„Respekt vor Roland Koch habe ich nicht“

Geboren: 31. Dezember 1957 in Istanbul Aufgewachsen: Im Alter von elf Jahren kam sie mit ihrer Familie in die Bundesrepublik; Schule bis zum Abitur; lebt seit 2006 in Berlin Ausbildung: Studium der Sozialwissenschaften, Stipendiatin der gewerkschaftsnahen Hans Böckler Stiftung, Promotion zum Thema „Islamische Religiosität und ihre Bedeutung in der Lebenswelt von Schülerinnen und Schülern türkischer Herkunft“ Autorin: „Die fremde Braut“ (2005), „Die verlorenen Söhne“ (2006), beide Bände bei Kiepenheuer & Witsch, weitere Beiträge in Sammelbänden und in Zeitungen, auch der taz Engagement: Mitarbeit in der von Innenminister Wolfgang Schäuble ins Leben gerufenen Islamkonferenz Freunde: Seyran Ates, Ayaan Hirsi Ali, Henryk M. Broder, Irshad Manji Feinde: alle islamischen Verbände Kontroverse: Ihre Befunde wurden von einer Fülle von MigrationsforscherInnen entschieden verworfen; andere hingegen stimmten ihr zu Attest: Sie habe Fragen aufgeworfen, die wichtig waren – ihre Antworten seien hingegen pauschalisierend JAF

Die Islamkritikerin Necla Kelek zur Debatte über Jugendkriminalität, Integration und den Grenzen von Religionsfreiheit

GESPRÄCH JAN FEDDERSEN & DANIEL BAX

taz.mag: Frau Kelek, haben Sie vor dem hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch Respekt?

Necla Kelek: Nein. Nicht im Sinne von Anerkennung, nicht im Sinne von Angst.

Weshalb nicht? Er ist, nach eigenem Verständnis und vielleicht auch nach Ihrem, mit seiner Rhetorik zu kriminellen Jugendlichen ein Tabubrecher.

Mit den Bestrafungsvorschlägen, wie er sie bevorzugt, bricht er kein Tabu. Er sagt ja nichts zu den Zuständen in unserer Gesellschaft und kommt gleich mit Lösungen, die von der Realität weit entfernt sind. Außerdem spricht er von Menschen, die für ihn offenbar nicht zu diesem Land gehören. Das kann und darf nicht sein.

Aber wie Sie spricht er vom Problem der Jugendgewalt und weist auf den hohen Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund unter den Straftätern hin.

Das ist die Realität. Aber in der Diskussion zum Umgang mit diesem Problem habe ich ein anderes Konzept. Vor allem vermisse ich, dass er sagt: Es sind unsere Kinder, es ist unser Nachwuchs, wir müssen uns kümmern.

Wie beschreiben Sie denn die soziale Realität?

Dass sich eine muslimische Parallelgesellschaft entwickelt hat, auf die der prüfende Blick von Parteien und Öffentlichkeit fehlt.

Es wird doch dauernd beobachtet.

Aber nicht so, dass man fragt, wie diese Menschen innerhalb dieser Gemeinschaft leben. Oder gefragt wird: Welche Art von Erziehungskonzepten, Lebensmodellen und -weisen wird dort befolgt? Oft heißt es nur: Migranten sind arm, Armut bringt Gewalt und Ungerechtigkeit innerhalb der Familien. Diese Argumentation ist viel zu einfach.

Stimmt das denn nicht? In deutschen Unterschichtfamilien ist Gewalt ebenso verbreitet.

Aber die Migrantenfamilien sind für mich nicht arm.

Sondern?

Wenn man in diese Familien schaut und fragt, wie das Geld verdient wird und wofür es ausgegeben wird, dann sieht man, dass diese Familien sich plötzlich eine Hochzeit für zwanzigtausend Euro leisten können. Sie unterstützen ihre Familien in der Türkei mit Geld und mit Gold. Ein Vater lässt seine vier Kinder arbeiten und kassiert ihren Lohn. Das Kindergeld kommt nicht den Kindern zugute, der Vater verzockt es beim Kartenspiel. Und die Mütter verdienen mit Putzstellen Geld, das sie dann für Hochzeitskleider ausgeben. Das Geld wird kulturell ausgegeben.

