Begegnung in Rymanów

Heute leben in Polen zwischen 5.000 bis 10.000 Juden. 1939 – bevor die deutsche Wehrmacht das Land überfiel – lebten dort etwa 3.3 Millionen Juden. Die größten Vernichtungslager befanden sich im besetzten Polen: Auschwitz, Treblinka, Sobibor, Majdanek, Chelmno und Bełżec. Dort ermordeten deutsche Nationalsozialisten 2,35 Millionen Juden.

Antisemitismus in Polen: Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in Polen mehrere Pogrome – viele Überlebende der Schoah verließen das Land. 1968 wurden während einer antisemitischen Kampagne über 20.000 Juden von der polnischen Regierung ausgebürgert. Mit der Jedwabne-Diskussion im November 2000 wurde das polnische Selbstbild als „Held und Opfer“ im Zweiten Weltkrieg in Zweifel gestellt. Auslöser war das Buch „Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne“ von Jan Tomasz Gross. Mit seinem Werk hat der polnischstämmige US-Soziologe die jahrzehntelange Tabuisierung und das „Vergessenwollen“ in Polen durch Fakten durchbrochen. Nach Gross’ Recherchen waren nicht nur Kriminelle und Kollaborateure an der Judenverfolgung beteiligt, sondern auch „ganz normale Männer“. Der Autor bezichtigte Polen und die katholische Kirche, sich nicht ausreichend mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Als Beispiel führte er die Geschichte der Kleinstadt Jedwabne an. Dort kam es kurz nach dem Rückzug der sowjetischen Besatzer, am 10. Juli 1941, zu einem Pogrom. Nahezu alle jüdischen Bewohner, etwa 1.600 Menschen, wurden umgebracht. An diesem Tag befanden sich nur wenige Angehörige der deutschen Besatzungsmacht am Ort. Das Massaker an den jüdischen Einwohnern wurde von den polnischen Nachbarn verübt. Möglicherweise gab es ein Abkommen zwischen dem deutschen Gendarmerieposten und der von der Besatzungsmacht eingesetzten polnischen Stadtverwaltung, das den Polen für acht Stunden „freie Hand gab, mit den Juden zu tun, was sie wollten“, schreibt Gross. Nachdem die Menschen stundenlang gequält, erniedrigt oder erschlagen wurden, sind die überlebenden Juden von den polnischen Nachbarn in eine Scheune getrieben und bei lebendigem Leibe verbrannt worden. Nach dem Erscheinen von „Nachbarn“ forderten liberale und linksorientierte, aber auch konservative Publizisten eine nationale Gewissenserforschung. Dennoch gehören antisemitische Traktate weiterhin zum medialen Alltag in Polen – der katholische Sender Radio Maryja spielt diesbezüglich eine unrühmliche Rolle. Auch das Dorf Jedwabne streitet bisher jede Mitschuld ab. In ihrer Außendarstellung verharrt die Kleinstadt in seiner Opferrolle unter bolschewistischen Besatzern und betrachtet die Antisemitismus-Diskussion als verleumderische Kampagne, die den Einwohnern von Jedwabne Unrecht zufügt.

Gerechte unter den Völkern: Neben der schwierigen Auseinandersetzung mit der nationalen Vergangenheit, gibt es zahlreiche christlich-jüdische Aussöhnungsbemühungen in Polen. Auch retteten viele Polen ihre jüdischen Nachbarn vor dem Holocaust. Keine andere Nation hat nur annähernd so viele Ehrentitel „Gerechte unter den Völkern“ von Israel erhalten wie Polen. JADRANKA KURSAR

Eine südpolnische Kleinstadt wagt es erstmals, sich ihrer lange verdrängten Geschichte zu erinnern: 1942 wurden sämtliche jüdische Bewohner der Stadt ermordet. Über sechzig Jahre später gedachte man ihrer an einem „Remembrance Day“

VON LAURA GALLATI
UND ALMA NOSER

Zwischen dem 12. und 13 August des Jahres 1942 hörte das galizisch-jüdische Schtetl Rymanów auf zu existieren. Alle seine Bewohner wurden liquidiert und damit fast fünfzig Prozent seiner gesamten Bevölkerung.

