Stille als Folter: Eine lautlose Qual

Stille kann Folter sein. Weil er Verwandte aus der DDR schmuggelte, saß Hartmut Richter in Einzelhaft im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen. Manchmal glaubte er, verrückt zu werden.

Tock, tock, tock, tock. Hartmut Richter sitzt auf einem Stuhl ganz nah an der Zellenwand. Der linke Arm liegt wie auf dem schmalen Tisch. Die rechte Hand rutscht unter der Platte Richtung Wand. Tock, tock, tock, tock. Ein misstrauischer Blick zur Tür. Ob der Schließer guckt? "So haben wir das damals immer gemacht. Und wehe, man wurde erwischt."

Eine Einzelzelle im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen. In einem Raum wie diesem saß Hartmut Richter früher als Häftling. Über Klopfzeichen trat er mit den Zellennachbarn in Kontakt. Sie waren oft das einzige Geräusch in der Stille. "Die wollten einem das Gefühl geben, man sei vergessen", sagt Richter. Vor allem nachts habe man kaum etwas gehört. "Manchmal dachte ich schon: Ich werde verrückt, wenn nicht bald etwas passiert."

In einer lauten Welt wird Stille als angenehm empfunden. Doch Ruhe kann auch Folter sein. "Der Organismus orientiert sich an Geräuschen. Sie sind zeitliche Signale", sagt Jochen Ziegelmann, Wissenschaftler für Gesundheitspsychologie an der Freien Universität. "Wenn man nichts hört, wird die Zeitwahrnehmung gestört." Wer dieser Form der Gewalt ausgesetzt sei, müsse häufig auch mit Lichtentzug und sozialer Isolation klarkommen. Das könne zu schweren Traumatisierungen führen.

Die Wunden sind bei manchen auch 18 Jahre nach dem Mauerfall nicht verheilt. Das zeigt der Besuch eines anderen ehemaligen Häftlings, der zum ersten Mal wieder auf das Gelände kommt. Tagelang hielt ihn die Stasi in einer Gummizelle gefangen. Zur Beruhigung, wie es hieß. Ein kleiner Raum, der mit schwarzen Gummiplatten ausgekleidet und bei geschlossener Fensterklappe völlig dunkelt ist. Die Wärter steckten ihn in eine Zwangsjacke. Obwohl er kaum Luft bekam, summte er ein Lied, das er von seiner Mutter kannte. Summte und summte. Sang gegen die Dunkelheit, die Stille, die Einsamkeit.

Als der Mann die Gummizelle jetzt zum ersten Mal wieder betritt, packt er seine Mundharmonika aus und spielt ein Lied. Ein Versuch, diesen Ort auch im nachhinein mit Musik zu bezwingen, ihm seinen Schrecken zu nehmen. Doch er bricht in Tränen aus. Auch einige Stunden später möchte er nicht über seine Erfahrungen sprechen. Zu groß ist die Angst, dass sie ihn doch noch holen, wie er es nennt. "Nicht, dass mich die Stasi-Mafia jetzt noch erwischt."

Hartmut Richter blieb der Gummiraum erspart. Seine Zelle liegt im Stockwerk darüber. Ein Holzbett, Tisch, Stuhl, Waschbecken, Klo. Durch Glassteine fällt trübes Licht vom Hof hinein. Graue, abwaschbare Farbe blättert von den Wänden. Nicht immer war es still. "Ich habe mitgekriegt, wenn andere im Gang waren. Man hörte ja die Schreie, die Befehle der Schließer."

Richter betrachtet es als seine Aufgabe, von den Menschenrechtsverletzungen des DDR-Regimes zu berichten. Der 59-Jährige macht Führungen durch die Gedenkstätte. Ruhig erzählt er seine Geschichte. Schon als Jugendlicher träumte er davon, in den Westen fahren zu können. 1966 gelang ihm die Flucht durch den Teltowkanal. In den 70er-Jahren schmuggelte er Freunde und Verwandte über die Transitstrecke nach Westdeutschland. Mit seiner Schwester im Kofferraum wurde er erwischt. Und wegen "staatsfeindlichen Menschenhandels" zur Höchststrafe von fünfzehn Jahren verurteilt.

Die Stasi-Leute brachten ihn nach Hohenschönhausen, später in die Gefängnisse in Rummelsburg und Bautzen II. "In Rummelsburg habe ich nachts nur die Ratten in den Abflussrohren gehört. Manchmal dachte ich, die sind in meiner Arrestzelle." Nach über fünf Jahren kaufte ihn die Bundesrepublik 1980 frei.

Vier Jahre hatte er da schon in Einzelhaft verbracht, allein mit sich und seinen Gedanken. Nur das Klopfen sickerte überall durch die Wände. Keine Morsezeichen. "Die kennt ja kaum einer", sagt Richter. Einmal Klopfen hieß A, zweimal Klopfen B und so weiter. Manchmal durchbrach ein lautes Scheppern die Ruhe. Die Schließer schlugen von außen gegen die eiserne Tür: "Essen!" Vernehmungen waren eine willkommene Abwechslung. Dann die Nacht. "Das war eine Stille voller Spannung", erinnert sich Richter. Alle drei bis sechs Minuten leuchtete die Glühbirne in der Zelle. "Zur Kontrolle, dass man sich nicht durch Selbstmord der Haft entzog."

Lautlosigkeit ist für Richter heute noch ein Problem. "Im Auto mache ich immer gleich das Radio an", erzählt er. Auch zu Hause, beim Zeitunglesen, dudelt es. Richter lebt mit seiner Frau in Charlottenburg. Er muss immer hören und sehen, dass er frei ist. Die Türen hält er offen, die Vorhänge auch. Sein Zimmer geht zur Straße raus. "Ich brauche dieses Rauschen. Friedhofsstille ist nichts für mich."

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