Filmkultur in der Stadtpampa: In die Zukunft investiert

Die Macher der Tilsiter-Lichtspiele haben am Ostkreuz mitten im Nichts ein neues Kino aufgemacht. Es heißt "Zukunft" und liegt an einem historischen Ort: Hier war das zentrale DDR-Filmlager.

Läuft im neuen Kino: "Drive" mit Ryan Gosling. Bild: Universum Film/dapd

Wer das kleine, selbst gemalte Schild „Kino“ am alten Eisengitterzaun entdeckt, denkt nicht wirklich, dass hier, in dieser Ungegend, tatsächlich ein aktueller Spielfilm laufen könnte. Wir befinden uns kurz vorm Ostkreuz, der ewigen Bahnbaustelle. Aber nicht auf der bewohnten Nordseite, sondern auf der anderen, Richtung Spree. Zwischen dem Autohaus Fritz, Netto und schrottigen Brachflächen fanden die Macher der Tilsiter Lichtspiele in Friedrichshain nach langer Suche eine halb ausgebrannte, barackenartige Anlage mit großem „Garten“.

Technofreaks könnten die Gebäude vom Club „Ministerium für Entspannung“ kennen. Besonders stolz sind die Macher auf ihr Open-Air-Kino Pompeji. Programmgestalter W. Gladow – seinen wahren Namen und sein Alter will er aus unerfindlichen Gründen nicht in der Zeitung lesen – führt mich, mit einer Taschenlampe bewehrt, zwischen Mauern, die am oberen Ende schwarz von einem Brand sind. Da das Dach sowieso hinüber war, hat man die verkohlten Reste weggerissen und verfügt bereits seit dem vergangenen Sommer über rund 200 urgemütliche Kinoplätze unterm Sternenhimmel. Über Lärm beschweren kann sich in dieser Vollpampa auch keiner. Der große, alte Analog-Projektor steht in schwarze Folie verpackt im Nieselregen auf dem Ruinenbalkon.

In den heutigen Zeiten der Kinoschließungen antizyklisch eines aufzumachen, ist schon mutig. Aber warum gerade hier? „Wir haben fast drei Jahre eine Location gesucht. Heute findet man oft Investoren, die temporär ihre Immobilie aufwerten wollen. Wenn man aber Biergarten und Kino erwähnt, winken die ab“, erzählt Gladow. Investoren stellen sich eher temporäre Arztpraxen oder Fitnessbuden vor.

Alles etwas angejahrt

Kleine Programmkinos haben finanzielle Schwierigkeiten, von der Filmrolle auf digitale Projektion umzustellen. Zwar gibt es staatliche Förderprogramme, mit denen bis zu zwei Drittel der Kosten für die Digitalisierung mit öffentlichen Mitteln bezuschusst werden. Kinos mit weniger als 8.000 Besuchern pro Jahr schaffen es allerdings kaum, die für die Förderung notwendige Eigenbeteiligung aufzubringen. Dies geht aus der Antwort des Senats auf eine Kleine Anfrage des Grünen Stefan Gelbhaar hervor. "Der Senat ist nun gefordert, die Kriterien so zu gestalten, dass nicht nur die großen Multiplexkinos, sondern auch kleine Programmkinos gefördert werden können", sagt Gelbhaar. Für 31 Kinosäle in Berlin wurden bisher Mittel für die Digitalisierung ausgeschüttet. (kab)

Das Tilsiter-Kollektiv hat einiges in die „Zukunft“ investiert – so der Name des Kinos im Gebäudeinneren. Im gemütlichen Kneipenraum sieht es aus, als sei alles schon etwas angejahrt. Das hat die „Zukunft“ vor allem einem Kollektivmitglied zu verdanken, der dauernd Abbruchhäuser auf Brauchbares hin absucht. So befindet sich neben dem Tresen ein verkästeltes Innenfenster, hinter dem die Computer stehen. In einem Loch in der Wand allerdings lässt sich ein Relikt aus früherer Zeit bewundern: ein kleiner Lastenfahrstuhl. Mit dem wurden zu DDR-Zeiten Filmrollen aus dem Keller ins Erdgeschoss gehievt.