Mit den ermordeten jüdischen Einwohnern verschwand auch ihre Kultur aus Rymanów, ohne dass die – inzwischen homogen polnisch-christliche Bevölkerung – sie vermisste. Es brauchte über sechzig Jahre und zwei Generationen von LehrerInnen, Juristen, Historikern von und aus Rymanów, um endlich ein langsames Herantasten an die verdrängte gemeinsame Geschichte zu wagen. Es sind mehrheitlich getaufte Christen, bei vielen von ihnen liegt die genaue Beschaffenheit der familiären Wurzeln im Dunkeln. Typisch für diese Gegend Polens.

Ihre Initiative „Spotkanie Rymanów“ (Begegnung Rymanów) lud ein, exakt sechsundsechzig Jahre nach der Endlösung in Rymanów, auf den 12. und 13. August dieses Jahres – und es reisten an über vierzig Nachkommen von Überlebenden der Schoah und auch nichtjüdische Ausgewanderte der zweiten und dritten Generation. Aus aller Welt.

Auf dem Hauptplatz von Rymanów, dem Rynek, machen Plakate auf die Erinnerungstage aufmerksam. Zu sehen ist ein sepiafarbenes Foto, datiert auf den 12. August 1942 und von oben aufgenommen, mit Blick auf ebendiesen Platz. Hinunter auf Menschengruppen, die ratlos herumstehen oder zusammengekauert auf Bündeln und Koffern sitzen – eine Ikonographie der Vertreibung, Gewalt und Willkür. Den Hintergrund bilden zwei, drei Häuser, in denen etliche der jetzt Zusammengetriebenen vorher, bevor sie 1939 ins Ghetto gepfercht worden waren, gewohnt haben mögen.

Das Foto – der Vergilbung anheim gegeben – hat eingerissene Ränder. Es wurde im Nachlass einer in Israel überlebenden Tante jenes damals zwölfjährigen Jungen gefunden, der sich seinerzeit mit seiner kleinen Kamera auf den Balkon geschlichen hatte, obwohl dies streng verboten war. Niemand hätte sehen dürfen, was sein Knipsfoto sehen macht: die Eliminierung der jüdischen Bewohner, die in der Sommerhitze des August-Tages über zwölf Stunden stehen mussten, bevor sie selektiert wurden: hundertfünfzig bis zweihundert Kinder und Alte in den nahen Wald von Barwinek, wo sie von der SS sofort erschossen wurden. Arbeitsfähige Männer zwischen fünfzehn und fünfunddreißig kamen zur Weiterverwertung ins KZ Plaszów bei Krakau – und wer Glück hatte, kam dort auf Schindlers Liste und war gerettet. Der Rest, etwa fünfhundert bis achthundert Menschen, wurde von den Nazis auf den langen Fußmarsch zur fünf Kilometer entfernten Bahnstation Wróblik getrieben. Dort, schon in Viehwaggons gesperrt, wurden sie zwei Tage und Nächte ohne Trinken und Essen stehen gelassen, um schließlich auf ihre letzte Reise geschickt zu werden, nach Bełżec, wo die dann noch Lebenden innerhalb weniger Stunden ins Gas getrieben wurden.

Das Foto des Jungen ist das einzige Bild-Dokument dieses Anfangs vom Ende. Der Blick von 1942 durch die Kamera mit der sicher nur mittelmäßigen Optik wurde auf einer Israel-Reise für Michal und Adam Lorenc sechzig Jahre später zur Initialzündung, den Blick ihrerseits auf die Geschichte ihres Heimatortes Rymanów zu werfen. Was wissen die heutigen BewohnerInnen? Wie wird darüber gesprochen, wie geschwiegen?

Die Brüder Lorenc schreiben: „Wir stellten fest, dass sich niemand der jüdischen Bevölkerung erinnert … Wir begannen, zuerst den zerstörten jüdischen Friedhof wieder in Stand zu setzen … Die Erinnerungstage am Jahrestag der Leerung des Ghettos am 12. und 13. August haben das Ziel, eine Begegnung der Kulturen und Religionen zu ermöglichen und das gemeinsame kulturell-historische Erbe wiederzubeleben. Wir möchten einen positiven Geist schaffen, ohne Intoleranz und Antisemitismus.“

Schön und sanft ist die Gegend der Podkarpacky, der Vorkarpaten, und das Licht ist so durchsichtig und jenseitig, wie es der polnische Autor Andrzej Stasiuk in seinem Buch „Die Welt hinter Dukla“ beschreibt.

