pariser Bürgersöhnchen. Er trägt ein rot-weiß geringeltes Oberteil von Lacoste, schrankenfarben sozusagen, und schicke Sneakers. Seine Jeans haben deutlich mehr Nähte, als für die Stabilität unbedingt erforderlich wären. Er ist 33. Seit 16 Jahren bei der Bahn. Fünf Jahre davon am Ruhwaldweg. Vorher hat er am Ostgüterbahnhof, als die Bahn noch Reichsbahn hieß, Frachtpapiere ausgestellt. Die Züge koordiniert. „Welcher Wagen ist wo, damals ging das noch nicht so mit Computern.“ Als es dann mit Computern ging, ging es auch ohne Eggebrecht. Er fing beim Stellwerksdienst an. „Güterzüge fahren lassen.“

Eggebrecht ist kein Bahn-Narr, kein Zug-Fan. Er hat nach der Schule einen Job gesucht, da ist er eben zur Reichsbahn gegangen. Vor allem ist er kein typischer Schrankenwärter. „Früher war das mehr so eine Stelle, wo die älteren Kollegen kurz vor der Pensionierung einen ruhigen Posten bekommen haben, sag ich ma’“, sagt Eggebrecht. Mit 33 steht man noch nicht unmittelbar vor der Pensionierung. Aber er steht auch nicht vor der Entlassung. Das ist die beruhigende Botschaft, die Bahn will den Schrankenabbau „sozialverträglich“ regeln.

Sie erntet in Charlottenburg trotzdem Widerstand. 1997, als das Ende der Schranke feststand, hat der Bezirk dagegen geklagt. Sieben Jahre später musste Baustadtrat Klaus-Dieter Gröhler (CDU) mitteilen, dass die Klage in letzter Instanz vor dem Bundesverwaltungsgericht ohne Erfolg blieb. Schließlich war nur noch die Frage, ob sich der Übergang ersetzen lässt. Man hätte eine Fußgängerbrücke bauen können. Das wollte der Bezirk nicht, weil Treppen nicht behindertengerecht sind. „Was anderes wollte die Bahn nicht“, sagt Gröhler.

Der Nutzen müsse auch zum Aufwand passen, sagt Gisbert Gahler, Sprecher der Bahn in Berlin. „Für wen wäre das denn gewesen, für die drei Laubenpieper?“ Den Bahnübergang würden vor allem Autofahrer als „Schleichweg“ nutzen. „Durchgangsverkehr“, sagt Gahler. „Außerdem ist da drüben schon eine große Brücke.“ Er zeigt an den Schienen entlang Richtung Fürstenbrunner Weg.

Wenige Meter von der Schranke entfernt steht ein alter Mann im Blaumann und sprengt mit einem Schlauch vor dem Latz den Rasen. An den Gartentoren hängen hier Namensschilder. Für Kampfhunde gilt Maulkorbzwang. Arbeitsanweisungen für die nächste Gemeinschaftsaktion, verkündet ein Aushang, gibt es bei „Gartenfreund Gert“. „Mich persönlich stört das nicht, dass die den Übergang dichtmachen“, sagt der Mann im Blaumann. „Die ganzen Autos, die ganzen Gase. Ich bin zufrieden, wenn die nicht mehr durchfahren.“ Er erschrickt ein bisschen, als der Herr mit dem Cockerspaniel sich nähert. Er spricht leiser. Grüßt freundlich. Als Herr und Hund außer Hörweite sind, begründet der Dissident seine Vorsicht: „Ich lass mich doch nicht von den anderen lynchen.“

Auf der anderen Seite der Straße vertritt ein Mann mit elektrischer Heckensäge die Mehrheitsmeinung. Laut und deutlich hörbar: „Eine Schweinerei ist das, dass das zugemacht wird. Viele wohnen oben am Spandauer Damm. Die müssen dann außen herum fahren. Ein Riesenumweg“, sagt der Mann. Der Schweiß läuft ihm über die Stirn. Ob das alle Gartenfreunde so empfinden? „Die einhellige Meinung ist das“, sagt er. Seine Frau, die hinter ihm herläuft und das, was er von der Hecke sägt, von der Straße in einen Eimer packt, nickt zustimmend. Er muss dann schnell weitermachen. Er hat nicht mehr lange Zeit. „Ab ein Uhr ist Mittagsruhe.“

Wenig später macht auch Jens Eggebrecht einen Stempel in sein vergilbtes „Dienstübergabebuch“: „Arbeitsruhe begonnen.“