Denn in den Räumen und vor allem im riesigen Kellerareal des Gebäudes befand sich einst das zentrale DDR-Filmlager. Die Progressfilm, die noch nach der Wende ihr Börse-Kino am Hackeschen Markt in Mitte betrieb, lagerte hier den wertvollen Defa-Filmrollenschatz. In diesem Keller überdauerten Paul und Paula den bekloppten DDR-Sozialismus.

An diesem Ort ein Kino anzusiedeln war ein Wagnis, aber auch eine Art absurde Pflicht. Die rund ein Dutzend Zukunfts-Menschen widmen sich dieser Aufgabe mit einer angenehmen Portion Ironie. Die Säle heißen Drei und Vier. Eins und Zwei gibt es natürlich gar nicht. Auch Berliner Größenwahn wird ironisiert: Da sie mit Tilsit, Pompeji und Zukunft ja eine Art Troika bilden, haben sie der Quadriga schnell mal ein Pferd wegretuschiert und lassen die Dame auf ihren Postkarten mit drei Gäulen kutschieren.

Im „Zukunft“ wurden die kleinsten Dinge akribisch zurechtgedrechselt. Ein extra Leuchtschild überm Kino zeigt, dass der „Film läuft“. Oder diese Supererfindung, die alle freuen wird, die im Dunklen nicht von kleinen Treppenlämpchen geblendet werden wollen: Wenn jemand während des Films rausmuss, werden die Seitenlämpchen durch einen Sensor kurz angestellt.

Technisch setzt das Zukunft auf Digitalisierung. Dadurch brauchte man gar nicht erst einen Vorführraum einzuplanen. Platz für einen guten Beamer ist überall. Die zentrale Computersteuerung und Überwachung erfolgt vom Tresen aus. Endlich kann der Vorführer während der Arbeit mit anderen Bier trinken. Außerdem entfallen die Spulerei und Kleberei nachts nach der Vorführung. Am „Zukunft“ lässt sich also gut verfolgen, dass die Digitaltechnik bei Gründung eines neuen Kinos durchaus Vorteile und Chancen bietet.

Wer teuer modernisiert, der ist allerdings auf Förderung angewiesen (siehe Kasten), was von den großen Ketten eifersüchtig beäugt wird. Erst unlängst behauptete der Cinemaxx-Chef in einem Interview, die Förderung für die Kleinen sei wettbewerbsverzerrend. Außerdem kämen Off-Kinos inzwischen leichter in der ersten Startwoche an mögliche Blockbuster. Da bleibt Cinemaxx offenbar nur, seine Angestellten mit Niedriglöhnen auszusaugen. Das „Zukunft“ nimmt’s gelassen, der Eintritt kostet unter 5 Euro. Dafür ist der rote Vorhang auch nur eine Projektion, und profitables Popcorn gibt’s gar nicht.

Nun wird die Vergangenheit das „Zukunft“ trotzdem einholen. Man will auch indoor analoge Filme zeigen können und hat dafür schon einen Projektor gebraucht aufgetrieben. Nur leider ist auch das Herrenklo schon komplett ausgestattet. Hier wird nun der wahrscheinlich erste gekachelte Vorführraum Berlins eingerichtet. Ärgerlich für den Fliesenleger des Kollektivs, der demnächst wieder Mörtel anrühren muss – für die neue Herrentoilette.

Im riesigen Keller, in den Räumen des ehemaligen Filmlagers, entsteht selbst gebastelt ein großer Clubkeller. Wenn dann im Sommer die Leute draußen im schönen Garten hocken, mit Blick auf den dildoartigen Wasserturm der Bahn, müsste die Mischkalkulation eigentlich klappen. Zur Eröffnung kamen jedenfalls einige Zuschauer, ohne dass man groß Geld in Werbung investiert hätte.

Zukunftsprogrammplaner W. Gladow hat sich übrigens nach dem bekannten Ganoven benannt. Nicht, weil dessen Bande teilweise recht brutale Überfälle verübte, für die Werner Gladow in der DDR hingerichtet wurde. Sondern weil Gladow angeblich als junger Mann so begeistert Al-Capone-Filme konsumierte, dass er sich selbst ein Schießeisen besorgte. Wie auch immer, das Tilsiter Kollektiv hält einen Rekord: Es betreibt mit dem 1908 gegründeten Tilsiter eines der ältesten Kinos Berlins – und das jüngste. Und eines der sympathischsten.

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