Dukla ist ein Nachbarort, das Städtchen Rymanów selbst ist unspektakulär. Es liegt auf einem Hügel, den schönsten Blick haben die Toten auf dem christlichen Friedhof; es soll der älteste Polens sein. Ein kleines Tal mit einem Bächlein und in Bäumen versteckten Sanatorien und Therapiestationen öffnet sich in Richtung Süden und gibt den Blick frei auf die Bieskider-Berge. Durch dieses Tal führt der direkte Weg in die Slowakei und nach Ungarn. Im südlichen Ortsteil liegt Rymanów Zdrój, wo vor gut hundert Jahren Heilquellen entdeckt wurden, die seitdem für Kuren und physikalische Therapien genutzt werden. In den Jahren 1939 bis 1945 badete auch Frau Himmler hier. Heute sind die Heilquellen noch immer ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor für Rymanów.

Die imposante Barockkirche steht auf einer Anhöhe und überragt das Zentrum, ihrer dominierenden Lage kann die am steil abfallenden Hang liegende Synagoge keine Konkurrenz machen, auch wenn sie seit zwei Jahren wiederaufgebaut ist und ein neues, silbern glänzendes Zinkblech-Doppeldach an der Stelle trägt, wo vorher wilde Bäume aus ihrem verwahrlosten Innern in den Rymanówer Himmel wuchsen. Sie war einst „Wehrsynagoge“, also nicht nur für religiösen Feiern gedacht, sondern auch als Schutz und zur Verteidigung bei Pogromen. Und die gab es in regelmäßigen Abständen, seitdem sich Juden im 16. Jahrhundert hier ansiedelten.

Nach dem Krieg und bis zum Ende des Sowjetsystems diente die Synagoge als Lagerhalle, bis ein Überlebender aus den USA in Rymanów eintraf und mit ihm sein großes Scheckbuch. Und weil der Bürgermeister Jan Rajchel bei den Renovierungsarbeiten sehr kooperativ war, schenkte ihm der aus Rymanów stammende und in den USA lebende Rabbi Reich einen symbolischen Synagogen-Schlüssel – zu besichtigen im Büro des Bürgermeisters, er zeigt ihn gerne und stolz vor.

Heute gibt’s in Rymanów keine jüdischen Familien mehr, die renovierte Synagoge ist vor allem Museum. Hier nahmen die „Remembrance Days“ ihren Anfang, zunächst mit einer Führung, dann mit einer religiösen Feier in polnischer und englischer Sprache – die angereisten Gäste aus Israel, den USA und der Schweiz sprechen allesamt kein Polnisch mehr. Auch sind sie größtenteils säkular, die jüdische, gar die chassidische Tradition ihrer Vorfahren ist ihrem Leben fern. Trotzdem schreckten viele zusammen angesichts der Vehemenz, mit der ein großgewachsener Mann mit Pferdeschwanz die Rede des Rabbi mit einem Handschlag auf den Tisch unterbrach: „Was“, so rief er „was soll eine renovierte Synagoge, wenn keine Juden mehr da sind? Wozu dieser Aufwand? Dabei gibt es viele mittellose Juden auf der Welt. Hätten die nicht viel mehr Anrecht auf großzügige Spenden?“ Er kam aus Israel und sprach laut, was manche leise denken mochten: Ist eine musealisierte Synagoge genug der Wiedergutmachung für das Wegsehen im August 1942, das Mitmachen und Schweigen über die Raffgier bei Aneignungen – und das Vergessen der Namen und Gesichter der einstigen Nachbarn?

Aber an Festtagen, so sagte Rabbi Hirsch aus New York, kommen vermehrt jüdische Pilger aus dem Ausland. „Da ist die Synagoge beinahe wie früher, wo sie die Funktion eines 24-Stunden Restaurants hatte“, wie schon zu Zeiten des legendären „Wunderrabbis“ Menachem Mendel, der 1815 starb.

