Der Raum für den Traum vom Kleid

NÄHCAFÉ Nähen, Ketteln, Sticken. Linda Eilers bietet in einem kleinen Kreuzberger Laden die Maschinen zum Selbernähen für jeden

„Ich beschloss, nur noch das zu machen, was mir Spaß macht“

LADENINHABERIN LINDA EILERS ÜBER IHRE GESCHÄFTSPHILOSOPHIE

VON HEIDI SIMON

Ein schlichtes knielanges Kleid, ohne Ärmel, hinten und vorne hat es einen tiefen runden Ausschnitt. Der Stoff dagegen ist raffiniert: Auf einem weißen Grund ist ein rot-, beigefarbenes Ornamentmuster eingewoben. Das ist es! Das lang gesuchte Traumkleid! Darja Samdan hat es nicht nach langen Streifzügen durch Modegeschäfte gefunden. Die hat sie schon lange aufgegeben. Stattdessen griff sie selbst zu Nadel und Faden. Für insgesamt 44 Euro trägt sie nun genau das Kleid, das sie haben wollte.

Zufrieden steht die 25-Jährige vor dem Spiegel und betrachtet ihr Werk. „Es ist sogar noch schöner geworden, als ich es mir vorher in Gedanken vorgestellt habe.“ Ihr Vater hatte bereits zu Hause eine Nähmaschine besessen. Schon lange rumorte der Wunsch in ihr, einmal selbst Hand an zu legen, als sie den Laden „Stitch’n’Bitch“ in ihrem Kreuzberger Kiez entdeckte.

Die Probierstube

Anfangs blieb Samdan skeptisch: „Ich fragte mich, ob es wirklich so einfach sei. Kann man da wirklich so reingehen und sofort loslegen?“ Doch genau darum geht es in dem kleinen Nähcafé: ausprobieren. In einem etwa 25 Quadratmeter großen Raum und einem kleinen Hinterzimmer sind auf einfachen Spanplattentische zwölf Nähmaschinen verteilt. Dazu gibt es zwei Tische, auf dem große Vorlagen nachgezeichnet und ausgeschnitten werden können. Die Atmosphäre ist entspannt und gleichzeitig chaotisch. Überall liegen Stofffetzen, Nadel, Fäden und andere Utensilien herum. Im Hintergrund läuft Musik, ständig fragt irgendwer, ob man noch Tee, Kaffee oder einen Keks möchte.

Das Konzept des Ladens ist simpel. Kreative und Nähinteressierte können vorbeikommen und gleich loslegen. Einzige Voraussetzung: Kunden müssen den Stoff selbst mitbringen, alle weiteren Utensilien werden zur Verfügung gestellt. In unzähligen Zeitschriften liegen Schnittmuster für Kleider, Hosen, Taschen, T-Shirts und so weiter bei. Die Schnitte sind aber nicht in Stein gemeißelt, sondern können noch nach individuellen Vorlieben angepasst werden.

„Eigentlich muss man nur eine Idee haben, Linda erklärt, wie man es umsetzen kann“, sagt Clara Espe, eine regelmäßige Kundin bei „Stitch ’n’ Bitch“. Sie selbst nahm ursprünglich an einem der Nähkurse, die immer wieder angeboten werden, teil, weil sie mehr Kleider für Partys haben wollte. „Mittlerweile habe ich schon eine ganze Kollektion genäht“, erzählt die 21-Jährige.

Inhaberin Linda Eilers kam mit ihrer Idee aus dem niederländischen Utrecht im September 2006 nach Berlin. Die 31-Jährige wuchs praktisch mit der Nähmaschine auf: Ihre Mutter war Schneiderin und brachte ihr nahezu alles bei. Dennoch kam Eilers erst auf Umwegen in die Modewelt. In Utrecht begann sie ein Philosophiestudium – bis sie schwer erkrankte. „Von da an habe ich beschlossen, nur noch das zu machen, was mir Spaß macht“, erzählt Eilers. Das Kapital für die Ladengründung konnte sie kurioserweise durch ihre schlampige Wohnungsverwaltung in den Niederlanden ansparen. Das Haus war in einem so schlechten Zustand, dass sie über ein Jahr keine Miete zahlen musste. So konnte sie das Geld in ihre Geschäftsidee investieren.

