Off-Kino
: Filme aus dem Archiv – frisch gesichtet

Wyatt Earp, Doc Holliday, die Clantons und die berühmte Schießerei am O.K. Corral: Es gibt sicher mehr als ein halbes Dutzend Western, die sich dieser im Kern wahren Geschichte angenommen haben, doch keiner ist so ungewöhnlich wie John Fords „My Darling Clementine“. Denn Ford geht es nicht um eine besonders spannende Inszenierung der gewaltsamen Auseinandersetzung, sondern um eine eher weitschweifige, dabei ebenso dramatische wie tragikomische Kontemplation über die Heimat, den zentralen Begriff fast aller Ford-Filme.

Der „Wilde Westen“ wird durch die Zivilisation und ihre ordnenden Kräfte überwunden, dabei sind beide Seiten jeweils repräsentiert durch einen Familienclan: Die Clantons verkörpern als gesetz- und kulturlose Menschen eine Gesellschaft, die sich überlebt hat. Weil sie sich nicht ändern können, müssen sie Platz machen für die bürgerliche Zivilgesellschaft, die im Ort Tombstone langsam Fuß fasst. Wyatt (Henry Fonda), der höfliche und prinzipientreue Anführer des Earp-Clans, findet als Sheriff von Tombstone (und als Liebhaber der Krankenschwester/Lehrerin Clementine Carter) den Absprung in die Bürgerlichkeit und die Sesshaftigkeit – er ist der perfekte Repräsentant einer neuen Zeit. Der ehemalige Arzt Doc Holliday (Victor Mature) steht dazwischen: Als Spieler und Revolverheld ist er eigentlich ein Auslaufmodell, doch besitzt er eben auch einen Sinn für Kultur und Gerechtigkeit. So schlägt er sich auf die Seite der Earps und stirbt schließlich als Märtyrer.

Viel Zeit nimmt sich Ford für jene Sequenzen, die den Einzug der Zivilisation in Tombstone belegen. Action spielt – bis auf ein Finale, in dem sich die Ereignisse überschlagen – in „My Darling Clementine“ hingegen kaum eine Rolle, vielmehr erscheint der Film als ein in exquisitem Schwarz-Weiß fotografiertes, breit ausgemaltes Stimmungsbild vor John Fords Lieblingskulisse: Den Blick auf das Monument Valley mochte sich der Regisseur auch in diesem ungewöhnlichen Western nicht nehmen lassen. Der Film läuft im Rahmen einer Retrospektive, bei der bis Ende Mai eine Auswahl von 16 Ford-Filmen gezeigt wird. (OF, 11. 5. und 24. 5. Arsenal)

Weitschweifig und breit ausgemalt sind Attribute, die auch auf Francis Ford Coppolas Vietnamkriegsepos „Apocalypse Now“ zutreffen, insbesondere auf die 2001 präsentierte „Redux“-Fassung, in die diverse Szenen und Handlungsstränge wieder eingefügt wurden, die bei der unter großem wirtschaftlichem Druck hergestellten Erstfassung noch herausgeschnitten worden waren. Verändert hat sich dadurch vor allem die abschließende Konfrontation zwischen Marlon Brando und Martin Sheen, der im Schreckensreich des vielleicht wahnsinnigen Colonel Kurtz ankommt, um dieses zu beenden: Am Ende drängt sich die Frage auf, ob Sheen nicht auch ein neuer Colonel Kurtz werden könnte. Vielleicht weiß ja der Historiker Tammo Staginnus etwas dazu zu sagen, der im Eiszeit-Kino einen Vortrag zum Film hält. Ein Buffet gibt’s an dem Samstagabend auch dazu. (8. 5. Eiszeit) LARS PENNING