Er und andere liegen auf dem jüdischen Friedhof begraben. Vor einem Jahr, bei unserem ersten Besuch, bot dieser ein Bild der Vernachlässigung und Verwüstung. Grabsteine wurden, wie vielerorts in Polen, zum Straßenbau missbraucht und es waren die Juden selbst, die von den Deutschen mit vorgehaltener Pistole zu dieser Arbeit gezwungen wurden – den Rest haben später Polen verrichtet. Unter dem Druck von Exiljuden aus den USA und als Zeichen des seit ein paar Jahren in der Gemeindeverwaltung Fuß fassenden Wiedergutmachungsgedankens wurden die fragmentierten Grabsteine zum Friedhof zurückgebracht. Viele sind nur mehr namenlose Scheiben, ein zurechtgestutzter Teil der Straßentopografie.

Noch immer ist es heikel, als Außenstehende das Thema der Mittäterschaft der polnischen Bevölkerung anzuschneiden. Aber man müsste schon blind sein, um die einheimische Beteiligung bei der physischen und psychischen Auslöschung der Juden und ihrer Kultur während des Zweiten Weltkriegs nicht sehen zu wollen. Natürlich ist Polen selbst eines der größten Opfer des Nationalsozialismus. Das hinderte viele Opfer nicht, ihre eigene missliche Lage aufbessern zu wollen, indem sie an scheinbar versteckte Reichtümer ihrer ehemaligen Nachbarn heranzukommen versuchten. Nicht nur Matratzen wurden aufgeschlitzt und Gärten umgegraben, das Phänomen des „szmalcowniks“ (szmalc bedeutet in der polnisch-jüdischen Ganovensprache Geld) steht für die Gier, versteckte Juden zu erpressen, um sie schließlich zu verraten. „Man wird kein besserer Mensch, wenn es einem schlecht geht“, sagt Ruth Klüger.

Doch auch der Antisemitismus in Polen hat tiefe, bis ins Mittelalter reichende Wurzeln. Und heute wird er wieder geschürt, nicht nur von Rechtsradikalen, sondern auch von reaktionären Kräften der katholischen Kirche – allen voran durch den christlichen Sender Radio Maryja.

Im Wissen darum kämpft Pfarrer Miezyslaw Szostak seit Jahren gegen Geschichtsvergessenheit. Die kulturell verwobene Vielfalt des galizischen Grenzgebietes durch polnische, ukrainische, ungarische, slowakische, armenische und vor allem jüdische Präsenz sei der eigentliche Reichtum der Gegend von Rymanów. Er redet auf der Kanzel über die jüdische Geschichte und betet zusammen mit Rabbi Hirsch auf dem jüdischen Friedhof. Am vergangenen 13. August marschierte er, zusammen mit Bürgermeister Jan Rajchel, an der Spitze des Gedenkmarsches, auf dem weißen Haar das jüdische Keppele. Und er animierte die verlegen am Straßenrand stehenden Polen, sich dem Marsch anzuschließen. „We call him Jew. Er gehört zu uns“, sagt Malka Shacham Doron, Teilnehmerin der Gedenktage, wohnhaft im israelischen Negev.

Der katholische Priester und auch der Bürgermeister bestätigen zwar die Existenz von latent vorhandenen antijüdischen Ressentiments, beide bestehen jedoch darauf, dass diese am Abflauen seien – durch Wissen, bessere Bildung, durch Information. Vor allem aber durch Begegnungen mit Menschen, die, wie am 12. und 13. August zu sehen war, reden, lachen, essen und trinken, sich freuen oder weinen, den Erinnerungsmarsch beschwerlich finden, aber keine Steine gegen zuschauende Polen werfen sondern ihnen zuwinken, sich erschüttern lassen. Am Abflauen, weil reale Menschen das wirksamste Korrektiv sind wider festgelegte Menschenbilder.

Eine weitere Bremse für Neid und Missgunst, dieser ewigen Nahrung für Fremdenfeindlichkeit, ist auch der in den letzten Jahren spürbar verbesserte Lebensstandard und das sich langsam verändernde gesellschaftliche Umfeld im Prozess der Öffnung Polens zum übrigen Europa hin. Dieses unverkrampftere gesellschaftliche Umfeld will „Spotkanie Rymanów“ für ihre Aufklärungs- und Informationsarbeit nutzen. Ihre Adressaten sind sowohl junge wie ältere Rymanówer und Rymanówerinnen.

