„Ich habe nicht im Schatten gelebt“

Vorstandsvorsitzende: 1996 wählt die Mitgliederversammlung der Welthungerhilfe die heute 65-jährige Ingeborg Schäuble zu ihrer Vorstandsvorsitzenden. Dem Verein gehören Vertreter von Kirchen, Parteien, Gewerkschaften und Industrie an, sie sieht sich zuständig für die rasche Hilfe bei Katastrophenhilfe, für den Wiederaufbau bis zu langfristigen Entwicklungsprojekten mit einheimischen Partnerorganisationen. Die Mittel setzen sich aus Spenden und staatlichen Zuschüssen zusammen. Schäuble leitet den Verein, sammelt Geld, besucht Weihnachtsbasare, sitzt auf Diskussionspodien. Sie unternahm viele Reisen, unter anderem nach Nordkorea, Afghanistan, in den Kongo und Sudan, um sich vor Ort selbst ein Bild von den üblen Zuständen zu machen.

Verabschiedung: Am 19. November wird sie am Sitz der Organisation in Bonn und eine Woche später in Berlin von Botschaftern, Politikern und Managern verabschiedet. In den zwölfjährigen Amtszeit Schäubles hat die Welthungerhilfe ihre jährlichen Spendeneinnahmen fast verdoppelt (1995: 18,1 Millionen Euro, 2007: 31,7 Mio. Euro) – die Zuschüsse ebenfalls (1995: 46 Millionen Euro, 2007: 97,3 Millionen).

Weg: Ingeborg Hensle wird am 4. November 1943 in Freiburg/Breisgau geboren. Mutter Hausfrau, Vater Lehrer, zwei ältere Geschwister. Sie studiert Volkswirtschaft und macht später noch das Staatsexamen als Lehrerin. 1968 heiratet sie den ein Jahr älteren Wolfgang Schäuble, der wenige Jahre später für die CDU in den Bundestag einzieht und von dort zu einem der mächtigsten Politiker Deutschlands aufsteigt. Sie bekommen drei Töchter und einen Sohn, die im Haus der Familie in Gengenbach im Schwarzwald aufwachsen. Inzwischen wohnt das Paar – die Kinder sind erwachsen – in Berlin, wohin Schäuble auch ihre 98 Jahre alte Mutter geholt hat. LÖW

Ingeborg Schäuble steht seit zwölf Jahre der deutschen Welthungerhilfe vor. Nun ist genug, findet sie. Ein Gespräch über Arbeit, Familie, Bonn und Berlin, Galas sowie den Mann an ihrer Seite, Wolfgang

INTERVIEW GEORG LÖWISCH FOTOS BERND HARTUNG

taz.mag: Frau Schäuble, Sie haben in Ihrem Leben vieles gemacht. Nun beenden Sie nach zwölf Jahren ihre Tätigkeit als Vorstandsvorsitzende der Welthungerhilfe. Was wollten Sie werden, als Sie jung waren?

Ingeborg Schäuble: Eigentlich Ärztin. Als Schülerin in der Oberstufe habe ich ein Jahr lang ehrenamtlich am Sonntagmorgen in der Freiburger Kinderklinik gearbeitet und bin dort von den Schwestern sehr bestärkt worden.

Warum wurde nichts draus?

Meinem Vater dauerte das Studium zu lange. Er war Lehrer und hätte es am besten gefunden, wenn ich auch Lehrerin geworden wäre. Am Ende habe ich in Freiburg dann Volkswirtschaft studiert und wollte anschließend im Marketing eines großen Unternehmens arbeiten.

Bis 1967 Wolfgang Schäuble kam und Sie Hausfrau wurden?

Nein, am Anfang hatte jeder seinen Beruf. Ich habe Marktforschung bei Gödecke, einer Arzneimittelfirma, gemacht, mein Mann sein Referendariat. Wir haben uns die Hausarbeit geteilt und auch gemeinsam gekocht, obwohl er von zu Hause aus ganz schön verwöhnt war, denn er hatte eine perfekte schwäbische Mutter. Ein paar Rezepte hatte er drauf, zum Beispiel Linsen mit Spätzle.

War Ihr Mann damals schon Politiker?

Er war politisch ziemlich aktiv, in der Jungen Union. Aber ich hatte ihn fast so weit, dass er die Politik aufgeben wollte.

Warum wollten Sie das?

Mich störten vor allem die vielen und endlosen Sitzungen, insbesondere an Wochenenden, an denen ich lieber etwas gemeinsam unternommen hätte.

Sie haben sich nicht durchgesetzt.

Nein. Und ich werde es nie vergessen: Eines Abends riefen die Vertreter der Jungen Union aus Offenburg an, die einen eigenen Kandidaten für die Bundestagswahl 1972 suchten und meinen Mann fragten, ob er kandidieren würde. Ich war dagegen, er dafür. Er musste sich innerhalb einer Stunde entscheiden und wollte es versuchen, weil er, so sagte er mir, ohnehin keine Chance hätte.

Das war ein Anruf, der Ihr Leben verändert hat.

Ja, im Prinzip ging es so weiter. Abgeordneter, Fraktionsgeschäftsführer, Kanzleramtsminister und dann Innenminister. Für meinen Mann gab es keinen Grund, an diesem Weg etwas zu ändern.

Und Sie?

Ich wäre lieber mal ins Ausland gegangen.

Wie kam es, dass Sie trotzdem noch eine Ausbildung als Lehrerin absolvierten, als Ihr Mann schon Berufspolitiker war und Sie zwei Kinder hatten?

