Zerrissen vom Sextrieb

Mit dem technologischen Fortschritt hat sich die Pornoindustrie zu einem Wirtschaftsfaktor globalen Ausmaßes entwickelt. Womöglich gar zu einer Waffe?

von ARNO FRANK

Ihr seid nur noch Hundefutter für den Computer. Der ganze Planet wird auf totale Nivellierung und Kapitulation getrimmt. William S. Burroughs, 1959

Was hat das Militär mit dem Porno zu tun? Und was bitte verbindet den Dodo und den Fluffer? Anders als im Porno, wo es immer direkt zur Sache geht, müssen wir einen kleinen Umweg nehmen, um diese Fragen beantworten zu können. Einen Hinweis gibt das Buch „Wohlstand und Armut der Nationen“. Dort versucht sich der US-Ökonom Thomas A. Landes an der schwierigen Antwort auf die einfache Frage, warum in aller Welt eigentlich „die einen reich und die anderen arm sind“. Von den ersten spanischen Kolonien in der Karibik bis zu den ersten englischen Dampfmaschinen: Überall sieht er menschliche Gier und ökonomische Gesetzmäßigkeit am Werk. Als Beispiel nennt er die Synthetisierung des Färbemittels Indigo durch Chemiker der BASF in Ludwigshafen, die den umständlichen Anbau der Pflanze obsolet machte und ganze Landstriche in Indien entvölkerte. Er hätte auch den flugunfähigen Riesenvogel Dodo nennen können, ein argloses Tier, das wahrscheinlich aus purer Neugier in die Kochtöpfe europäischer Siedler hüpfte und darin für immer verschwand.

Ausgestorben ist auch der Fluffer – eine ebenfalls hochspezialisierte Gattung, die unter die Räder des technischen Fortschritts geriet. Früher war der Fluffer für die Produktion von Pornofilmen unersetzlich. Seine Aufgabe bestand nur darin, die ermatteten männlichen Darsteller in den Drehpausen durch gefühlvolle Handarbeit wieder auf Betriebstemperatur zu bringen. Eine reizvolle Beschäftigung, keine Frage – doch dann erfand irgendein Trottel das Potenzmittel Viagra.

So fatal es für den Fluffer gewesen sein mag, so segensreich wirkte sich das Medikament auf seinen natürlichen Lebensraum aus, das San Fernando Valley. Von Los Angeles nur durch die Hügelkette mit dem berühmten „Hollywood“-Schriftzug getrennt, erstreckt sich „the Valley“ flach und erdbebensicher von Horizont zu Horizont. Es erscheint wie ein Wohnmeer von atemberaubender Eintönigkeit, rhythmisiert durch achtspurige Magistralen, über denen TV-Helikopter hängen wie Fruchtfliegen über einer Biotonne. Ausgerechnet hier, in dieser urbanen Ödnis, machte Viagra den alten Menschheitstraum möglich, die Produktion von Pornofilmen auf ein industrielles Niveau zu heben. Kaum war die erektile Dysfunktion eliminiert und das Fließbandficken etabliert, erfreuten sich die Unternehmen im Valley ungeahnter Zuwachsraten. Firmen wie Digital Playground, Club Jenna, Wicked, VCA oder Vivid drehen 12.000 Filme pro Jahr, sie beschäftigen 1.200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, decken damit geschätzte 95 Prozent des weltweiten Pornobedarfs und machen einen jährlichen Umsatz von 15 Milliarden Euro.

Gegen solche Geschäftszahlen wirkt selbst Hollywood – die klassische „old economy“ der Unterhaltungsbranche – wie ein kümmerlicher, schlecht bestellter Vorgarten. Was wiederum wirtschaftliche, keine künstlerischen Gründe hat. Von den 450 Filmtiteln, die jährlich in den legendären Studios produziert werden, schaffen es nur wenige auf den lukrativen roten Teppich des internationalen Marktes. Die meisten Filme lässt man für ein Weilchen im US-Kino laufen, bevor man sie in möglichst hohen Stückzahlen auf DVD presst und in Videotheken verramscht. Bang hoffend, wenigstens mittelfristig einen Teil der Kosten wieder reinzuholen.