Geld ausgeben: Ist es nicht eines jeden persönliche Freiheit, zu entscheiden, wofür er Geld einsetzt?

Natürlich. Aber wenn man von Armut spricht, dann bitte auch genau. In muslimischen Familien haben Väter ihre archaischen Vorstellungen. Es gilt, ihnen zu gehorchen. Und das darf nicht mit Respekt verwechselt werden. Dass ihre Kinder selbstständig werden sollen, studieren können, das ist oft nicht ihre Idee. Zu wenige Familien investieren in ihre Kinder.

Wir fragen uns, von wem Sie sprechen. Der Schläger aus der Münchner U-Bahn kommt aus einer kaputten Familie. Sein Vater hatte in ihr nichts zu sagen. Oder die Geschichte vom Mehrfachtäter Mehmet …

… ich muss Ihnen widersprechen. Mehmet erfuhr sehr viel Gewalt in seiner Familie. Seine Eltern haben ihn fast noch als Kind auf die Straße entlassen. Hätte ein Vierzehnjähriger solche Taten begangen, wäre er gut erzogen worden?

Ihm fehlte also die väterliche Autorität?

Was hat Zuwendung mit Geld zu tun? Dieser Vater, von dem ich spreche, war religiös. Das ist ein wichtiger Punkt. Ich kritisiere, dass dieser Punkt in der Diskussion völlig weggelassen wird.

Türkischstämmige Jugendliche wollen, so hören wir, vor allem Respekt. Können Sie das verstehen?

Überhaupt nicht. Weil es hier ein Übersetzungsproblem gibt. Respekt im muslimischen Sinne verlangt Unterordnung, Gehorsam und Gefolgschaft. Dem Vater und der Religion gegenüber. Respekt, wie wir ihn verstehen, ist eine individuelle Haltung, die auf Eigenverantwortung und Würde setzt.

Beruht das Problem nicht auf dem Fehlen von Bildungschancen? Einwandererkinder haben es schwerer, weiterführende Schule zu besuchen.

Richtig. Trotzdem frage ich mich, weshalb eine so große Gruppe in der Schule versagt. Griechen, Italiener, Spanier und Portugiesen sind doch genauso arm nach Deutschland gekommen wie die Türken und haben es hier geschafft.

Das trifft nicht ganz zu. Italienische oder griechische Migranten tun sich fast ebenso schwer, Russlanddeutsche ohnehin.

Wo gibt es Schulen, an denen italienische Schüler solche Probleme machen wie in Berlin-Neukölln oder Wedding?

Hat das Problem nicht in erster Linie damit zu tun, dass Bildung in den proletarisch-bäuerlichen Milieus keinen hohen Stellenwert hat?

Natürlich, das ist meistens so. Und Bildung braucht es doch, um sich als Individuum zu empfinden, für sich einzutreten, die Familie auch verlassen zu können.

Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio, selbst aus dem Ruhrpott stammend, meinte, für die Türken sei die Deindustrialisierung in seiner Heimat zu früh gekommen: Im Kohlerevier habe es immer eine Integration durch Arbeit gegeben.

Nein, so sehe ich das nicht. Die muslimische Art der Familienzusammenführung ist ein wichtiger Bestandteil der islamischen Kultur. Jede Familie ist verpflichtet, auch für ihre Brüder, Onkel und Tanten zu sorgen. Und alle haben den Drang, nach Deutschland zu kommen. Sie verheiraten ihre Kinder mit der Verwandtschaft aus dem Dorf. Statt ihre Kinder hier in Ruhe zu lassen, sodass die nächste Generation vielleicht eine Chance hätte, eine eigene Kleinfamilie zu gründen.

Möglicherweise sind die Chancen für eine Kleinfamilie besser, wenn einer einen Job hat.

Das glaube ich nicht. Denn es hat sich auch bei diesen Familien, die von Arbeitslosigkeit nicht betroffen sind, am Erziehungskonzept in all den Jahrzehnten nichts geändert. Der Vater ist das Oberhaupt, die Töchter und Frauen sind die Ehre – seine Ehre. Er erzieht seine Söhne so, dass sie auf seine Ehre aufpassen. Wenn sie dabei versagen, bekommen sie Schläge. Die Mädchen werden mit Gewalt konfrontiert. Wenn sie aber nun sagen, sie wollen ihren eigenen Weg gehen, entehren sie die Familie. Wer das unterschätzt, was Ehre im Allgemeinen und innerhalb des Erziehungskonzepts im Besonderen bedeutet, redet am Problem vorbei.

