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: HELMUT HÖGE über natürliche und politische Ökonomie

„Wo ein Pavian lebt, ist auch der Kummer nicht fern!“ (äthiopisches Sprichwort, das sich auf den Schweizer Primatologen Hans Kummer bezieht)

Wenn ich mit Jeanette (9) in den Zoo gehe, will sie vor allem die Paviane sehen, die meist als kleine Horde auf ihrem Affenfelsen hocken: der aufgeplusterte „Pascha“ auf dem höchsten Punkt, die anderen gleichsam zu seinen Füßen gruppiert. Das ist jedes Mal mein Pavianbild. Das Heimkind Jeanette konzentriert sich – glaube ich – auf einzelne kleine Paviane. Sie will Biologin werden und Affen in ihrem wirklichen Leben in der afrikanischen Savanne oder im Hochland erforschen.

Je nachdem, wo Paviane leben, ist ihre soziale Organisation eine andere: hier eher egalitär, dort eher haremsgleich. „Bärenpaviane bilden in den südafrikanischen Drakensbergen Haremsgruppen und mutieren gerade mal tausend Meter tiefer wieder zu Gruppen mit vielen Männern“, schreibt der Biologe Cord Riechelmann. Darüber hinaus unterscheidet sich das Pavianverhalten zum Beispiel zwischen den Mantelpavianen der Savanne und den Hochland-Dscheladas. Die Weibchen der Letzteren „bleiben im Unterschied zu Mantelpavianen ihr Leben lang mit ihren Müttern, Tanten und Töchtern in enger Verbindung. Die verwandtschaftlich gebundenen, matriarchalisch geordneten Kleingruppen bilden die stabilen Kerne der Herden.“

Man könnte inzwischen eine ganze Bibliothek mit Büchern über Paviane füllen. Die weißen männlichen Wissenschaftler redeten dabei erst von „Trieben“ und „Instinkten“ und dann von „Genen“, während die Japaner schon in den Fünfzigerjahren das „Soziale“ beobachteten. Heute ist die Primatenforschung eine Domäne von weißen Frauen: Biologinnen und Anthropologinnen.

Der Durchbruch gelang ihnen mit dem internationalen Feminismus. Aber noch lange danach wurde auch von ihnen die Biologie als „natürliche Ökonomie“ in Analogie zur „politischen Ökonomie“ begriffen – und vice versa. Sie sprachen bei ihrer Feldforschung von „Investitionen“ und „Profit“ und begriffen Verhalten unter dem Aspekt von „Kosten-Nutzen-Rechnungen“. Der „American Way of Life“ war diesen Wissenschaftskarrieristinnen derart in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie ihn als ganz natürlich – artübergreifend quasi – in den Affen bloß gespiegelt sahen. Die feministische Biologin Donna Haraway spricht hierbei von einer „neodarwinistischen Evolutionstheorie“, der sie sich (deduktionistisch) verpflichtet fühlten.

Dem abstrakt entgegengesetzt ist die „Kropotkin’sche“, mit der zum Beispiel der holländische Primatenforscher Frans de Waal das Verhalten diverser Affenarten sowie auch die Beobachtungen diverser Affenforscher interpretiert. Die einen und die anderen „Erzählungen“, wie Donna Haraway solche Forschungsberichte nennt, sind ihrer Meinung nach dem „Zeitgeist“ verpflichtet. Dort ein Neoliberalismus, dessen Begrifflichkeit schon in Darwins Schriften Eingang fand (den Utilitarismus, die Kosten-Nutzen-Theorie von Jeremy Bentham, das „Überleben des Tüchtigsten“ vom Sozialevolutionisten Herbert Spencer, die Idee der Konkurrenz als treibende Kraft der Entwicklung von Thomas Malthus). Hier die anarchistisch-kommunistische Idee von sozialer „Assoziation“, „Kooperation“ und dem „Mitleiden“ auf der Basis von „Empathie“ – für das die derart inspirierten Forscher ebenfalls in „ihren“ Affenpopulationen viele Belege fanden.

Um allen aus bloßer Widerspiegelung bestehenden Theoriebildungen zu entgehen, hat der Wissenschaftssoziologe Bruno Latour eine (neue) „Akteur-Netzwerk-Theorie“ (ANT) entwickelt. Sie basiert nicht zuletzt auf der Pavianforschung von Shirley Strum in Kenja, die davon ausgeht, dass in den Herden bzw. Horden schier permanent versucht wird, das soziale Zusammenleben (wieder) herzustellen. Und weil die Paviane dazu weitaus weniger Hilfsmittel haben als wir (Statussymbole, Sprache, Kleidung, Werkzeug, etc.), sind sie quasi Sozial-Profis im Vergleich zu uns Menschen und machen das „wirklich nett“, während sich bei uns umgekehrt das „Soziale“ – auch noch ideologiegestützt – langsam verflüchtigt.

Zum Verständnis dessen gibt die (klassische) Unterscheidung zwischen Natur und Kultur nichts (mehr) her. Eine der ANT-Maximen von Latour lautet: Wirke der „vorzeitigen Umwandlung von umstrittenen Tatsachen in unbestreitbare Tatsachen“ entgegen! Das weitet den Horizont des unvoreingenommenen wissenschaftlichen Beobachters, dem es darum gehen sollte, „Assoziationen nachzuzeichnen“. Dies vergrößert den politischen Handlungsspielraum, um „das Soziale neu zu versammeln“. Dazu muss aber „das Globale wieder lokal“ gemacht und sodann das „Lokale neu verteilt“ werden. Alles klar?!