Kaum einer der jährlich 12.000 neuen Pornos aus Kalifornien wird je das Licht eines Kinoprojektors erblicken, sondern sein Geld von Anfang an auf dem DVD-Markt verdienen. Ist der erst abgegrast, wandert der Porno zur Zweit-, Dritt- oder auch Viertverwertung in die diskreten Jagdgründe des ewig geilen Internets. Es ist mehr als eine kuriose Fußnote, dass das Netz bekanntlich aus einem militärischen Interesse an atomschlagsicheren Kommunikationskanälen resultiert. Militarismus und Pornografie sind sich näher, als uns lieb sein kann. Und beide profitieren vom technologischen Vorsprung.

Drei große Sprünge markieren den langen Weg der Pornografie aus der Obskurität in die hohe Politik. Der erste Sprung in der Evolution führte von der sprachlichen Beschreibung des Beischlafs zur Ablichtung des Aktes. Nacktfotos sind so alt wie das Verfahren selbst. Neben ein paar der wichtigsten Ikonen des vergangenen Jahrhunderts haben wir der Nacktfotografie wichtige Impulse auf dem Weg in eine liberale Gesellschaft zu verdanken. Kann es da ein Zufall sein, dass die stimulierende Abbildung von Körperlichkeit ihren ersten weltweiten Boom erlebte, als die USA im Namen der Freiheit gerade einen Weltkrieg gewonnen hatten? Militarismus und Pornografie marschierten für eine Weile einträchtig Hand in Hand. Beide führten sie vorgeblich hehre Ziel der Befreiung im Schilde, mal auf dem Schlachtfeld, mal im Schlafzimmer. In bizarren Wortschöpfungen wie „Sexbombe“ oder „Atombusen“ hören wir noch das geistige Echo dieser Ära.

Zum zweiten entscheidenden Sprung konnte die Pornografie erst im Kino ansetzen. Gedreht wurde der Porno „Deep Throat“ im Jahr 1972. Die Idee stammte von einem Frisör aus Los Angeles namens Gerard Damiano. Weil ihm seine Kundinnen stets mit ihren Sexproblemen in den Ohren lagen, wollte er ihnen mit einem freizügigen Film über das Mysterium des klitoralen Orgasmus Gutes tun. Die Kosten der Low-Budget-Produktion beliefen sich auf 25.000 Dollar, zwei Drittel davon wurden von einem Mafia-Clan beigesteuert. Es war das VHS-Format, das den Damm zum Bersten brachte: Bis heute hat „Deep Throat“ mehr als 600 Millionen Dollar eingespielt. Diese Gewinnspanne machte ihn zum lukrativsten Produkt der Filmgeschichte.

Mit immerhin 32 Prozessen versuchte US-Präsident Nixon, das staatliche Monopol auf Befreiungen jeder Art zu wahren und den Vertrieb von „Deep Throat“ zu unterbinden. Überflüssig zu sagen, dass Zensur das Interesse progressiver Kreise am Porno noch steigerte. Mark Felt, der geheimnisvolle Informant in der Watergate-Affäre, war jahrzehntelang nur unter seinem Decknamen bekannt: Der Verächter Nixons nannte sich „Deep Throat“.

