Tradition auf Trab

Zu Ostern reiten sie wieder: die jungen Sorben in der Lausitz. Trachten und Folklore – was anderswo schnell als spießig oder gestrig gilt, ist dort eine Frage des kulturellen Überlebens

von THOMAS SPINNLER

Die futuristischen Riesenbagger des Braunkohletagebaus. Gewaltige Löcher. Ganze Städte, Biotope, Landstriche verschwinden darin. Bilder von bestürzender Symbolik, Augenfutter für die Medien: Die Industrie zerstört den Lebensraum der Menschen und der Natur. Das sorbische Dorf Horno verschwindet mit dem Erdboden, auf dem es erbaut wurde – und der Braunkohle darunter. Der lange und leidenschaftlich geführte Rechtsstreit um Horno endete im vergangenen Jahr mit einer Niederlage: Aus dem Dorf wurde eine Grube. Und die Sorben? Gehen in ihr unter.

So jedenfalls der Tenor der gut gemeinten Berichterstattung, die den Überlebenskampf des Dorfes bis zur endgültigen Zerstörung begleitete. Die unterschwellige Frage: „Wie lebt ein Volk, das weiß, dass seine Tage gezählt sind?“ Im Grunde wissen die Deutschen auch nach dem langen Kampf um Horno kaum etwas über das Leben der sorbischen Sprachminderheit in der Lausitz, im Grenzgebiet von Brandenburg und Sachsen. Immerhin, die DDR-sozialisierte Bevölkerung erinnert sich an folkloristische Bilder im Ostfernsehen: Die Sorben, das sind doch die mit dem kuriosen Brauchtum, die Osterreiter. Dank dem verschwundenen Horno werden diese Bilder überlagert von Aufnahmen von Menschen, die gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen. Vertrieben vom schwedischen Energiekonzern Vattenfall. Tradition gegen Moderne, Gewinnsucht auf Kosten der Menschen.

Ausgerechnet in Deutschland ist wieder ein Volk in Gefahr. Eine knackige Botschaft. Nicht einmal völlig falsch. Aber auch nicht ganz wahr. Denn die sorbische Kultur und die sorbische Sprache sind trotz aller Gefährdungen noch immer lebendig und werden wohl viel länger überleben, als irgendeine verrückte Statistik herausfindet. Denn die sorbische Jugend interessiert sich für die Traditionen ihres Volkes.

Nicht nur in der Lausitz. „Wir sind wahrscheinlich die einzige Sorben-WG in Berlin“, erzählt Korla, 24. Er und sein Mitbewohner Tomaš, 23, sind Studenten. Sie wohnen in Prenzlauer Berg. Während sie Tee kochen, erzählen sie von der bevorstehenden Fußball-WM. Den Glücklichen ist es gelungen, Karten für ein Vorrundenspiel im Olympiastadion zu ergattern. Wenn vom Untergang gesprochen wird, dann höchstens von der Katastrophe, die der deutschen Nationalmannschaft droht. Auf dem Küchentisch liegt eine sorbische Tageszeitung, die Serbske nowiny (Sorbische Zeitung). „Wir bekommen aber nur die Samstagsausgabe. Besonders spannend ist sie nicht, eher eine Art sorbische Bild“, meint Tomaš lachend und übersetzt ein paar Zeilen. Auf der Titelseite ist der sorbische Nationaldichter Jurij Brezan abgebildet, der am 12. März mit 89 Jahren in Kamenz (Sachsen) gestorben ist und über über 50 Bücher geschrieben hat. Sie wurden in 25 Sprachen übersetzt.

Tomaš stammt aus Bautzen, Zentrum der Oberlausitz und Sitz vieler sorbischer Verbände sowie des Sorbischen Instituts. Von den 42.000 Einwohnern sind etwa fünf bis zehn Prozent Sorben. Korla ist auch in Bautzen geboren, aber hauptsächlich in Berlin aufgewachsen. Nur in seiner Jugend verbrachte er fünf Jahre in Bautzen. Heute studiert er in Berlin Medieninformatik. Seine Mutter ist Sorbin, sein Vater Deutscher. Die sorbische Sprache haben beide zuerst gelernt. „Deutsch kam erst später, so mit vier, fünf Jahren.“ Beim Spielen mit anderen Kindern lernte es sich mühelos, beinahe wie von selbst. Im Obersorbischen Gymnasium in Bautzen wurden Sorben und Deutsche dann in manchen Fächern getrennt unterrichtet.

