„Nie von ihm geträumt!“

Geboren 1955 in Krefeld, Professor für Geschichte des modernen Deutschlands an der Universität London, Royal Holloway and Beddorf New College. Longerich zählt zu den versiertesten Holocaustforschern in der Geschichtswissenschaft. Seine Biografie über Heinrich Himmler, jüngst im Siedler Verlag erschienen, erwuchs einem längeren Forschungsaufenthalt am Holocaust Memorial Museum in Washington D. C. und fand viel Lob. Wie sein Historikerkollege Götz Aly oder der Sozialpsychologe Harald Welzer hat Longerich intensiv die deutsche Selbstwahrnehmung in der Nazizeit recherchiert; 2006 erschien von ihm hierzu (ebenfalls bei Siedler) „Davon haben wir nichts gewusst! – Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933–1945“.

Heinrich Himmler war der Kopf der SS. Der Historiker Peter Longerich hat über ihn eine intensive Biografie verfasst. Ein Gespräch über Anstand, Moral und die Fähigkeit zur Distanz

INTERVIEW CHRISTIAN SEMLER

Peter Longerich, Jahrgang 1955, ist unter den Zeitgeschichtlern, die sich mit dem Nationalsozialismus beschäftigen, sicher einer der produktivsten und ideenreichsten. Dass er in London lehrt und nicht an einer der führenden deutschen Universitäten, zeigt die Berufungspraxis der hiesigen Historikerzunft in keinem guten Licht. Longerich wendet sich penibel den Quellen zu, wirkt aber keineswegs wie ein staubgrauer Gelehrter. Im Gespräch im tazcafé an der Rudi-Dutschke-Straße zeigt er sich als pointensicherer Geschichtenerzähler. Dass er sich Jahr um Jahr mit so grässlichen Ereignissen und Personen beschäftigt, verursacht ihm keine Probleme. „Von Himmler“, sagt er, „habe ich noch nie geträumt.“ Sein nächstes Projekt: eine Biografie von Joseph Goebbels.

taz.mag: Herr Longerich, Ihre Himmler-Biografie ist die erste seit langem im deutschen Sprachraum. Warum hat einer der mächtigsten Männer des Naziregimes so wenig biografisches Interesse hervorgerufen?

Peter Longerich: Weil das Thema schwierig ist und die Person extrem unangenehm. Es gab in letzter Zeit viele Forschungen, die sich mit dem SS-Apparat beschäftigten, die Aufgaben der einzelnen Ämter analysierten, sich sektoralen Themenstellungen, vor allem dem Holocaust, widmeten. Ich fand es an der Zeit, gerade mittels einer Biografie Himmlers einen integrativen Versuch zu machen. Bedenken Sie, dass viele der in jüngerer Zeit erschienenen Biografien über Protagonisten des Naziregimes – darunter sehr gute, wie die von Ulrich Herbert über Werner Best – in erster Linie politische Biografien sind. Ich hingegen habe versucht, alle Aspekte von Himmlers Leben mit einzubeziehen.

Welche neuen Materialien konnten Sie verwerten?

Ohne die Quelleneditionen der letzten fünfzehn Jahre hätte ich das Buch nicht schreiben können. In erster Linie wäre hier der Dienstkalender Himmlers zu nennen, der vor einigen Jahren von einer Gruppe von acht Historikern herausgegeben worden ist. Über zwei Jahre hinweg vermittelt dieser Kalender die täglichen Aktivitäten Himmlers. Ansonsten stand ich vor der Aufgabe, zwar schon bekannte, aber über die ganze Welt verstreute Dokumente zusammenzutragen oder beispielsweise in den Dossiers von SS-Chargen nach Himmler-Briefen zu suchen. Ich habe im Berliner Document-Center (wo die Nazimitgliederunterlagen aufbewahrt werden, Anm. CS) mehrere hundert solcher Dossiers gesichtet und eine Reihe von Briefen Himmlers an sie gefunden.

Begegnet der von Ihnen gewählte biografische Zugang nicht dem Einwand, dass im Fall Himmlers die Person und die von ihm geleiteten Apparate eins werden, er zum reinen Apparatmenschen wird – sodass es doch darauf hinausläuft, eine Strukturgeschichte dieser Terrorapparate zu schreiben?