Und die kamen – einzeln oder in kleinen Gruppen, anfänglich zaghaft und scheu, aber zunehmend zahlreicher und unbefangener. Sie folgten den Einladungen zu Synagogenführungen, zu Filmdokumentationen, zum Konzert mit jüdischer Musik. Sie schauten sich die gesammelten Dokumente ihrer eigenen Geschichte an, die ausgegrabenen Zeitungsberichte und Fotografien, hörten die Lesung von Gedichten einer nach Israel entkommenen Frau aus Rymanów, aus Tagebüchern von Ermordeten, und vor allem waren sie beim Friedhofsrundgang zugegen und dem dreistündigen Marsch zur Bahnstation Wróblik, der von sechzig auf fast zweihundert Personen anschwoll – die am Straßenrand Stehenden fotografierten eifrig: wir werden, nach sechsundsechzig Jahren, nicht mehr auf ein einziges Knipsfoto angewiesen sein.

Kontakte zu knüpfen war nicht schwer – beispielsweise mit dem heute neunundsiebzigjährigen Mendel Chulev, der mit dreizehn ganz allein über den Fluss San ostwärts floh, den Russen in die Hände fiel, drei Jahre Sibirien und drei Jahre Umherirren hinter sich hatte, bis er in ein Displaced-Persons-Lager in der Steiermark fand, von wo aus er in die USA emigrierte. Als freier Tischler im ländlichen Wisconsin brachte er es zu bescheidenem Wohlstand. Er war in Rymanów mit zwei Töchtern und fünf Enkeln aus Israel und USA, erzählte seine Geschichte immer wieder auf Polnisch, jiddisch-deutsch und amerikanisch mit dem Fazit: „Now, I’m a happy man.“ Nach sechsundsechzig Jahren sah er sein Rymanów wieder und seine blauen Augen wollten nicht aufhören zu leuchten.

Oder mit Malka Shacham Doron, gezeugt 1950 in einem Auffanglager am Strand von Haifa, wo ihre Mutter aus Rymanów den zukünftigen Vater aus Berchtesgaden traf. Journalistin, Poetin, Politaktivistin, die die nervöse Tagespolitik verließ („genug der Tragödien“) und nun in der Wüste Negev lebt: „I don’t need Synagogues and Rabbis, I’ve my direct line to God.“ Malka spielte, am Bahnhof Wróblik bei sechsunddreißig Grad Hitze im Schatten, umschwirrt von Mücken, die israelische Hymne auf der Bratsche – jenseits von jedem nationalistischen Pathos, nachdenklich, als wär’s noch immer Smetanas „Moldau“ – was die melodische, wenn auch nicht die rhythmische Vorlage ist.

Für meine Schwester und mich war der Besuch in Rymanów eine Wiederaufnahme von Fäden zum Heimatort unseres Vaters, die vor einem Jahr geknüpft wurden. Zu ihnen gesellten sich jedoch viele neue, unerwartete und unerwartet vielfältige: wir haben in Rymanów Freunde und Freundinnen gefunden, mit denen wir mehr als Visitenkarten tauschten. Und das Wichtigste: Auch wir konnten die in unserem Gepäck mittransportierten (Vor)-Urteile über einen quasi immanent polnischen Antisemitismus revidieren.

Wir haben zudem in Gesprächen mit BewohnerInnen den zu Rymanów gehörenden Weiler Posada Górna und das Haus gefunden, wo unsere Urgroßmutter wohnte, während wir – wie vor einem Jahr – keine Spur, weder Namen noch Adresse unseres Großvaters fanden, der vor hundert Jahren von Rymanów über Wien, Frankreich, die Schweiz auswanderte und schließlich in Neapel lebte und starb. Nichtfinden als Chance? Die galizische Auslegung von der Vergeblichkeit allen menschlichen Tuns? Warum nicht?

LAURA GALLATI, Jahrgang 1939 und gebürtige Schweizerin, lebt als Konzertpianistin in Berlin. Sie besuchte Rymanów zusammen mit ihrer Schwester ALMA NOSER, die als „Länder-Koordinatorin Zentralamerika“ von Amnesty International Schweiz tätig ist.