Unter den türkischstämmigen Zuwanderern findet doch längst ein radikaler Wandel statt.

Das stimmt nicht. Diese Familien, die angeblich kein Geld haben, um in die Bildung zu investieren, schicken ihre Kinder in die Koranschule. Wir haben tausende von diesen Koranschulen hier in Deutschland. Sie unterschätzen einfach den religiösen Einfluss. Wieso hat denn diese angeblich arme Gruppe plötzlich so viel Geld, um Moscheen zu bauen?

Aber Gewalt hat nichts mit dem Glauben zu tun, wie der Münchner U-Bahn-Schläger Serkan beweist. Der war nicht religiös.

Natürlich war er das. „Religiös“ bedeutet in der islamischen Kultur eine Haltung des Dienens und Gehorchens. Was ein Älterer mir sagt, habe ich zu tun! Wenn ein Junge früh auf die Straße geschickt wird, weil er zu Hause nichts zu suchen hat, dann ist das Teil der islamischen Erziehung. Sie aber verstehen unter Religion nur, dass man in die Kirche geht und betet.

In keiner Moschee würde ein Imam sagen: Geh in die U-Bahn und schlage alte Leute zusammen.

Wer nur gehorchen lernt, will irgendwann, dass man ihm gehorcht, notfalls mit Gewalt. Der Imam sorgt dafür, dass er gehorcht. Und sonst nichts.

Ihre Analyse scheint uns etwas hastig. Warum gestehen Sie nicht jedem Migranten zu, sich langsam zu entwickeln und an die Möglichkeiten einer nichtreligiösen Gesellschaft heranzutasten?

Weil es kaum Entwicklung gibt. Es wird nichts von dem genutzt, was die deutsche Gesellschaft zu bieten hat – die Bildung kostet kein Geld, eine Sprache zu lernen ist in der Schule gratis. Doch zu Hause wird Türkisch gesprochen. Sie geben sich keine Mühe, sich der deutschen Gesellschaft anzupassen.

Gibt es nicht längst Millionen, die ihren deutschtürkischen Weg gehen?

Es sind noch zu wenige. Die andere Gruppe, die islamisch-religiöse Gruppe als politische Kraft, sehe ich als großes Unheil, das auf uns zukommt. Ich appelliere immer wieder an die Säkularen, wachsamer zu sein. Unsere Individualität, die wir erreicht haben, dürfen wir nicht mehr aus der Hand geben.

Auffällig scheint uns, dass Sie zu autoritären Lösungen neigen: Sie sind gegen Kopftücher bei Lehrerinnen, gegen neue Moscheen, für die Verschärfung des Zuwanderungsrechts. Warum?

Ich bin nicht für Autorität, ich bin für Einmischung. Ich finde es unverantwortlich, wenn Moscheevereine mit reaktionärem Weltbild hier große Moscheen bauen dürfen. Da mische ich mich ein. Ich sage, dass wir es irgendwann nicht mehr kontrollieren können, wenn diese Männer immer mehr Männerhäuser und ihr Gesellschaftssystem aufbauen.

Was schlagen Sie vor? In Deutschland ist Religionsfreiheit ein Grundrecht. Haben Sie ein Problem mit der deutschen Verfassung?

Nein, wie kommen Sie darauf? Die Religionsfreiheit wird missbraucht. Wenn Saudi-Arabien und die Türkei hier ihre Moscheen bauen, sehe ich es als meine Bürgerpflicht, dass ich mich einmische.

Gilt denn aus Ihrer Sicht diese Einmischung auch beim katholischen Klerus, der sich auch nicht mit der liberalen Moderne aussöhnen kann?

Die katholische Kirche wird doch ständig kritisiert – auch als Religion. Und für mich ist das keine Religion, die da in den Moscheen betrieben wird, sondern eine Ideologie. Davor verschließen sehr viele säkulare Menschen die Augen. Und das ist gefährlich.

Warum?