Nicht für alle modernen Begriffe existiert ein sorbisches Wort. Leider auch im Unterricht ein immer größeres Problem, denn der Einfluss der deutschen Sprache ist groß. Hier in der Berliner WG wird Sorbisch noch gepflegt. „Wenn wir unter uns sind, reden wir nur in unserer Muttersprache“, erzählt Korla. Wozu eigentlich eine Sprache sprechen, mit der man nur im engen Kreis verstanden wird? Gerade das finden die beiden reizvoll. Man fühle sich, als würde man sich in einer Geheimsprache unterhalten. Der Nachteil: „Wenn wir sorbisch miteinander reden, glauben unsere deutschen Freunde immer, wir würden über sie lästern.“

Lange haben sich sorbische Kultur und Sprache erhalten. Aber die Schülerzahlen an den sorbischen Schulen sinken mittlerweile, berichtet Ludmila Budar, die Vorsitzende des sorbischen Schulvereins. Von der demografischen Entwicklung sind die Sorben betroffen wie die meisten europäischen Völker. Der Direktor des Sorbischen Instituts, Prof. Dr. Dietrich Scholze, nennt die Daten: „Um 1880 gab es noch 166.000 Sorben. Heute sind es nur noch 60.000. Statistisch sind also jedes Jahr ungefähr tausend Sorben durch Assimilation verloren gegangen.“

Nachwuchssorgen plagen die sorbischen Schulen insbesondere bei der Suche nach Lehrern, die das Sorbische an den weiterführenden Schulen unterrichten können. Etwa für die Fächer Sorbische Literatur und Geschichte. In Cottbus gibt es das Niedersorbische, in Bautzen das Obersorbische Gymnasium. Dort findet eine zweisprachige Ausbildung statt. In Bautzen werden im laufenden Schuljahr 247 sorbische Muttersprachler und 142 Schüler mit Zweitsprache Sorbisch unterrichtet. Das Problem sei, dass zu wenige Absolventen Sorbisch unterrichten wollen. „Es gibt einfach keine große Auswahl an Studenten, weil wir eine so kleine Minderheit sind“, erläutert Budar. Deshalb sei auch der Numerus clausus (NC), der heute für die meisten Fächer gilt, nicht gerade hilfreich. „Hauptfächer wie Biologie und Physik werden auf Sorbisch unterrichtet, und dafür gibt es beispielsweise einen NC.“ Gerade verhandele man darüber, ob für sorbische Lehrer nicht eine Ausnahme möglich wäre.

Erst Anfang März beschäftigte sich eine Expertenkommission des EU-Rats mit der Frage, ob der per Staatsvertrag vereinbarte Minderheiten- und Sprachschutz tatsächlich eingehalten wird. Offenbar sah das die Expertenkommission nicht sehr optimistisch: Sie ermahnte die Länder Sachsen und Brandenburg, die Lehrerausbildung zu fördern, denn eine fundierte Sprachausbildung für den Nachwuchs sei derzeit nicht gewährleistet. „Zur Tätigkeit ermutigen“ heißt das in der EU-Sprache. Der EU-Rat wünscht ein Recht der Sorben auf muttersprachlichen Unterricht. Sorbische Schüler hätten dann einen gerichtlich durchsetzbaren Anspruch. Für die Landesregierungen bedeutet dies sichere Mehrkosten.

Die Sorben selbst brauchen offenbar keine Ermutigung zur Eigeninitiative. Sie gründeten beispielsweise im vergangenen Monat am Niedersorbischen Gymnasium in Cottbuss das Sorbische Bildungsnetzwerk. Ziel ist es, den Schülern ein durchgängiges Bildungsangebot in sorbischer Sprache zu sichern. Der Brandenburgische Bildungsminister Holger Rupprecht betonte bei der Gründungsfeier, das Land stehe zu seiner besonderen Verantwortung den Sorben gegenüber. Man kennt das: Wenn die Flut kommt – rein in die Gummistiefel. Wenn ein Volk stirbt – Jungen und Mädels beim Folkloretanz zusehen. Gerne zeigen sich Politiker an der Seite der Sorben. Sich für die Interessen einer Minderheit einzusetzen ist populär. Symbolische Gesten kosten wenigstens nichts.

Geht es um harte Zahlen, ist man wesentlich zurückhaltender. Ein Staatsvertrag – 1998 zwischen dem Bund und den Ländern Sachsen und Brandenburg geschlossen – regelt die finanziellen Zuwendungen an die Sorben mit einer „Stiftung für das sorbische Volk“. Nur: Bund und Länder sind permanent klamm, alle müssen mit weniger Mitteln zurechtkommen. Auch die Sorben. Im Jahr 2005 erhielten sie noch 15,5 Millionen Euro, die Tendenz ist aber seit Jahren kontinuierlich fallend. Da der Stiftungsvertrag im kommenden Jahr ausläuft, wird bald neu über die Gelder verhandelt werden. Die vielen Stiftungen, Vereine und Verlage, die sich um den Erhalt von Kultur und Sprache kümmern, werden von diesen Geldern mitfinanziert.

