Tierische Hauptstadt: Die neuen Nachbarn

Berlin ist Wildschwein-Stadt. Die Tiere dringen immer weiter ins Siedlungsgebiet vor. Das ist aber kein Grund zur Panik, findet Förster Marc Franusch. Die Schweine seien ausgesprochen friedlich - solange man ihnen nicht zu nahe kommt.

Ein Wildschwein in der Stadt ist keine Seltenheit mehr. Bild: AP

Der frische Schnee erschwert die Suche. Aufgewühlte Erde und Hufabdrücke bleiben unter der weißen Schicht verborgen. Förster Marc Franusch zeigt auf ein paar Spuren unweit des Waldweges im Tegeler Forst. "Das sind ganz klar Hundespuren", begutachtet er fachmännisch. Der 45-Jährige geht ein paar Schritte weiter in den Wald hinein. Plötzlich bleibt er stehen: "Da sind welche!" Franusch deutet auf einige ovale Abdrücke im Schnee. Ein Wildschwein. "Vielleicht ist es erst letzte Nacht hier entlanggelaufen."

Obwohl sich die Paarhufer gelegentlich bis in die Vorgärten der Berliner in Frohnau und Hermsdorf wagen, sind an diesem frischen Wintermorgen keine Tiere in Sicht. "Im Moment ist die Lage relativ entspannt", erklärt Franusch. Der Vorfall im Januar dieses Jahres, bei dem im Grunewald drei Ski-Langläufer von einem verletzten Keiler attackiert worden waren, sei ein "absoluter Einzelfall". "Das Tier litt unter äußeren und inneren Verletzungen", sagt der Förster. "Wahrscheinlich hat es deshalb so aggressiv reagiert."

Normalerweise seien Wildschweine ausgesprochen friedliche Tiere. Sie hausen im Wald, sind dämmerungs- und nachtaktiv und werden wegen der Jagd meist gerade mal zwei Jahre alt. Die weiblichen Bachen und ihre Frischlinge leben mit anderen Bachen und Frischlingen in Wildschweinfamilien, die man Rotten nennt. Zu einer Rotte gehören bis zu 30 Tiere. Der männliche Keiler ist Einzelgänger - er gesellt sich nur zur Paarungszeit im Winter zu den Bachen. Ein ausgewachsener Keiler wiegt bei einer Kopf-Rumpf-Länge von bis zu 1,80 Metern rund 150 Kilo. Bachen bringen nur zwei Drittel davon auf die Waage.

Klar, dass sich Mensch bedroht fühlt, wenn so ein mächtiger Schwarzkittel durch den Vorgarten spaziert. Tatsächlich wurden laut Franusch im Land Berlin im vergangenen Jagdjahr 3.500 Wildschweine geschossen, davon gut 900 im städtischen Umfeld, das heißt in Wohngebieten und auf öffentlichen Grünflächen. "Das ist die größte Zahl, die wir je hatten", so der Förster. Grund für die ausgiebige Jagd seien die große Population gewesen und der Plan, den Bestand zu regulieren.

Sabine Kopetzki von der Jagdbehörde der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung macht den Klimawandel für die vielen Wildschweine verantwortlich: "Durch die milden Winter überleben mehr Tiere, das Futterangebot im Wald ist größer", erklärt sie. Die gute Ernährung habe zur Folge, dass die Schweine schneller geschlechtsreif würden und immer mehr Frischlinge gebären. Im Moment, so Förster Franusch, gebe es wegen der Jagd und dem ungewöhnlich harten Winter zwar weniger Wildschweine. "Doch das kann sich schnell wieder ändern."

Für die Nahrungssuche kämen die borstigen Allesfresser immer näher in die äußeren Siedlungsgebiete der Stadt. "Nicht, dass es im Wald nicht genug zu essen gibt. Aber ein bequemes Mittagsmahl aus dem Komposthaufen, Tulpenzwiebeln oder frische Regenwürmer unter einer dünnen Grasschicht - das klingt schon verlockender als die langwierige Futtersuche im Wald", sagt Franusch und lacht. "Ich würde es genauso machen." Darüber hinaus würden einige Tierliebhaber das Wild verbotenerweise füttern - ein weiterer Grund, warum es sich in städtischen Gefilden mehr und mehr zu Hause fühlt.

"Berlin ist eine Wildschwein-Stadt", resümiert der Förster. Das läge an den vielen Wäldern, die ans Stadtgebiet grenzen. Im Mai 2003 hätten sich sogar zwei Schweine zum Alexanderplatz verirrt. "Wir vermuten, dass die Tiere den Weg über eine S-Bahn-Trasse gefunden haben."

Doch was tun, wenn man einem Wildschwein im Garten oder auf dem Waldweg begegnet? "Abstand halten" lautet des Försters erster Rat. "Man sollte immer beobachten, was das Schwein gerade tut: Bleibt es stehen, bleibe ich auch stehen; wenn es selbst nicht ausweicht, weiche ich aus", erklärt er. Wichtig sei, das Tier nicht in eine Sackgasse zu treiben, denn dann fühle es sich schnell bedroht. Auch dürfe man beim Rückzug nicht schleichen. Für den seltenen Fall, dass das Schwein angreift, sollte man Folgendes tun: "Schreien. Wegrennen." Sobald ein gehöriger Abstand zwischen Mensch und Schwein vorhanden sei, beruhige sich das Tier.

Sollte das Wildschwein den eigenen Garten umgegraben haben, empfiehlt sich laut Kopetzki eine Inspektion des Gartenzauns: "Der Zaun muss stabil sein und darf keine Löcher haben." Wichtig sei zudem, dass der Zaun 40 Zentimeter in die Erde eingegraben sei, damit sich das Schwein nicht darunter hindurchwühlen kann. Von einem Elektrozaun rät Kopetzki ab: "Bei spielenden Kindern in der Nachbarschaft ist das viel zu gefährlich." Für Wildtierprobleme aller Art sei das Berliner Wildtiertelefon erste Anlaufstelle. Dort gebe es Ad-hoc-Infos, wie man mit Schwarzkittel, Fuchs oder Waschbär umgehen soll.

Nach zwei Stunden im Tegeler Forst sind immer noch keine Schweine in Sicht. Zum Trost fährt der Förster zu den nahen Wildtiergehegen, wo außer den borstigen Paarhufern auch Rot- und Damhirsche untergebracht sind. Die kalte Luft riecht würzig. "So riechen Wildschweine - wie Maggi", sagt Franusch und zeigt auf ein paar Tiere, die mit ihren Rüsseln den frischen Schnee durchwühlen. Hinter dem Zaun sehen sie beinahe niedlich aus.

"Leider fühlen sich viele Menschen unwohl, weil das Wildschwein bedrohlicher erscheint als ein Fuchs oder Marder", erklärt Franusch. Doch sie müssten sich an die Gesellschaft der Tiere gewöhnen. "Das Wildschwein wird auch in Zukunft unser Nachbar sein."

Das Wildtiertelefon erreicht man unter (030) 64 19 37-23. Infos zu anderen wilden Nachbarn unter

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