WIEDERKEHR EINES SCHWIERIGEN BEGRIFFS
: Antifa im Feuilleton

In den Fallstricken des Instituts für Vergangenheitsbewirtschaftung

VON HELMUT HÖGE

Der Westberliner „Dschungel“, ein Club in der Nürnberger Straße nahe dem KaDeWe, war das Vorbild für heute hundert Clubs vor allem im Osten. Er bot gutes Essen, verbunden mit etwa einer Lesung und anschließender Tanzmusik. Die Warteschlange vor dem sie sortierenden Türsteher war manchmal 100 Meter lang. Der Spiegel erinnerte zuletzt noch einmal an all die Berühmtheiten, die dort „verkehrten“. Über 1.000 Leute waren Club-Mitglieder, sie wurden nicht kontrolliert. In der Wende wandte sich das Dschungel-Publikum blitzartig – nach Osten. Das Betreiberkollektiv meldete Konkurs an – „wegen wiedervereinigungsbedingtem Desinteresse“ (Spiegel). 2000 eröffnete der Dschungel noch einmal für eine Nacht, aber das fiel nicht mehr groß auf bei all den kleinen und großen Touristen-Events, die seit 1990 täglich in der Hauptstadt stattfinden.

Ein Jahr vor der Wende, 1988, hatte die taz-Kulturredaktion noch einen Mitarbeiter in den „Dschungel“ geschickt, um dessen zehnjähriges Bestehen zu würdigen. Ihr Reporter, der Künstler Thomas Kapielski, wohnte gleich nebenan, wo seine Freundin eine Künstlerpension, das „Nürnberger Eck“, betrieb. Überdies gehörte er zum Freundeskreis der „Merve“-Verleger, die mit ihren Autoren fast zum „Dschungel-Stammpublikum“ (Zitty) zählten. Als Kapielski im Club ankam, war es im Spiegelmosaiksaal bereits gerammelt voll. Kapielski schrieb: „gaskammervoll“. Sein „Dschungel-Jubiläum“-Text wurde am nächsten Tag veröffentlicht.

Ein paar Tage später kam ein Leserbrief von der „Hydra“-Gründerin Pieke Biermann, in dem sie das Wort „gaskammervoll“ beanstandete, woraufhin der taz-Magazinredakteur Arno Widmann eine Art Vollversammlung einberief. Die beiden Redakteurinnen, die „das Wort“ hatten durchgehen lassen, weigerten sich, eine öffentliche Entschuldigung abzugeben. Sie wurden entlassen. Etwa zehn ihrer Autoren solidarisierten sich daraufhin mit ihnen – und kehrten der taz freiwillig den Rücken. Das Künstlerhaus Bethanien stellte ihnen, ebenfalls aus Solidarität, ein Atelier als Büro zur Verfügung, das der gleichfalls solidarische taz-Hausmeister dann mit Möbeln und Arbeitsgerät (aus alten taz-Beständen) ausstattete.

Der Autor des Gaskammervoll-Artikels, Thomas Kapielski, hatte „Schreibverbot“ bei der taz bekommen. Er wandte sich dem Bücherschreiben zu und wurde als „Merve“-Autor berühmt. Nichtsdestotrotz wird er immer wieder auf das Wort „gaskammervoll“ angesprochen. Es gibt weitere Debatten darüber, ob man es so wie er verwenden darf. Das Betreiberkollektiv des „Dschungels“, obwohl an sich aller Political Correctness (einer der Geschäftsführer war Sänger der Punkband „Geile Tiere“) abhold, hatte sich bereits 1988 „pc“ entschieden: Kapielski bekam „Lokalverbot“. Außerdem wurde ein „Dossier“ über den Skandal zusammengestellt – und an alle Club-Mitglieder verschickt.

Jetzt, 2010, hat die Romanautorin Iris Hanicka, die man zum Kreis der damaligen taz-Abtrünnigen im „Bethanien-Büro“ zählen kann, „das Wort“ noch einmal aufgegriffen, in ihrem Roman „Das Eigentliche“. Er handelt laut FAZ „vom Leben, Lieben und Schreiben nach Auschwitz“. Hauptfigur ist Hans Frambach, ein Archivar am Institut für Vergangenheitsbewirtschaftung – weswegen die FAZ ihre Rezension mit einem nachdenklichen Foto vom Berliner Holocaust-Denkmal illustrierte. An einer Stelle schreibt der FAZ-Rezensent, nachdem es geheißen hat, dass der Archivar selbst beim Besuch der KZ-Gedenkstätte Auschwitz sich fast frivol gefühlt habe: „Zwanzig Seiten später verlässt Frambach sein Institut durch ein Treppenhaus, in dem rauchende Mitarbeiter ihre letzte Zuflucht im sonst nikotinfreien Gebäude finden, weshalb ein Kollege den Trakt als ‚Gaskammer‘ bezeichnet hatte und dafür sofort entlassen wurde. Niemand belangt Frambach für seine frivolen Vergleiche; als er aus dem Institut nach draußen tritt, fühlt er sich in der dortigen Normalität gerettet.“ Auschwitz-Dschungel-taz-Institut für Vergangenheitsbewirtschaftung …

Der frühere taz-Kulturredakteur Mathias Broeckers hatte, bereits kurz nachdem das Wort seine Wirkung gehabt hatte, eine Diskussion darüber in der Zeitung veröffentlicht, an der sich auch der Kabarettist Wolfgang Neuss beteiligte. Er schrieb: „eine taz, die jüdisch denkt, sagt: ‚Achtung, wir haben in der Kulturabteilung zwei infizierte Faschistinnen – aber wir behalten sie bei uns!‘ “ Das hat die taz nicht gesagt, sie hat jedoch in den zugigen Treppenaufgängen Ecken reserviert, in denen ihre letzten Raucher „Zuflucht finden“.