Filme aus dem Archiv – frisch gesichtet

1923 entstand mit „The Covered Wagon“ von James Cruze der erste Film, der mit epischem Erzählgestus große Pioniertaten bei der Erschließung des amerikanischen Westens würdigte. Ein Jahr später folgte in diesem neuen Format John Fords „The Iron Horse“, der vom Bau der transkontinentalen Eisenbahn in den 1860er Jahren erzählt. Der epische Erzählimpetus erlaubt es Ford, seinen Helden Davy (George O’Brien) nach einem Prolog für eine halbe Stunde ganz aus den Augen zu verlieren und stattdessen vom Leben der Bahnarbeiter zu erzählen: wie sie schuften und schwitzen, wie sie von Indianern überfallen werden, wie sie von Buffalo Bill mit Büffelfleisch versorgt werden. Tragisches und Heiteres liegen dabei für Ford eng beisammen, was dem Film eine sehr gelassene Grundhaltung verleiht. Nach und nach verbinden sich die verschiedenen Erzählstränge: der Bau der Bahn, Davys Suche nach dem Mörder des Vaters, eine komplizierte Liebesgeschichte, die finsteren Intrigen der Schurken, die actionreichen Überfälle der Indianer (bei denen die Kamera im Gegensatz zum Rest des Films sehr dynamisch bewegt wird) und all die hübschen Details, die so charakteristisch für Fords Filme sind. (12. 6., Arsenal 1, engl. ZT)

Die 89 Millimeter, die sich weißrussische Eisenbahngleise in der Spurbreite von denen des westlichen Europas unterscheiden, als Metapher zu verwenden, bietet sich an: Hier läuft tatsächlich alles ein wenig anders. Denn in Weißrussland regiert der autoritäre Präsident Alexander Lukaschenko; das Land ist dafür berüchtigt, dass oppositionelle Politiker und Journalisten spurlos verschwinden oder zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt werden. Sebastian Heinzels Dokumentation beschäftigt sich allerdings nur indirekt mit den Machenschaften des Diktators: „89 Millimeter“ stellt sechs junge Leute im Alter von Anfang/Mitte zwanzig mit recht unterschiedlichen Vorstellungen vom Leben in den Mittelpunkt, wobei die Palette der Porträtierten vom Mitglied einer Widerstandsgruppe bis zum Soldaten reicht, der gar keine Diktatur erkennen kann. Der Freiheitsbegriff der jungen Leute ist letztlich so unterschiedlich wie sie selbst: Was dem einen die Meinungsfreiheit, ist dem anderen die Entenjagd. Heinzel blickt neugierig auf das fremde Land und lässt dem Zuschauer Raum für eigene Schlussfolgerungen. (14. 6., Moviemento 2)

Wenn wortkarge Männer mit großen Pistolen durch urbane und extrem stilisierte Landschaften wandern, dabei von Freundschaft und Loyalität träumen und am Ende doch verraten werden, dann denken wir zumeist an die Gangsterballaden von Jean-Pierre Melville. Doch das gab es auch in Japan, in den Filmen von Seijun Suzuki, wo alles nur noch ein wenig bunter und plakativer wirkt: In „Tokyo Nagaremono“ (1966) stapft der Held einsam durch den leise rieselnden Schnee, besucht Bars mit pinkfarbenen Wänden und singt die traurige Ballade vom Tokio-Vagabunden, derweil sich Yakuzaschurken mit coolen Sonnenbrillen und riesigen Straßenkreuzern gegenseitig abschlachten. (9.–15. 6., Brotfabrik, OmU) LARS PENNING