Die Bücherei, die alles kann

KULTUR Die Anton-Saefkow-Bibliothek in Lichtenberg ist „Bibliothek des Jahres 2011“. Ihre Nutzer lieben sie, weil sie alles kann – sogar Bücher verleihen

Der Erfolg lässt sich beziffern: Im Jahr 2010 wurden 360.000 Bücher entliehen, mehr als je zuvor

Genau genommen ist die Anton-Saefkow-Bibliothek im Bezirk Lichtenberg gar keine richtige Bibliothek. Man findet sie in einem Plattenbau. Es gibt keinen Lesesaal, es stehen keine Kataloge im Weg, und ruhig wie in den großen Stadtbüchereien oder Universitätseinrichtungen ist es schon gar nicht. Es herrscht reger Betrieb, man redet, stopft Plastiktüten mit Büchern voll. Teenies tuscheln und lachen laut. Auf die Idee, die Jugendlichen strafend anzublicken, kommen die BibliothekarInnen aber nicht: Sie verbreiten selbst gute Laune.

Warum die Anton-Saefkow-Bibliothek trotzdem – und völlig zu Recht – vom Deutschen Bibliotheksverband (dbv) und der Hamburger Zeit-Stiftung am Montag zur „Bibliothek des Jahres 2011“ gekürt wurde, verrät eine andere Perspektive auf die Institution. „Wir kommen hierher, weil wir uns hier treffen und quatschen können. Manchmal leihen wir uns auch was aus: Filme, Musik und so“, sagen Jule und Freda, beide „fast 15“.

Wenn der Pass verlängert werden müsse oder Fragen zur Gesundheitsvorsorge anstünden, könne man das „mobile Bürgeramt“ nutzen, das regelmäßig Sprechstunden in der Bibliothek abhält, erklärt ein Mann im Rollstuhl. „Dann komme ich her und kann sogar noch Zeitung lesen.“ Und Elvira Ullmann, Bibliothekarin und gebürtige Kasachin, erzählt von dem großen russischsprachigen Bestand der Bibliothek, den die Spätaussiedler nutzen, die „Bücher in Massen mitnehmen“. Das fremdsprachige Angebot sei „einmalig“ in Berlin. Zugleich berate sie die Bibliotheksnutzer „auf Russisch“, sagt sie, mache Projekte für die Migranten und „helfe ihnen“.

Es wird schnell klar, was das Besondere der Anton-Saefkow-Bibliothek ist: Sie ist Stadtteilbücherei und „Hilfe im Leben“, wie Hannah Jacobsmeyer von der Zeit-Stiftung „das ungewöhnliche Bibliothekskonzept“ nennt. Die Auszeichnung mit 30.000 Euro Preisgeld habe man nach Lichtenberg vergeben, weil die Einrichtung eine Vielzahl scheinbar unvereinbarer Funktionen zusammenführt: Sie ist Bürgeramt und Volkshochschule mit Sprach- und Lesekursen, Gesundheitsamt, Verbraucherzentrale und Ort, an dem städtebauliche und soziale Probleme debattiert werden. Bücherei und Bürgertreffpunkt vereinigten dies „auf ganzheitliche Weise“.

Lichtenbergs Bezirksbürgermeisterin Christina Emmrich (Linke) ist natürlich stolz auf den Preis. Sie erzählt die Geschichte, dass die multifunktionale Einrichtung kein Selbstläufer, sondern harte Arbeit war. „Im Jahr 2001 haben wir angefangen, die Bibliothekslandschaft im Bezirk neu aufzustellen. Das hat nicht allen gefallen. Die Briefe habe ich noch“, sagt sie. Es sei aber unumgänglich gewesen, die 1985 eröffnete Stadtteilbücherei mit einem Bestand von heute rund 65.000 Büchern und elektronischen Medien den Bedürfnissen der 60.000 Bewohner des Einzugsbereichs „anzupassen“.

Gut vernetzt

Es war ein richtiger Zug Emmrichs, neue Angebote zu machen: Aus der Stadtteilbibliothek ist ein gut in den Bezirk hinein vernetztes, Montag bis Samstag geöffnetes Stadtteilzentrum geworden. Der Erfolg der Bücherei lässt sich dabei in Zahlen ausdrücken: 2010 wurden 360.000 Bücher entliehen, mehr als je zuvor.

Eine homogene Nutzergruppe hatte die Anton-Saefkow-Bibliothek Platz an der Landsberger Allee nie. Doch heute, wo der Ort immer mehr von ganz unterschiedlichen Menschen mit breit gefächerten Interessen und Hintergründen, jeden Alters und aus jeder Schicht aufgesucht wird, stößt die Stadtteilbibliothek als Bildungseinrichtung auch an ihre räumlichen Grenzen. Das spricht nicht gegen die entwickelte und jetzt ausgezeichnete Rolle und Funktion der Anton-Saefkow-Bibliothek – es spricht für ihre Erweiterung.

ROLF LAUTENSCHLÄGER