Das ist nicht nur im Fall Himmlers ein Problem. Meist verfügen wir über relativ viele Dokumente und Zeugnisse aus der Jugend- und der „Kampfzeit“. Als später die Nazifunktionäre zu hohen Ämtern aufstiegen, achteten sie sorgfältig darauf, welche privaten Dokumente der Nachwelt erhalten bleiben sollten. So auch bei Himmler. Ich bin aber zu dem Ergebnis gekommen, dass die zahlreichen Zeugnisse aus Himmlers „formativer Periode“, also die Zeit bis zum Ende der Zwanzigerjahre, eigentlich ausreichend sind, um Himmlers Persönlichkeit zu verstehen. Dann aber muss man tatsächlich konstatieren, dass bei Himmler, seit er die SS aus kleinen Anfängen aufbaute, Amt und Privatleben vollständig verschmolzen. Er zieht alles in die Partei und die Apparate. Seine Brüder werden SS-Mitglieder, ebenso seine engeren Freunde. Sein Vater, ein katholisch-deutschnationaler Schulmeister, geht in die Partei.

Sie schreiben überraschenderweise, dass Himmler eigentlich kein Bürokrat gewesen ist, sich überall einmengte, alles entscheiden wollte. Wie konnte er dann die Terrorapparate des Nazireichs effektiv leiten?

In der Tat. Himmler war kein Bürokrat. Was Bürokratien auszeichnet, sind doch geregelte Verfahren und Normen, nach denen sich alle Funktionäre in einem Apparat einschließlich der Leitung richten müssen. Es geht um Berechenbarkeit. Sie aber war im Fall Himmlers gerade nicht gegeben. Er nahm sich das Recht, im Einzelfall nach seinem Gutdünken zu entscheiden. Sieht man genauer hin, wird man feststellen, dass die Gesamtstruktur der SS eigentlich ziemlich unübersichtlich war, ja von Himmler bewusst so angelegt wurde. Er hatte seinen umfangreichen persönlichen Stab und regierte hinein, wo er wollte.

In seinen Anfangsjahren als Parteifunktionär war Himmler zwar extrem pedantisch, aber schlecht organisiert. Er verpasste Termine, verschlampte Dokumente, musste ständig erinnert, oft ermahnt werden. Später hat er einen ganz spezifischen Führungsstil entwickelt.

Er kannte die Schwächen seiner Leute, „packte sie beim Schlafittchen“. Er hat sie gelobt, bestraft, ihnen dann wieder verziehen. Er hat sie aufgebaut, sie heruntergedrückt. Vieles erinnert an den Erziehungsstil seines Vaters. Es gibt keine Trennung von Privatem und Dienstlichem. Deshalb wäre es ganz falsch, seinen Führungsstil mit dem innerhalb einer militärischen Organisation gleichzusetzen.

Ein hoher SS-Offizier bekommt von Himmler einen Brief, in dem es heißt: „Stimmt es, dass Sie letztes Wochenende betrunken am Steuer saßen und zu schnell gefahren sind?“ Der SS-Mann schreibt einen langen Antwortbrief, in dem er sich zu rechtfertigen, sein Alkoholproblem zu erklären versucht. Kein SS-Mann konnte sicher sein, dass er wegen einer Verfehlung nicht bei Himmler denunziert und sein Chef diesen Fall aufgreifen würde. Und alle SS-Chargen hatten „menschliche Schwächen“.

Sie schreiben, dass Himmler seine persönlichen Lebenserfahrungen als Richtschnur seines Führungsstils genommen hätte. Was haben wir uns konkret darunter vorzustellen?

Nehmen Sie das Beispiel der Heiratsgenehmigungen für SS-Männer. Die Geschichte dieser Genehmigungsverfahren spiegelt auch Himmlers eigene Ehe und ihre Probleme wider. Als er schließlich begann, mit seiner Privatsekretärin eine Zweitehe zu führen, stellt er entsprechende Maximen für seine SS-Leute auf, ermunterte sie nachhaltig, Kinder außerhalb ihrer Ehen zu zeugen, was er selber auch tat.

Oder nehmen Sie seine oft skurrilen Strafmaßnahmen. Zum Beispiel arbeitete Himmler einen zweiseitigen Plan aus, wonach SS-Chargen, die sich nicht um die Verpflegung ihrer Leute kümmerten, für vier Wochen in ein „Haus der schlechten Verpflegung“ eingewiesen wurden. Er fügte sogar Rezepte bei. Dann hatte er die Idee, für Leute, die sich nicht um die Insektenplage kümmerten, ein „Fliegenzimmer“ einzurichten.

