Buchprojekt: Die Details der Judenverfolgung

Briefe nach Israel, Gespräche mit Überlebenden: Pfarrer Detlev Riemer erforscht seit 20 Jahren die Geschichte der Luckenwalder Juden.

Mehr als einen Monat vor der Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz 1933 wurde in einer brandenburgischen Provinzstadt schon einmal geübt: Am Abend des 7. April 1933 nahm auf dem Luckenwalder Markt eine Premiere ihren feurigen, grausigen Lauf: SA-Männer und Hitlerjugend warfen Werke von Schriftstellern in die Flammen, die den neuen Machthabern missfielen. "Es war Literatur aus der sogenannten Systemzeit, also aus der Weimarer Republik", hat Pfarrer Detlev Riemer herausgefunden.

Der 60-Jährige hat zahlreiche Zeitungsberichte von 1933 ausgewertet. Er sieht hinter der Bücherverbrennung vor allem einen Propaganda-Coup der lokalen Nazis: "Es ist der Griff nach der Jugend. Verbrannt wurden hauptsächlich Bücher aus der Bibliothek der 1930 eröffneten Friedrich-Ebert-Schule. Sie war 14 Tage vorher in Hindenburg-Schule umbenannt worden."

Luckenwalde war als Industriestadt mit rund 25.000 Einwohnern eine Hochburg der Sozialdemokraten - auch noch bei den Märzwahlen 1933. Mit spektakulären Aktionen wollten die Nazis mehr Anhänger gewinnen. Doch für die unerträglichen Feuersprüche, die später in Berlin gerufen wurden ("Ich übergebe der Flamme die Schriften von …"), reichte es in Luckenwalde nicht. "Die neue deutsche Jugend entledigt sich dieser Literatur, ohne große Worte zu machen", schrieb eine Zeitung damals.

Die jüdischen Luckenwalder beobachteten die Ereignisse mit Schrecken. Schließlich nannte das Tageblatt die Bücherverbrennung in seiner Ausgabe vom 7. April ein Zeichen, "dass die Herrschaft der Juden in Deutschland endgültig vorbei ist". Auch beim Boykott jüdischer Geschäfte, der reichsweit für den 1. April angesetzt war, waren die Luckenwalder Nazis vorgeprescht: Bereits im März vernagelten sie das "Kleinwarenkaufhaus" des Berliner Juden Richard Jacobi.

Detlev Riemer kennt alle Details über die Monate, in denen die Nazis ihre Macht auch in Luckenwalde durchsetzten und die hier lebenden Juden die ersten Anzeichen der Verfolgung zu spüren bekamen. Und er weiß noch viel mehr Einzelheiten, er kennt Namen, Geburts- und Sterbedaten. Er führt Listen über die Luckenwalder jüdische Gemeinde. Von 1735, als sich Salomon Hirschel und Abraham Moses als erste Juden mit einem Schutzbrief des Königs Friedrich Wilhelm I. zum Preis von 500 Talern in Luckenwalde niederließen, bis zum 15. Juli 1941, als der später deportierte und verschollene Walter Hirschfeld auf dem Amtsgericht die Löschung der "Kultusvereinigung Synagogengemeinde Luckenwalde" aus dem Vereinsregister vollziehen musste. Das war das Ende der Juden in Luckenwalde.

Doch Detlev Riemer weiß auch, wie es mit ihnen weiterging. Neben den Listen und Aufsätzen bewahrt er Briefe aus Israel, Europa und USA auf und zwei Musikkassetten, die ein ehemaliger Luckenwalder in Kalifornien in einer zögerlichen Mischung aus Englisch und Deutsch mit seinen Erinnerungen besprochen hat. 1986 hatte der Pfarrer mit dem Briefeschreiben nach Israel und anderswo begonnen - misstrauisch beägt von den DDR-Organen, die ihn aber letzlich gewähren ließen. Das große Vertrauen, das Riemer alte Menschen entgegenbrachten, wenn sie ihre Lebensgeschichte erzählten, von einer oft glücklichen Kindheit in Luckenwalde bis zu Übergriffen und Vertreibung, hütet der Pfarrer wie einen Schatz. Er sieht sich als Seelsorger und oft als Freund.

Riemer bewahrt das Gedächtnis der Luckenwalder Juden. Insofern war es selbstverständlich, dass er vom Potsdamer Moses-Mendelssohn-Zentrum gefragt wurde, das Ortskapitel über Luckenwalde im neu erscheinenden Sammelband "Jüdisches Brandenburg" zu schreiben, der am Donnerstag in Berlin vorgestellt wird (siehe Kasten).

Suche nach Überlebenden

Die Höhepunkte in seiner Recherche waren andere: die Einladung zum 80. Geburtstag des jüngsten Sohnes von Gustav Herrmann in London zum Beispiel. Gustav Herrmann hatte die väterliche Hutfabrik übernommen und mit der nichtjüdischen Firma von Friedrich Steinberg fusioniert. Seinem Bekannten, dem jungen Architekten Erich Mendelsohn, vermittelte Gustav Herrmann den Auftrag zum Bau eines modernen, gigantischen Industriegebäudes. Die Mendelsohnsche Hutfabrik gilt heute als Ikone der modernen Architektur, sie steht auf der nationalen Denkmalliste der Bundesrepublik und wird langsam und stückweise saniert. Nutzen will sie nun ein aus dem Libanon stammender Unternehmer aus Berlin. Beim Herrmann-Geburtstag in London lernte Riemer Herrmann-Verwandte aus der ganzen Welt kennen. Viele Nichten und Neffen kamen später zu Besuch nach Luckenwalde.

Als Erster aber kam der Mathematiker und Philosoph Hans Freudenthal nach Luckenwalde. Er hatte bereits 1930 einen Ruf an die Universität Amsterdam angenommen und überlebte auch die deutsche Besatzung der Niederlande. 1988 besuchte er Luckenwalde - und da es in der Stadt kein Interhotel gab, in das er als ausländischer Besucher hätte ziehen müssen, wohnten die Freudenthals zwei Nächte in Riemers Pfarrhaus. Im selben Jahr eröffnete Detlev Riemer auch die erste Ausstellung zu den Luckenwalder Juden, 50 Jahre nachdem die Synagoge, zugleich Freudenthals Geburtshaus, am 9. November 1938 geschändet und geplündert wurde. Angezündet wurde sie nicht, wegen der Nachbarhäuser. Heute hält hier die Neuapostolische Kirche Gottesdienst, vor wenigen Wochen wurde auf dem Straßenpflaster davor eine Gedenkstele angebracht. Auf der einen Seite erzählt sie die Geschichte der Jüdischen Gemeinde, auf der anderen nennt sie die Namen der ermordeten Luckenwalder Juden.

Doch der Pfarrer, der aus Potsdam stammt und erst in den 80ern nach Luckenwalde kam, fragt sich immer noch, warum es an ihm hängenblieb, die einstigen jüdischen Einwohner der Stadt zu suchen. "Warum hat nie jemand versucht herauszufinden, was etwa aus seinem alten jüdischen Schulfreund geworden ist?"

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.