Sehr zur Freude von Kundinnen wie Darja Samdan. Ein Kurs an der Volkshochschule wäre für sie nicht in Frage gekommen. Da gebe es immer ein gewisses Strengegefühl, sagt Samdan. „Ich kann dort nicht meine eigenen Vorstellungen verwirklichen und es geht eher darum, etwas fertig zu machen“. Im Nähcafé dagegen würden eigene Ideen geschätzt.

In dem kleinen Geschäft fühlte sich die HU-Studentin schnell wohl. „Mir gefällt es besonders gut, dass hier von den Zeiten her alles so flexibel ist und dass die Leute hier so offen sind. Bei ihnen kann man sich viele Sachen abschauen, und sieht, was alles noch möglich ist.“

Der Laden bietet ein sehr gutes Umfeld, sich auszutauschen. Die meisten Kunden sind Frauen zwischen 20 und 35. Aber es kommen auch Großmütter mit ihren Enkeln – und auch Männer. Amateure sitzen hier neben ausgebildeten Designern. Letztere kommen wegen der speziellen Kettelmaschinen, mit denen Ränder besonders gut abgenäht werden können, oder wegen der Bestickungsmaschinen.

Bis Samdan so fingerfertig ist wie eine Designerin, dauert es noch. Doch sie ist immerhin so motiviert, dass sie nun plant, sich selbst eine Nähmaschine zu kaufen. Dabei war Samdan trotz genauer Vorstellungen wie ihr Kleid aussehen sollte, überrascht, wie zeitaufwändig das Nähen war. „Als ich den achtstündigen Kurs buchte, dachte ich mir, dass ich vielleicht zwei Stunden an dem Kleid nähe und mich dann anderen Projekten widmen kann“, gibt sie lachend zu. Die Arbeit hat ihr viel Spaß gemacht. Doch sie hat unterschätzt, wie lange es etwa dauert, einen Reißverschluss einzunähen, sodass am Ende alles passt und der Einnäher nicht total aus dem Traumkleid hervorsticht.

Bewusstes Schneidern

Die Ladenbesitzerin Linda Eilers will ihren Kunden auch ein Bewusstsein für Kleidung mitgeben. Wer Kleider von der Stange bei H&M, Zara und Co. kauft, dem sei oft nicht bewusst, wie viel Arbeit in so einem Kleid steckt. Eilers will ihren Kunden verdeutlichen, dass Kleidung oft unter menschenunwürdigen Bedingungen hergestellt sein muss, wenn sie zu so niedrigen Preisen verkauft wird.

Die Schneiderin selbst lebt ihre eigene Philosophie auch und trägt nur Kleidung, die sie selbst genäht hat – außer ihre Schuhe, die seien von Birkenstock. Ihr Stil ist dabei wie Eilers selbst. Die Schnitte sehen unkompliziert aus, die Kleidung besticht aber durch ihre fröhlich bunten Stoffe.

Mit ihrem Geschäft kam sie zuerst gut im Kiez an, für die Änderungsschneider, von denen es viele im Viertel gibt, war sie keine Konkurrenz. „Viele Leute kamen am Anfang vorbei und waren neugierig, was das denn für ein Laden sei“, so Eilers. Doch die anfängliche Neugierde ließ schnell nach und es herrschte Flaute. „Das war hart. Ich saß im leeren Laden und niemand kam“, sagt die Inhaberin. Die schweren Zeiten überbrückte sie, in dem sie sich das Lokal mit einer Designerin teilte. Mittlerweile herrscht emsige Betriebsamkeit. Laut Eilers kommen jeden Tag zwischen 10 und 20 Kunden und sie nimmt auch Aufträge für Maßanfertigungen, wie Brautkleider, an.

Im vergangenen Jahr stellte Eilers gar zwei Auszubildende ein. Nun will sie noch weiter expandieren. Eine Kooperation mit dem Berliner Kreativkaufhaus, das demnächst an den Moritzplatz umzieht, ist geplant. Dort will sie eine Filiale einrichten. Der bisherige Laden in der Wrangelstraße bleibe aber bestehen. „So eine Wohnzimmeratmosphäre, wie sie hier herrscht, würde ich sonst nie mehr bekommen.“

■ „Stich ’n’ Bitch“: Wrangelstraße 80, 10997 Kreuzberg, Berlin. Der Laden ist Dienstag bis Freitag von 13 bis 22 Uhr, Samstag 13–20 Uhr geöffnet. Weitere Infos im Internet unter www.linkle.nl