Ich möchte, dass diese Menschen etwas zu dem Individualisierungsprozess der Migranten beitragen. Ich sehe aber genau das Gegenteil: dass sie jetzt, da sie merken, ihre Frauen und Kinder beginnen auszubrechen, um eigene Wege zu gehen, ihnen wieder eine konservative Haltung aufzwingen. Indem sie Moscheen bauen und den Frauen Kopftücher aufsetzen oder sie verheiraten.

Hinter der Kölner Moschee steht der staatsnahe türkische Islamverband Ditib, der sich ja gegen Zwangsehen und Kopftuchzwang ausspricht.

Bitte? Da müssen Sie seinen Funktionären die richtigen Fragen stellen. Ich spreche auch nicht von Zwangsverheiratung. Aber es gibt im Islam den Zwang zur Ehe. Ich frage: Kann ein Mädchen einen Freund haben? Muss sie heiraten, um Sexualität zu haben? Und wie verhindert das die Moschee? Indem sie arrangiert verheiratet wird …

Sex vor der Ehe ist doch auch unter erzkonservativen Christen verpönt …

Genau das ist Ihr Problem, dass Sie das Christentum mit dem Islam vergleichen. Die Moscheevereine sind keine Kirchen, sie bilden keine einheitliche Religion. Das sind lauter Sekten. Die wissen ja selber nicht einmal, was der Islam sein soll. Das ist das Gefährliche.

Der Islam ist nicht frauenfreundlich, einverstanden. Aber das gilt ja auch für alle anderen Religionen. Warum soll man die einen bevorzugen und die andern benachteiligen?

Ich bevorzuge niemanden. Ich bin nur überzeugt, dass die Kirche hier in diesem Land viel gelernt hat, sie steht ständig unter Rechtfertigungsdruck. Ob die Menschen in unserem Land in die Kirche gehen oder nicht, das interessiert hier niemanden. Dieses Land hat eine Aufklärung hinter sich!

Wie müsste ein Islam beschaffen sein, dass er Ihren Geschmack trifft?

Individualisiert und spirituell. Wir leben in einem Land, dessen Gesetze das Individuum schützt. Jeder Einzelne hat das Recht, eine Religion auszuüben, an ein Höheres zu glauben. Ich möchte jedoch von keiner Sekte gezwungen werden, Dinge zu tun, die außerhalb dieses Gesetzes sind.

Tun das die islamischen Vereine?

Ich bitte Sie! Was ist denn mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit, was mit der Freiheit von Religion? Warum darf ich denn nicht aus dem Islam austreten?

Dürfen Sie das nicht?

Nein, man wird als Muslim geboren. Sie wissen offenbar nicht, wie viele Schwierigkeiten diese Familien einem machen, wenn man einen anderen Weg gehen will – um nicht an das Schicksal der ermordeten Hatun Sürücü erinnern zu müssen.

Probleme, wenn die Kinder nicht so wollen wie die Eltern: gibt es die nicht in jeder Familie?

Die deutsche Gesellschaft ist mittlerweile so, dass die Kinder auf eigenen Beinen stehen dürfen – dass die Konflikte jedenfalls nicht stets auf Kosten der Kinder ausgetragen werden. Und diese Möglichkeit wird den türkischen Kindern nicht gegeben.

Es gibt ja in den letzten Monaten viele tragische Fälle, bei denen in urdeutschen Familien kleine Kinder zu Tode kamen. Wer hat da versagt?

Schrecklich. Ich möchte diese Kultur des „Hinschauens“, von der auch Frau Merkel spricht. Das man auch mal bei den Nachbarn klingelt, seien es Türken oder Araber oder Deutsche, wenn dort ein Kind schon seit Stunden weint. Oder dass, wenn eine Moschee gebaut wird, man darüber genauso debattiert wie dann, wenn Scientology ein Zentrum plant. Ich möchte, dass den Moscheevereinen der Schutzmantel genommen wird.

Ist Frankreich für Sie ein Vorbild? Dort gibt es eine striktere Trennung von Staat und Religion, und die ist für alle gleich.

Nein. Frankreich hat für mich absolut versagt, was Integration angeht.

An französischen Schulen herrscht ein striktes Kopftuchverbot auch für Schülerinnen. Gefällt Ihnen das nicht?