In einer Hinsicht haben sich die Sorben nämlich vollständig ihren deutschen Nachbarn angeglichen und sind beispielhaft integriert: Wer deutsche Vereinsmeierei belächelt, sollte die Verbände, Vereine und Stiftungen zählen, die die Sorben für ihre Anliegen gegründet haben. Es gibt sorbische Gesangsvereine, Studierendenverbände, Vereine zur Förderung der Kultur oder Handwerkerverbände, die alle miteinander um die sinkenden Gelder konkurrieren müssen. Einer der bedeutendsten ist der Bund Lausitzer Sorben e. V., die „Domowina“. Sie ist eine Art sorbischer Dachverband mit mehr als 7.000 Mitgliedern in fünf Regionalverbänden und zwölf überregional wirkenden Vereinen. Über fehlendes Interesse beim Nachwuchs klagt Bärbel Felber, Pressesprecherin der Domowina, nicht. Im Gegenteil, junge Sorben nähmen vermehrt die vielfältigen Kulturangebote der Vereine an.

In der Not wächst also das Rettende auch. Abseits der finanziellen Sorgen ist die Jugend offenbar besonders für Brauchtum, Sprache und Kultur zu mobilisieren. Für junge Sorben ist ihre eigene Kultur sehr attraktiv. Viele versuchen das Erbe der Eltern zu bewahren. „Brauchtumspflege“ – dabei denkt man an Leitkultur- und Wertedebatten, an Musikantenstadl, Lederhosen. Was für ein Wort: Generationen von Jugendlichen ergriffen davor die Flucht oder belächelten zumindest ihre Vorfahren. Es ist jedenfalls ungewöhnlich, dass so viele die Bräuche ihrer Eltern und Großeltern nicht nur respektieren, sondern sogar engagiert fortführen wollen.

„Wem das zu albern ist, der soll es eben sein lassen. Gezwungen wird niemand.“ So beantwortet Tomaš die Frage, ob er Brauchtumspflege nicht irgendwie „uncool“ findet. Das Unverständnis für die Verweigerer ist gleichwohl nicht zu überhören. Gleichgültigkeit gegenüber der Tradition wird zwar hingenommen. Aber nur wenige fallen ihm ein, die sich zunächst dem Konformitätsdruck in der Schule verweigert haben. Am Ende waren sie meist doch bestechlich: „Sie haben es sich ziemlich schnell anders überlegt, wenn wir ihnen von den Reisen etwa nach Moskau oder London erzählten, die wir mit der Theatergruppe oder dem Gymnasialchor gemacht haben.“ Dort spielen sie altes sorbisches Liedgut und führen traditionelle und moderne Theaterstücke auf. Auslandsreisen sind sehr gefragt. Zu den slawischen Völkern sei der Kontakt sehr eng, meint Tomaš. Gerade die Tschechen fühlten sich ein wenig wie der große Bruder der Sorben. Durch das schulische Engagement hat Tomaš immerhin seine Liebe für das Theater entdeckt. Jetzt studiert er Theater- und Veranstaltungstechnik.

Man stelle sich folgende Szene in Frankfurt am Main vor: Jugendliche in hessischer Tracht spielen vor dem historischen Rathaus volkstümliches Mundarttheater; vom Einkauf erschöpfte Passanten halten inne, stellen ihre Einkaufstaschen ab, lauschen andächtig und applaudieren am Ende begeistert. Eine sonderbare Vorstellung. Wahrscheinlich würden selbst die älteren Passanten die jungen Laienschauspieler für ziemlich gestrig halten. Offensives Besinnen auf Althergebrachtes hat in Deutschland schnell den Geschmack des Rückwärtsgewandten oder gilt als sentimentale Anhänglichkeit an überkommene Ideen von völkischem Zusammenhalt. Viele junge Sorben haben eine weit gelassenere Einstellung zu ihren Traditionen. Immerhin sind sie nach der Sprache das wichtigste Bindeglied gegenüber der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Solche Selbstvergewisserung spendet Halt in haltlosen Zeiten.