All diese Erziehungsmaßnahmen weisen auf die Erziehung durch seinen Vater zurück, gegen den er übrigens niemals aufbegehrt hat.

Sie haben zur Persönlichkeit Himmlers Diskussionsrunden mit Psychotherapeuten und Psychoanalytikern durchgeführt. Was waren die Ergebnisse dieser nicht gerade alltäglichen Forschungsmethode?

Historiker machen ständig Anleihen bei anderen Disziplinen, denken Sie etwa an das Verfassungsrecht oder die Volkswirtschaft. Ich wollte in diesem Falle natürlich keine Ferndiagnose, sondern Aufklärung über die Persönlichkeit, soweit das Material sie hergab. Wir machten je eine Runde mit Familienanalytikern in Hamburg und eine in Köln mit Therapeuten, die normalerweise unter anderem Naziopfer mit psychischen Spätfolgen therapieren. Die Hamburger Analytiker legten den Befund Bindungsschwäche nahe, in der Kölner Runde war von Affekt- und Emotionsvermeidung als Strategie Himmlers die Rede. Mir waren es Hinweise, die ich dann, als ich mich in die betreffende Literatur vertiefte, bestätigt fand.

Wie kam es, dass Himmler sich von einem katholischen Deutschnationalen mit der üblichen Portion christlichen Judenhasses zu einem so rabiaten Antisemiten entwickelte?

Antisemiten waren das ja alle. Beim jungen Himmler findet man zum Beispiel das im konventionellen Antisemitismus weit verbreitete Stereotyp vom guten und vom schlechten Juden. Eigentlich könnte man vermuten, dass es bei ihm als Organisator des Holocaust einen stetig anwachsenden Hass auf die Juden gegeben hätte, vergleichbar mit Hitlers antisemitischer Besessenheit. Der Wandel vom christlichen zum völkischen Antisemitismus spielt sich bei Himmler in den frühen Zwanzigerjahren ab, als er sich der Nazipartei zuwendet. Allerdings denke ich, dass dieser Antisemitismus nie zum primären Handlungsmotiv für Himmler wurde.

Welche Rolle spielte Hitler bei Himmlers Antisemitismus?

Wir sollten uns hier möglichst eng an die Quellen halten. Für Himmler sind das seine Tagebücher sowie die Liste der Bücher, die er las. Sein Urteil über „Mein Kampf“ ist positiv, er konstatiert aber auch Schwächen des Buches. Hauptsächliche Bezugsperson für Himmler ist nicht Hitler, sondern Ernst Röhm, der spätere Chef der SA. Ihn besucht er auch nach dem gescheiterten Hitlerputsch 1923 im Gefängnis. Röhm und Strasser wurden seine Mentoren. Natürlich war und blieb er gegenüber Hitler unterwürfig, aber es gibt bei Himmler kein „Erweckungserlebnis“ durch Hitler, wie es beispielsweise bei Goebbels der Fall war.

Vor allem nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs nimmt die Drohung vor der „asiatischen Barbarei“, vor den Horden aus dem Osten, einen immer größeren Raum in Himmlers Denken ein. Wie vereinbart sich dieser „Antiasiatismus“ mit dem nazistischen Judenhass?

Der weltanschauliche Gehalt von Texten Himmlers entzieht sich einer anspruchsvollen Exegese. Seine Ideologie ist eher robust zu nennen. Seine Äußerungen sind oft situationsgebunden, haben eine taktische Funktion. Himmlers Grundmodell lautet: Die guten, germanischen kämpfen gegen die bösen, asiatischen Kräfte. Himmler entscheidet jeweils, wer wo steht. Die Juden sind natürlich asiatisch/vorderasiatisch. Aber auch Jesus Christus ist Vorderasiat, und damit gerät das gesamte Christentum in Verdacht. Aber als es an der Ostfront nicht mehr so gut lief, dachte Himmler sich – und sagte es auch vor SS-Führern: Vielleicht sind Lenin und Stalin im Grunde ja Germanen, Nachkömmlinge von übrig gebliebenen germanischen Splittern im asiatischen Erbbrei. Sie sehen: Der Germanenbegriff ist bei Himmler sehr auslegungsfähig.

Wie kommt es, dass Himmler nicht in Händel mit dem Chefideologen der Partei, Alfred Rosenberg, geriet?