Ein Kopftuchverbot an Schulen? Das reicht nicht. Ich möchte, dass Frauen zuerst ihre Freiheiten kennenlernen, um dann selbst zu entscheiden, ob sie sich den Kopf rasieren, Buddhistin werden oder ein Kopftuch tragen wollen.

Kann man das verordnen?

Der Staat hat die Pflicht, die Menschen auch vor Religion zu schützen. Wenn Kinder ihrer Freiheit beraubt werden, muss man fragen dürfen: Was machen die mit ihren Kindern?

Auch im Christentum gab es ja viel Gewalt und Zwang, doch das wurde weitgehend überwunden. Warum trauen Sie dem Islam eine solche Entwicklung nicht zu?

Sie haben Illusionen! Die Aufklärung ist doch so gelaufen, dass Menschen die Kirchen verlassen und in Frage gestellt haben. Aber die Muslime verlassen ihre Moscheen nicht. Sie bauen Moscheen!

Der hessische Landtagswahlkampf brachte den amtierenden Ministerpräsidenten Roland Koch und seine Partei, die CDU, Ende vorigen Jahres überraschenderweise in die Defensive. Daraufhin zogen er und die Seinen zusammen mit der Bild-Zeitung eine Kampagne aus dem Hut, der zufolge in Sonderheit migrantische Jugendliche („U-Bahn-Täter“ in München) für eine Welle von körperlicher Gewalt verantwortlich seien.

Koch sucht seither um Gefolgschaft für seine Idee, kriminelle Jugendliche im Zweifelsfall, sofern sie nicht im Besitz eines deutschen Passes sind, aus dem Land zu weisen. Mitte Januar legte er nach und forderte sogar eine Ausweitung des Strafrechts auf Personen, die noch nicht das vierzehnte Lebensjahr vollendet haben – Kinder in den Knast, bündelte sich diese Parole an den CDU-Wahlkampfständen.

Möglicherweise war diese wahlkampftaktische Zuspitzung auf grundsätzlich nicht strafmündige Bürger eine folgenreiche Panne für die CDU Hessens: Die Deutschen lieben es zu strafen, aber nicht, dass Kinder im Gefängnis landen können.

Anders als 1999, als Koch seinen Wahlkampf aus der landespolitischen Opposition gegen die frisch gewählte rotgrüne Bundesregierung gegen deren Integrationspläne („Doppelpass“) mit deutlich ausländerfeindlichen Zungenschlägen bestritt, wogt ihm in der Frage der vermeintlich ausufernden Jugendkriminalität von Migranten Protest aus allen Institutionen und Öffentlichkeiten entgegen – auch aus seiner eigenen Partei.

Im Gegensatz zum eigenen Profilierungswunsch wurde Koch vorgehalten, dass gerade in seinem Bundesland Stellen im öffentlichen Dienst (Justiz, Pädagogik) abgebaut wurden: Dass also er selbst die meiste Verantwortung dafür trägt, dass Verfahren gegen kriminelle Jugendliche (welcher Herkunft auch immer) nicht zügig vor Gerichten verhandelt werden und Täter nicht hinreichend sozialpädagogisch betreut werden können.

PublizistInnen und MigrationsforscherInnen wie Necla Kelek kritisieren Koch wegen dessen Populismus, denn die Jugendlichen, um die es gehen müsste, seien nicht als Ausländer zu behandeln, sondern als Nachwuchs der eigenen Gesellschaft. JAF

Sollte man da nicht auf Angebot und Nachfrage vertrauen? Wenn zu viele Moscheen gebaut werden, dann werden die halt leer stehen?

Sie beide degradieren dieses Land zu einem Servicestaat. Alle können machen, was sie wollen – und stets im Namen der Religionsfreiheit. Dagegen wehre ich mich. Weil die Kinder geschützt werden müssen, auch vor Religion. Das ist unsere Aufgabe.

Deutschland ist ein liberales Land.

Das ist für mich nicht liberal – das ist Ausverkauf unseres Wertesystems.

Wird die Religion hierzulande zu sehr wertgeschätzt?

Ich habe den Eindruck, dass sich durch die Muslime, die so religiös sind, auch mehr Christen wieder ihrer Religion zuwenden. Da fühle ich mich im Stich gelassen von den Deutschen, die sagen, jetzt gehe ich auch einmal in der Woche in die Kirche, wenn die Muslime doch auch in ihre Gotteshäuser gehen.