Dietrich Scholze beobachtet ebenfalls eine Hinwendung zu traditionellen Sitten und Gebräuchen. „Das dürfte mit der Suche nach konkreter Identität in einer globalisierten Welt zusammenhängen“, erläutert er seine These. Er wendet sich sehr gegen die Dominanz negativer Überlebensprognosen – das Interesse der Jugend gibt ihm Recht. „Letztlich liegt es am Willen der Sorben, ob sie die gebotenen Chancen zur Erhaltung der sprachlichen und kulturellen Substanz nutzen.“

Die Kultur wird vorwiegend organisiert gepflegt. Im Alltag scheint das typisch Sorbische auf dem Rückzug zu sein. Selbst in der tiefsten Lausitz sieht man nur noch selten alte Frauen in der traditionellen Tracht – aufwändig gebundenen Hauben und Wollröcken mit bestickter Seidenschürze oder weißen Spitzenschürzen. Insgesamt gebe es noch 200 bis 300 Frauen, die im Alltag Tracht tragen. „Die jüngste von ihnen ist auch schon 64 Jahre alt“, erzählt Scholze. Ein kompaktes sorbisches Kerngebiet existiert nicht mehr. Am ehesten im Dreieck Bautzen–Hoyerswerda–Kamenz würden die Sorben mit über sechzig Prozent der Bevölkerung noch die Mehrheit bilden. Budar wohnt sogar in einem ausschließlich sorbischen Dorf – mit sechs Häusern.

Die Trachten werden heute meist nur noch bei Festlichkeiten getragen. Über die Grenzen der Lausitz hinaus bekannt ist das Osterreiten, ein alter sorbisch-katholischer Brauch in der Oberlausitz. Am Ostersonntag reiten die Männer einer Gemeinde in Frack und Zylinder auf festlich geschmückten Pferden in die Nachbargemeinde und verkünden dort die Auferstehung Christi. Jeder Prozessionszug besteht aus bis zu hundert Reitern und Pferden. An der Spitze reiten Fahnenträger, die Träger der Christusstatue und des Kreuzes. Die Osterreiter umkreisen die heimatliche Kirche, werden gesegnet und machen sich auf den Weg zu den Kirchen der Nachbargemeinden, deren Kirchen ebenfalls umritten werden. Dabei werden sorbische und deutsche Kirchenlieder gesungen.

Tomaš ist begeisterter Osterreiter. Er kann keinen Widerspruch zwischen Moderne und Tradition erkennen. Auch Korla ist interessiert, aber er beschränkt sich zumindest im Moment noch eher auf die Pflege der Sprache. Die ländlichen Bräuche liegen einem Stadtbewohner vielleicht ferner. Am Osterreiten möchte aber auch er irgendwann einmal teilnehmen. „Das ist ziemlich teuer, ich müsste ein Pferd mieten und mir Gehrock und Zylinder anfertigen lassen.“ Es ist also nicht so, dass sich alle jungen Sorben gleichermaßen engagieren – verantwortlich für ihre Kultur fühlen sich die meisten. Die Prozessionen werden jedenfalls immer länger, sagt Tomaš.

Folkloristische Darbietungen haben auch einen angenehmen Nebeneffekt, von dem Sorben wie Deutsche profitieren: den Tourismus, der viele Besucher in die Region zieht. Sie sorgen für die mediale Aufmerksamkeit, die unerlässlich ist, will man sein Anliegen als Minderheit vertreten. Die Vergangenheit darf nicht vergehen, sondern muss weiter Identität stiften. Irgendwie denkt man an Folkloretänze aus dem letzten Griechenlandurlaub oder an Stammesrituale im Cluburlaub in Kenia: Der skeptische Tourist hält sie für exotistische Berieselung der zahlenden Gäste und mag nicht recht an eine folkloristische Selbstvergewisserung glauben.

„Die Pflege unserer Bräuche“, beharrt Tomaš, „hat nichts mit Tourismus zu tun.“ Niemand verspreche sich davon, ein paar Würstchen mehr zu verkaufen. „Alle nehmen aus Überzeugung von der Sache Teil.“ Punktum. Je älter man werde, desto wichtiger würden die Traditionen, ergänzt Korla. „Ich nehme sie jetzt bewusster wahr, denn irgendwann fragt man sich doch, wer man ist.“

Er wird in Berlin bleiben, schließlich hat er nur fünf Jahre in Bautzen gelebt. Tomaš aber möchte nach seinem Studium auf jeden Fall zurück nach Bautzen. Schon heute fährt er mindestens einmal im Monat zu Familie und Freunden in die Lausitz. Seine Heimat sei nun einmal dort, sagt er. Mal sehen, ob dann Theater- und Veranstaltungstechniker in der ländlichen Gegend gerade gesucht sind. Vielleicht findet er sogar eine sorbische Braut. Um die Assimilation zu verhindern, müsse man die Reihen schließlich geschlossen halten und untereinander heiraten. Von kulturellen Verboten weiß er aber nichts. Ansonsten sei es wie überall – manche sind weltoffen und fortschrittlich, manche sind von gestern. So wie Horno.

THOMAS SPINNLER, 36, ist Jurist und hat gerade sein Praktikum im taz.mag beendet. Er lebt nahe Frankfurt am Main