Rosenberg hat sich mit seinem „Mythos des 20. Jahrhunderts“ in schriftlicher Form festgelegt, ein Werk übrigens, mit dem Himmler sich nie gründlich auseinandergesetzt hat. Selbst Hitler hat ja bekannt, es nie gelesen zu haben. Himmler kam es vielmehr darauf an, durch Rituale, heilige Orte, durch einen streng überwachten Verhaltenskodex etwa Ideologie zu praktizieren. Es kam in der Tat zu Rivalitäten mit Rosenberg – zum Beispiel in der Zuständigkeit für Forschungen zur germanischen Frühgeschichte. Aber dahinter nun einen Prinzipienstreit zu vermuten, halte ich für falsch. Dafür war die gesamte NS-Ideologie auch zu beliebig.

In Ihrem Buch erfährt man, Himmlers Karriere sei eher diskontinuierlich verlaufen. Ein Aufschwung 1929, nachdem er die SS übernimmt, aber 1933 eine Zurücksetzung. Es reicht zunächst nur zum Chef der politischen Polizei in Bayern. Dann geht es wieder aufwärts. Woher rührte dessen Stehvermögen?

Himmler kann Niederlagen gegenüber Rivalen erstaunlich gut wegstecken. Nicht aufgeben, weiter an sich arbeiten, also das Resultat väterlicher Erziehungsarbeit.

Objektiv hilft ihm der Sturz seines ehemaligen Mentors Röhm. Das Konfliktpotenzial zwischen SA und SS wuchs über die Jahre hinweg an; Himmler schaffte es, der Parteiführung seine SS als interne Ordnungstruppe anzudienen und so seine Organisation in Stellung zu bringen. Beim Röhm-Putsch und danach beweist er absolute Unterordnung unter Hitler.

Mit der Zeit entwickelt er, der sich in der NSDAP zunächst reichlich tollpatschig verhielt, zudem ein beachtlich politisches Geschick, wusste, wie man verhandelt, wie und mit welchen Mitteln man Leute überredet. Nach außen gelang es ihm, die SS wie einen Block erscheinen zu lassen. Nach innen wirkte er stark integrierend, verhinderte, dass ihm irgendeine Entwicklung aus dem Ruder lief.

Also doch mehr als der bloße Vollstrecker?

Zunächst sind wir versucht, bei Himmler an die gängigen Klischees zu denken – der Bürokrat, der Hühnerzüchter, der lächerlich wirkende Schwächling, der wild gewordene deutsche Oberlehrertyp. Was dabei vor allem unterschätzt wird, war seine Fähigkeit, die gesamten repressiven Organisationen, über die er gebot, auf die sich verändernde Lage und auf die jeweils neuen Aufgaben einzurichten.

Geboren am 7. Oktober 1900 in München, gestorben, mithilfe einer in einer Zahnlücke versteckten Zyankalikapsel, am 23. Mai 1945 in Lüneburg: Heinrich Himmler entzog sich mit seinem Freitod sowohl einem sicheren Todesurteil bei den Nürnberger Prozessen als auch überhaupt einer Übernahme von Verantwortung für seine politischen Verbrechen. Während der Kriegsjahre war er als Chef der sich elitär verstehenden Waffen-SS Organisator des Mordes an den europäischen Juden. Hannah Arendt charakterisierte Heinrich Himmler (in „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, auf Deutsch 1955) mit den Worten: Er „gehört weder zu den ‚bewaffneten Bohemien‘ noch eigentlich zum Pöbel. Der Organisator der Vernichtungsfabriken war ‚normaler‘ als irgendeiner der ursprünglichen Führer der Nazibewegung, war ein Spießer und weder ein verkommener Intellektueller wie Goebbels noch ein Scharlatan wie Rosenberg noch ein Sexualverbrecher wie Streicher noch ein hysterischer Fanatiker wie Hitler noch ein Abenteurer wie Göring.“ Am präzisesten dargestellt wurde der SS-Kopf in Romuald Kamarkars Film aus dem Jahre 2002 unter dem Titel „Himmler-Projekt“ (der Protagonist wurde gegeben von Manfred Zapatka).

Mag sein, dass ihn Intellektuelle wie Best dabei unterstützten. Aber diese Fähigkeit, jeweils angepasste Organsationsmodelle zu entwerfen, innerhalb deren die einzelnen Funktionen aufeinander abgestimmt waren – das war seine Stärke. Dabei beachtete er stets den politischen Zusammenhang, entwickelte politische Stichworte und Parolen gemäß den jeweiligen Erfordernissen.