Norman Mailer, der den Dreharbeiten beiwohnen durfte (und zuvor mit der „Sexbombe“ Marilyn Monroe verheiratet war), schrieb später im Rückblick: „Für einen Moment sah es so aus, als würde sich Porno zur Kunstform wandeln, doch er verkümmerte zu mittelmäßiger Ware.“ Tatsächlich gestaltete sich der Aufstieg des Valley so routiniert und abgeklärt, wie es Hollywood in seinem Flop „Boogie Nights“ 1997 so schön verklärt hat. Zwar forderten in den Achtzigerjahren Plagen wie Kokain und Aids ihren Tribut. Im Fall einer HIV-Infektion unter den Darstellern ruht die Produktion stets für Wochen, was zu teils dramatischen Umsatzeinbußen führte. Vielleicht wäre die ganze Branche an der Immunschwäche zugrunde gegangen, hätte nicht in letzter Sekunde eine weitere technische Neuerung den dritten Sprung ermöglicht: Ein moderner, billiger Datenträger namens „Compact Disc“ öffnete der Pornografie die Tür zu ihrer Transformation in die digitale Welt.

Was die ästhetischen Qualitäten des Genres betrifft, mag Mailer mit seiner Einschätzung recht gehabt haben. Er irrte jedoch, was das politische Potenzial betrifft. Porno wandelt sich allmählich zur Waffe. Zwar stand beides, Militarismus wie Pornografie, von konservativer Seite stets unter akutem Verrohungsverdacht. Spätestens mit den Folterfotos aus Abu Ghraib dürfte sich dieser Verdacht auch für die toleranteren Befürworter der Pornografie (oder des Krieges) bestätigt haben. In ihrer prinzipiellen Bereitschaft, jede nur denkbare und auch undenkbare Macht- und Gewaltfantasie zu bedienen, verrät die Pornografie ganz nebenbei Grundsätzliches über ihr körperpolitisches Programm. Fleisch zu Fleisch.

Der entscheidende, vielleicht letzte Schritt von der Pornografie zur Pornokratie vollzieht sich derzeit lautlos im Internet. In der weltweiten und permanenten Zugriffsmöglichkeit auf pornografisches Material, in dieser verführerischen Dauerbestrahlung mit unwiderstehlichen, weil an animalische Instinkte appellierenden Signalen liegt womöglich mehr Sprengkraft als in einer Wasserstoffbombe. Die Attentäter vom 11. September waren in diesem Sinne bereits zerrissen, bevor sie die Flugzeuge in die Türme steuerten. Vor ihren Attentaten machte die Clique noch mal richtig einen drauf – in Las Vegas, dem sündigen Babel der westlichen Welt, mitten im Herzen der Feinde, wo es mehr Prostitution gibt als in allen anderen US-Städten zusammen.

Wenn Pornografie eine Bombe ist, dann ist davon in ihrem Los Alamos nichts zu spüren. Im Valley selbst weist nichts darauf hin, dass hier der militärisch-pornografische Komplex zu Hause ist. Ruhig ist es zwischen all den hübschen Einfamilienhäusern, die locker in die autofreundliche Landschaft gestreut sind. Hier ein Supermarkt, dort ein Drive-in, dazwischen Parks mit gelbem Gras und immer wieder Lagerhäuser, Lagerhäuser, Lagerhäuser. Nicht das Geschäft mit dem Sex macht diesen Ort so unheimlich, sondern dessen absolute Unsichtbarkeit.

Zum Feiern fährt das Valley neuerdings lieber nach Hollywood, das es kommerziell wie funktional längst überrundet hat. Statt mit dem Oscar feiert sich die Branche mit einer Trophäe namens „Hot d’Or“. Eine Top-Darstellerin wie Jenna Jameson macht nicht nur unter Eigenregie postfeministische Millionenumsätze, sondern gilt als „Kulturikone“ (NewYork Magazine). Ihr süffig geschriebener autobiografischer Ratgeber „How To Make Love Like A Pornstar“ hielt sich mühelos auf den vorderen Rängen der Bestellerliste der New York Times. An Krankheit und Ausbeutung gehen nur dumme Dodos und schlaffe Fluffer zugrunde. Was Pornografie mit Militarismus zu tun hat? Unverschämte Frage! Gehen Sie bitte weiter, es gibt hier nichts zu sehen.

ARNO FRANK, 35, ist taz-zwei-Redakteur