Niemand zwingt Sie, in die Moschee zu gehen. Aber Sie wollen religiösen Menschen Vorschriften machen?

Natürlich muss man Vorschriften machen. Wenn der Vater seine Tochter nicht zum Schwimmen schickt, weil das seine religiösen Gefühle verletzt: Wo bitte steht denn geschrieben, dass er das darf?

Das ist das Erziehungsrecht der Eltern. In Baden-Württemberg gibt es sogar Christen, die ihre Kinder ganz von der staatlichen Schule abmelden, um sie selbst zu erziehen. Wieso kritisieren Sie das nur, wenn Muslime so etwas tun?

Woher wissen Sie das? Mein Thema ist der Islam in Europa und die Integration. Relativierungen sind Ausreden.

Weil Sie sich immer nur auf die Muslime beziehen, decken sich Ihre Forderungen mit denen von CDU-Politikern. So haben Sie am Muslim-Test in Baden-Württemberg mitgewirkt und an der Verschärfung des Zuwanderungsrechts, die von vielen als diskriminierend empfunden werden.

Nennen Sie mir in Europa ein größeres Problem als das, das Muslime bereiten.

Der Rechtsradikalismus?

Ich würde den Islam mit dem Rechtsradikalismus vergleichen. Sie trennen das, weil Sie sagen: Das sind arme Menschen, die praktizieren nur ihre Religion. Aber auf die rechtsradikalen Deutschen zeigt man mit dem Finger und sagt: Da muss man was tun!

Vergleichen Sie den Islam mit dem Rechtsradikalismus? Oder den Islamismus?

Wie wollen Sie denn Islam und Islamismus trennen?

Ein Islamist strebt einen islamischen Staat an. Ein Muslim will nur seine Religion praktizieren und kann in einem demokratischen, säkularen Staat leben.

Sehen Sie, da sind wir uns einig. Ich sehe eben, dass eine individualisierte Form des Islam nicht existiert und der Islamismus immer stärker wird.

Die CDU würde Sie sicher gern für ihren Wahlkampf engagieren.

Ist mir unbekannt. Die Union findet vielleicht einige meiner Anliegen gut, meine Haltung zu den Importbräuten oder zum Zuwanderungsgesetz. Aber sonst gibt es keine Gemeinsamkeiten. Ich arbeite mit allen zusammen, die die im Grundgesetz versprochene Freiheit verteidigen.

Ihren Kritikern gelten Sie als Stichwortgeberin der CDU.

Manche wollen mich wohl verdreht wahrnehmen. Ich will nur, dass das Thema Integration ernster genommen wird. Wie können wir die Probleme mit diesen Migrantenkindern, von denen dieses Gewalt ausgeht, lösen? Welche Konzepte kann ich bieten, damit die Integration dieser Kinder in die Gesellschaft klappt? Ich möchte, dass die Eltern zur Verantwortung gezogen werden. Dass sie dafür sorgen müssen, dass die Kinder zur Schule gehen, dass sie Deutsch lernen, dass sie dieses Land als ihr Land annehmen. Herr Koch macht das leider nicht.

Mit seinen Forderungen nach Warnschutzarrest, Jugendcamps und schnellerer Ausweisung von Straffälligen – damit können Sie gar nichts anfangen?

Nein, überhaupt nicht. Ich finde ja eher, dass diese Menschen allein gelassen werden. Ich sehe bei Roland Koch wirklich nicht, dass er für diesen Individualisierungsprozess Hilfe anbietet und sagt: Natürlich hat hier jeder in diesem Land jeder Chance. Er signalisiert nicht: Deutschland ist auch die Heimat von Migranten. Oder dass er ihnen hilft, sich mit Deutschland zu identifizieren.

Warum möchten Sie das?

Damit Migranten, die hier seit vierzig Jahren leben oder die jetzt gerade ins Land kommen, sagen können: Das hier ist unsere Heimat oder das soll sie werden. Und ich suche jetzt einen Weg, wie ich und meine Kinder hier ankommen und, falls gewünscht, ohne Religion leben dürfen.

JAN FEDDERSEN, Jahrgang 1957, ist taz.mag-Redakteur; DANIEL BAX, Jahrgang 1970, ist Redakteur im taz-Meinungsressort