Natürlich stimmt es, dass er seinen privaten Spinnereien nachhing, aber er war umsichtig genug, das, was vielleicht der Führung nicht genehm war, aus seiner Arbeit in der Öffentlichkeit herauszuhalten. Mit einem Wort: Er war in erster Linie Politiker, er strebte nach Macht und achtete darauf, dass seine Ideologie und sein Machtverlangen nicht in Widerspruch gerieten.

Der Begriff der „Anständigkeit“ war in Himmlers Äußerungen zentral. So in seiner „Posener Rede“, wo er seinen SS-Chargen bescheinigt, bei den Massenmorden an den Juden „anständig geblieben zu sein“. Aber wie verträgt sich dieses Postulat damit, dass wehrlose Zivile, Frauen und Kinder durch die von ihm befehligte SS ermordet wurden?

Ich habe aus den Himmler-Dokumenten alle Passagen herangezogen und verglichen, die sich mit „Anständigkeit“ befassen. Der Begriff wird von Himmler widersprüchlich gebraucht. Einerseits sagt er, man müsse seine Feinde ritterlich behandeln. Andererseits bezeichnet er genau diese Anständigkeit geradezu als Verbrechen.

Eine andere Facette der „Anständigkeit“ geht aus einem Brief Himmlers an seine Frau hervor, der zwar nicht erhalten ist, aber aus der Antwort von Frau Himmler leicht zu rekonstruieren war. Himmler beklagt sich, dass er Magenprobleme habe, weil er immer so brav und anständig ist. Also psychosomatische Beschwerden, weil er sich ständig am Riemen reißt.

Die ständige Selbstkontrolle fordert ihren Tribut. Dann sagt er in dem Brief, er möchte auch mal unbrav und unanständig sein. Nach außen hin wird die Fassade der Anständigkeit hochgehalten, hinter ihr lauert jedoch der Wunsch, dass man aus diesem Korsett von Regeln auch einmal ausbrechen will. Himmler beschwört in der Posener Rede die Anständigkeit der mordenden SS, weiß aber, dass die Mordaktionen nicht gemäß seinem Kodex von Anständigkeit verlaufen, sondern dass es sich um Massaker handelte, begleitet von Saufexzessen, Habsucht, Sadismus. Seine Einstellung war eindeutig durch eine Doppelmoral geprägt.

Hat Himmler Adolf Hitler am Ende verraten?

Für einen bewussten Verrat sehe ich keine Indizien. Auch die These, Himmler hätte von der Verschwörung des 20. Juli gewusst und sich abwartend verhalten, scheint mir auf schwachen Füßen zu stehen.

Hat Hannah Arendts These über die Banalität des Bösen in „Eichmann in Jerusalem“, derzufolge das Böse ein Folge des Unvermögens, zu denken und zu urteilen ist, bei Ihrer Biografie Himmlers eine Rolle gespielt?

Arendt hatte ein sehr unvollständiges Bild von Eichmann. Aus heutiger Sicht folgte sie zu sehr seiner Verteidigungsstrategie, sich als bloßen Befehlsempfänger zu stilisieren. Heute wissen wir, welch großen Handlungsspielraum Eichmann tatsächlich hatte und dass er als radikaler Antisemit dachte und handelte. Allgemein gesprochen sehe ich es als Historiker nicht als meine Aufgabe an, das Böse am Beispiel Himmlers zu exemplifizieren. Ich schreibe nicht mit einem moralischen Koordinatensystem von Gut und Böse im Kopf. In diesem Fall sprechen wirklich einmal die Tatsachen für sich selbst.

Ist es nicht sehr bedrückend, sich über Jahre hinweg mit so schrecklichen Personen und Ereignissen zu beschäftigen?

Ich finde die Arbeit an der NS-Geschichte nach wie vor interessant, weil es noch neue Materialien zu entdecken gibt, auch neue Erklärungsansätze. Außerdem verfüge ich wie andere Historiker auch über eine gewisse professionelle Distanz zum Material. Geträumt habe ich übrigens von Himmler nie.

CHRISTIAN SEMLER, Jahrgang 1938, ist taz-Autor seit 1989; er beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Geschichte des Nationalsozialismus