Sinnliches Ausstellungsprojekt: Laubgeruch mit einer Prise Pizza

"Sensing the street" erforscht die Sinnlichkeit von Straßen. Studierende der Ethnologie und Kunst zeigen, wie die Ackerstraße riecht, die Adalbertstraße tönt und die Karl-Marx-Straße sich anfühlt. Heute eröffnet der zweite Teil.

Fühl die Straße! Geruch, Geschmack und Sound von drei Berliner Straßen sind museumsreif Bild: Promo

"Gras Moor Erde Moder Teer". Die Schrift auf der Stellwand ist grasgrün und weckt ländliche Assoziationen. Folgt man den Wörtern mit den Augen, verläuft die Farbe immer mehr ins Bräunliche, ganz rechts erzeugen die Begriffe ein Gefühl von Enge und häuslichem Mief: "Suppe Wäsche Sträucher Fusel Keller".

"Geruchsfährte im Straßenverlauf" haben Judith Willkomm und Siegfried Stauber ihr Bild genannt. Es soll im geschlossenen Ausstellungsraum erfahrbar machen, wie es draußen auf der Straße riecht. Im Fall der Ackerstraße, die sich von Süden nach Norden durch Berlins Mitte zieht, gelingt die Übersetzung von Geruchsempfindungen in Schrift und Farbe: Man kann sich die Hunde am Koppenplatz, die Abgase Ecke Torstraße und den Geruch der Mietshäuser in der Weddinger Ernst-Reuter-Siedlung lebhaft vorstellen.

"Sensing the street" heißt das interdisziplinäre studentische Ausstellungsprojekt, das drei Straßen unter die sinnliche Lupe nimmt. Drei Semester lang haben Studierende des Instituts für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität (HU) und des Instituts für Klangkunst der Universität der Künste (UdK) zusammen geforscht und experimentiert: Wie fühlt sich Berlin an? Diese Frage wollen sie anhand der Ackerstraße, der Kreuzberger Adalbertstraße und der Neuköllner Karl-Marx-Straße beantworten.

Die drei Straßen stehen exemplarisch für typische Berliner Erfahrungen: Teilung, Wiedervereinigung, wirtschaftlicher Niedergang. "Künstlerisch-ethnologische Verdichtung" nennt der Ethnologie-Professor Rolf Lindner die Methode, mittels derer seine Studierenden die besondere Stimmung einer Straße wiedergeben.

In den historischen Räumen des Mitte-Museums im Palais am Festungsgraben riecht es nach Ackerstraße. Zumindest fast: Klappt man den Deckel der an der Wand installierten "Geruchsbox" auf, bekommt man olfaktorische Protokolle von Anwohnern und Passanten zu hören: Die Ackerstraße riecht wie "feuchtes Herbstlaub, gemischt mit Abgasen und einer Prise Pizzageruch vom Italiener neben der Ackerhalle". Judith Willkomm hat sich für die kleine Sinnesmogelei entschieden, "weil Gerüche nicht konservierbar sind. Und synthetische Düfte nicht authentisch genug."

Also muss man versuchen, der Wahrheit so nahe zu kommen wie möglich. Das Experiment "Sensing the street" macht dabei deutlich, wo die Grenzen der Ausstellungskunst liegen. Beim Geschmackssinn mussten die Studierenden schlicht kapitulieren. Nicht nur, weil sich verderbliche Lebensmittel schlecht präsentieren lassen. "Schmecken bedeutet meist Essen. Und das ist zu stark mit Berlin-Klischees behaftet, die mit der Straße selbst nur wenig zu tun haben", erklärt Judith Willkomm.

Das Erbspüree aus der Weddinger Eckkneipe kann man sich deshalb als Geschmacksspur zum Videospaziergang von Maria Hiebsch dazudenken. Die Klänge von Tom Waits verbinden sich darin mit dem Anblick einer grauen Wohnsiedlung. Nicht deprimierend, sondern melancholisch-schön findet Hiebsch sowohl die Musik als auch den nördlichen Teil der Ackerstraße, der ihr während des Projekts ans Herz gewachsen ist.

Friederike Krebs ist da anderer Meinung. Auch nach anderthalb Jahren intensivster Beschäftigung kann sie der Straße wenig abgewinnen: "Trist und langweilig", findet sie die junge Mutter, die in Friedrichshain lebt. In ihrem "poetischen Soundscape" klingen die Nebenstraßen wie Flüsse, die Ackerstraße ist ein träges Gewässer, das Geräusche schluckt und davonträgt.

Fritz Schlüter dagegen hat mit seiner akustischen Montage "Stadtland Ackerstraße" Klanginseln bereist, die einen Ackerstraßenkosmos voller Überraschungen zeigen: Fledermäuse auf dem Sophienfriedhof, der Gesang von Alten und Behinderten im Wohnheim der "Schrippenkirche", die Klänge eines buddhistischen Tempels. "Die Ackerstraße ist randvoll mit Berliner Historie", schwärmt Schlüter. "Armenspeisung in der Schrippenkirche, die Mietskaserne Meyers Hof mit sechs Hinterhöfen, das Altdeutsche Ballhaus, in dem heute Überraschungseier-Messen stattfinden." Doch das Historische, musste er feststellen, ist ebenso flüchtig wie Geruch und Geschmack. Auf dem Parkettboden des Mitte-Museums kleben immerhin Zitate aus Klaus Kordons Jugendbuch "Die roten Matrosen" mit Szenen aus der Ackerstraße um 1918.

Damit die Ausstellung auf die Straße zurückwirkt, haben die AusstellungsmacherInnen "Sensation Points" markiert; BesucherInnen der Ausstellung können mittels Kreide und einer Schablone mit Augen-, Nasen-, und Ohrsymbol vor Ort weitere Lieblingspunkte hinzufügen. Obwohl die Ackerstraße eine der meisterforschten Straßen Berlins ist, seien die AnwohnerInnen bis jetzt sehr aufgeschlossen für das Sinnesprojekt, erzählt Schlüter.

Wie es den KollegInnen in der Adalbert- und der Karl-Marx-Straße ergangen ist, werden die Ausstellungen zeigen, die heute im Kreuzbergmuseum und am 22. November in der Galerie im Saalbau Neukölln eröffnet werden. Einen direkten Vergleich wagen nur die Filme der UdK-Studenten, die alle drei Straßen bei Nacht zeigen. Dunkel und relativ leer ist es überall - aber es fühlt sich ganz anders an.

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Jahrgang 1974, geboren in Wasserburg am Inn, schreibt seit 2005 für die taz über Kultur- und Gesellschaftsthemen. Von 2016 bis 2021 leitete sie das Meinungsressort der taz. 2020 erschien ihr Buch "Der ganz normale Missbrauch. Wie sich sexuelle Gewalt gegen Kinder bekämpfen lässt" im CH.Links Verlag.

Jahrgang 1974, geboren in Wasserburg am Inn, schreibt seit 2005 für die taz über Kultur- und Gesellschaftsthemen. Von 2016 bis 2021 leitete sie das Meinungsressort der taz. 2020 erschien ihr Buch "Der ganz normale Missbrauch. Wie sich sexuelle Gewalt gegen Kinder bekämpfen lässt" im CH.Links Verlag.

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