ÜBER DAS VERSCHWINDEN DES BETTLERS ALS SAKRALE FIGUR
: Da ist Musik drin

Wir sind diese Penetranz in der U-Bahn noch nicht gewöhnt

VON HELMUT HÖGE

Der Semiologe Roland Barthes führte 1979 Tagebuch über seine allabendlichen Begebenheiten in „Paris im August“ – auf der Suche nach Liebe und/oder arabischen Strichjungen. Damals gab es anscheinend noch nicht viele Bettler, Zeitungsverkäufer und Musiker in der Metro, denn er stieß dort einmal auf „einen Gitarrenspieler vom Schlage amerikanischer Folksänger“, der gerade Geld von den Fahrgästen sammelte. R.B. nahm schnell einen anderen Waggon, aber bei der nächsten Haltestelle stieg der Musiker in seinen um. Der Semiologe vermutete: „Wahrscheinlich kämmt er so den ganzen Zug durch.“

32 Jahre später muss man so etwas im neoliberal vereinigten Berlin nicht mehr bloß vermuten. Des ungeachtet veröffentlichte der Medienhistoriker Burkhardt Lindner neulich in einem Aufsatzband über „Mimikry – Gefährlicher Luxus zwischen Natur und Kultur“ seine „Notizen zum Verschwinden des Bettlers“. Als ich seine Überschrift las, rief ich: „Was?! Die werden doch immer mehr!“ Darum geht es Lindner aber eigentlich nicht: Er postuliert, dass der Bettler in religiösen Zeiten geachtet war, mit der Moderne und der Industrialisierung verschwand jedoch die Ehrfurcht vor ihm: „Der Bettler stört anders als der Arbeitslose auf nichtkonforme Weise das System der Arbeitsgesellschaft. Das macht seine Bedrohlichkeit aus“ – die durch Zeitungs- oder Musikverkauf nur gemildert wird. Der antibürgerliche Bohemien Baudelaire, erinnert Lindner, verprügelte einst einen Bettler, der ihm vor seiner Kneipe einen Hut hinhielt, daraufhin verprügelte dieser ihn. Am Ende verbrüderten sich die beiden gleich armen Randgruppenangehörigen.

Einen (Medien-)Schritt weiter ging dann Bertolt Brecht in der „Dreigroschenoper“, wo „aus dem Bettlertum ein straff organisiertes Showbusiness geworden ist“, so Lindner. Jeder anständige Bettler musste Mimikry betreiben, meint der Medienforscher, das heißt, er musste dem Vorbild dessen entsprechen, „was einen Bettler als hinfällige Kreatur auszeichnet“. Heute verblasse die geschauspielerte „Figur des Bettlers“: „Der sakrale Platz, den die Religionen ihm einst sicherten und der in der Beunruhigung über den Bettler in der Moderne wirksam blieb“, verschwinde. Die letzten werden laut Lindner von privaten Wachdiensten „aus den Gängen der U-Bahn, den Bahnhöfen und Shopping-Malls vertrieben“.

1979 wurde noch umgekehrt Roland Barthes von so einem „aus der U-Bahn vertrieben“. Dazu erklärte er: „Dieses Sammeln ist mir immer lästig, als Hysterie und Erpressung, auch als Arroganz, so als ob es ganz selbstverständlich wäre, dass diese Musik oder Musik überhaupt mir immer gefällt.“ Mitunter holt ein U-Bahn-Musikerlied einen aber genau da ab, wo man es gut gebrauchen kann. Besonders Zigeunermusiker schaffen es, einen ganzen Waggon für Minuten zum Entgleisen zu bringen. Aber „die Gewohnheit ist so etwas wie ein kleines Über-Ich“, schrieb Barthes. Und in Berlin sind wir diese lauten Handygespräche, die penetrante weibliche Automatenstimme auf Deutsch und Englisch und auch die plötzliche Intimität von Mitteilungen der Better – wie „Ich bin rauschgiftsüchtig, habe Aids und mein Hund seit Tagen kaum was gegessen“ – nicht gewohnt. Vor der unseligen Wiedervereinigung haben die Leute in der U-Bahn alle still vor sich hin gelesen und an den Stationen hat man nur ein „Zu-rück-bleiben!“ gehört.

Der ÖPNV-Experte Dr. Salm-Schwader behauptet, diese ganze lärmende Scheiße begann im Übergang von der Industrie- zur Touristendienstleistungs-Metropole, als man den BVG-Stationsleitern ein Höflichkeitstraining verpasste: Sie sollten fortan „Zu-rück-bleiben – bitte!“ sagen. Ab 1992 wurden sämtliche Stationsleiter wegrationalisiert. Stattdessen wurden die Bettler in den U-Bahnen immer mehr und alles immer aufdringlicher – also unhöflicher, so dass man sich dies schon selbst gestattet. Das hat der Pariser Semiologe bereits kommen sehen: „Diese Unhöflichkeit ist etwas, das mir die Kraft zur Ablehnung verleiht.“