KINDERWAGEN KOLUMNE VON NINA APIN
: Unterwegs zwischen Nord- und Südkorea

Stillfragen – oder: Was passiert, wenn das leicht gentrifizierte Moabit auf die harte Wirklichkeit prallt

Nordkorea beginnt zwei Gehminuten vor unserer Haustür. Die viel befahrene Straße Alt-Moabit bildet eine soziale Grenze, die Moabit fein säuberlich in zwei Hälften teilt. Im südlichen Teil, wo wir wohnen, gibt es Kinderläden, die „Kleckerburg“ heißen, einen Biergarten im Innenhof einer Kirche und ein Restaurantschiff auf der Spree, wo mittags die Angestellten von Amtsgericht und Innenministerium sitzen. Nördlich, in dem Teil, den unsere Nachbarn nur halb ironisch „Nordkorea“ nennen, gibt es Dönerbuden, ein Quartiersmanagement und das Gesundheitsamt, in dem ich jeden Montag meine Tochter wiegen lasse.

Der Weg dorthin führt an der Knastverwaltung vorbei, wo eine Skulptur am Eingang für Respekt sorgen soll: Eine monumentale Löwin streckt mit der Pranke eine Schlange nieder. Rundherum haben sich Hertha-Klausen, Shisha-Höhlen und 99-Cent-Läden angesiedelt. In der Reinigung „Goldene Hand“ lassen die Justizvollzugsbeamten ihre blauen Uniformen in Schuss bringen. Ein Friseur wirbt mit ornamentalen Rasurmustern für Männer und einem extra Raum für Frauen mit Kopftuch. Daneben hat ein Automaten-Spielcasino eröffnet, eines von vielen auf der Turmstraße, die Richtung Westen von todgeweihten Warenhausketten wie Hertie dominiert wird.

Nach dem Wiegen schiebe ich manchmal noch bis zur Beusselstraße, um beim Libanesen „El-Reda“ gegrilltes Lamm und Roseneis zu essen. Allerdings nur, wenn das Baby gerade satt ist. Denn angesichts der frommen Koransprüche an den Wänden und der verschleierten Gäste getraue ich mich dort nicht zu stillen. Deshalb kaufe ich mir oft nur im Baklava-Tempel nebenan eine in Honig getauchte süße Schweinerei und rätsle über die Wanddekoration, die den über dem Meer schwebenden Kopf eines jungen Mannes samt Schwert und Halbmond zeigt. Dann ziehe ich mich auf eine Parkbank zurück und frage mich, wie es wohl verschleierte Frauen mit dem Stillen machen. Gehen die dazu jedes Mal nach Hause? Oder stillen sie aus Schicklichkeitsgründen gar nicht? Auf dem Rückweg sehe ich jedenfalls nur junge Mütter mit Nuckelflaschen in der Hand. Und einen Lederschwulen, der hocherhobenen Hauptes seinen in ein Latex-Hundekostüm gepellten Sklaven ausführt. Und niemand verzieht eine Miene. Von wegen Nordkorea.

Bohrende bis feindselige Blicke treffen mich dagegen auf der Wiese hinter Schloss Bellevue. Dort schiebe ich den Kinderwagen quer, um Richtung Nordische Botschaften abzukürzen. Dass ich eine unsichtbare Grenze überschritten habe, merke ich daran, dass alle anderen hier Männer, mehr oder weniger nackt und auf einen Sprung ins Gebüsch aus sind.

Abends, zu Hause in Südkorea, weiß dann der Freund, wie es die Verschleierten mit dem Stillen machen: Er hat beobachtet, wie eine Frau ihr Baby unter eine dünne Extraschicht schwarzes Tuch steckte. Aber mit dem Freund rede ich gerade nicht so viel. Seit er beim letzten Familienspaziergang durch Moabit ein T-Shirt trug mit der Aufschrift: „Ich bin nicht freiwillig hier“. Und ich fragte mich schon, warum die Passanten alle so grinsen.