Mein Mann war von Montagabend bis Freitag in Bonn, ich war zu Hause mit den beiden Kindern. Daher wollte ich wieder arbeiten, und das Lehramt war eine ideale Lösung. Ich konnte halbtags arbeiten und hatte mit den Kindern gleichzeitig Ferien. Auch mein Mann hat mich dazu ermutigt.

Sie blieben nicht berufstätig?

Nachdem ich das Zweite Staatsexamen bestanden hatte, haben wir unser drittes Kind bekommen. Das war dann der Grund, weshalb ich meine Arbeit wieder aufgab.

War das schwer?

Nein, aber viele haben das nicht verstanden, weil ich doch so viel Energie in dieses Projekt gesteckt hatte, und ich auch die Chance hatte, verbeamtet zu werden. Ich habe das aber leichten Herzens aufgegeben, weil ich gemerkt hatte, dass alles zu kurz kommt: meine Arbeit, meine Kinder und ich auch.

Kämen Sie heutzutage besser klar mit all den Betreuungsangeboten?

Natürlich, aber ich sehe auch, dass viele Eltern große Schwierigkeiten haben, ihre Kinder so unterzubringen, dass sie ruhigen Gewissens ihrer Arbeit nachgehen können.

Haben Sie den Eindruck, dass sich viele Paare heute zerreißen?

Ich sehe schon die Gefahr. Aber andererseits sind die Frauen heute auch mehr darauf angewiesen zu arbeiten. Ehen gehen häufiger auseinander, und Arbeitsplätze sind nicht mehr sicher, eben auch nicht die der Väter. Früher waren wir der Meinung, dass ein Kleinkind am besten in der Familie aufwächst, wo man Werte, das Zusammenleben lernt und Geborgenheit erfährt. Das können heute viele Eltern nicht mehr leisten.

Und deshalb sind Sie für mehr Betreuung außerhalb der Familie?

Ja, und der Staat muss das auch verstärkt anbieten. Noch haben wir keine guten Voraussetzungen. Es fehlt noch das Personal, das auch ausreichend geschult ist. Im Prinzip fände ich es besser, wenn Mütter oder Väter zwei Jahre zu Hause bleiben könnten und sie sich dann wieder für den Berufseinstieg qualifizieren könnten. Denn für viele ist das die kritische Frage.

Eine ganze Menge Eltern arbeiten und können das mit der Kinderbetreuung vereinbaren.

Wenn die Eltern das Problem lösen können, ist das prima. Ich sehe nur, dass manche Mütter ganz schön gestresst sind, wenn sie eine anspruchsvolle Position nicht aufgeben wollen.

Weil diese Jahre auch für den beruflichen Weg entscheidend sind?

Ja. Vielfach wird argumentiert, dass sich in zwei Jahren so viel verändert, dass man das gar nicht nachholen kann. Das halte ich jedoch für ein vorgeschobenes Argument, insbesondere auch der Unternehmen.

Aber Sie sagen doch selbst, dass gerade eine Frau viel riskiert, wenn sie zu lange aussteigt. Was sollen denn junge Eltern Ihrer Meinung nach tun?

Sie müssen da durch und für sich selbst eine Lösung finden, die allen gerecht wird, aber insbesondere den Kindern. Vielleicht gibt es eine Oma, vielleicht Heimarbeit. Als ältere Person kann ich auch sagen: Das Leben findet nicht nur zwischen zwanzig und dreißig statt, es dauert viel länger, und es muss auch später nicht langweilig sein. Außerdem kann man immer wieder etwas Neues wagen. Ich habe mit über fünfzig Jahren bei der Welthungerhilfe noch etwas völlig Neues angefangen.

Sind Sie nicht trotzdem sauer auf Ihren Mann, dass hauptsächlich Sie an Ihr Zuhause gebunden waren?

Natürlich gab es in meinem Leben auch Frustrationen, ich hätte mich auch gerne im Beruf bewährt. Aber ich habe mich ganz bewusst dafür entschieden, zu Hause zu bleiben. Da zu sein, wenn die Kinder von der Schule heimkommen, sozusagen der ruhige und verlässliche Pol in unserer Familie zu sein.

Die Familie hatte für Sie immer Vorrang?

Ich stamme aus einer großen Familie, die immer sehr eng zusammengehalten und sich geholfen hat. Das hat mich sehr geprägt und bestimmt auch heute noch mein Verhalten.

War es nicht auch einfach so, dass Ihr Mann Karriere machte, weil das zu dieser Zeit für eine CDU-Familie so üblich war?

Schon, aber das war nicht nur in CDU-Familien so, sondern auch in vielen anderen. Es gab noch nicht mal im Lehrerberuf immer Halbtagsstellen, und Akademiker wurden nicht halbtags beschäftigt. Sonst hätte ich ja auch wieder gearbeitet.

Und im Wahlprospekt war dann die klassische Familie abgebildet?

Klar, das kann man auch ohne Sarkasmus nachvollziehen. Familie sagt etwas aus über den Menschen und auch über den Politiker. Ich habe mich sonst nicht für Politik engagiert.

Hat sich das nach dem Attentat auf Ihren Mann im Oktober 1990 geändert?

Durch dieses Attentat hat sich alles verändert. „Wir sind auf einen Schlag siebzig geworden“, habe ich damals immer gesagt. Nichts war mehr sicher. Zum Beispiel, ob die Lähmung nicht weiter aufsteigt und dadurch die Hände in Mitleidenschaft gezogen würden, auch andere Komplikationen waren möglich. In dieser Zeit war es wichtig, dass mein Mann die Chance hatte, wieder seine Arbeit aufnehmen zu können.

Fanden Sie diese Art der Rehabilitation gut?

Ich war eher für die Suche nach Heilung, aber obwohl es in mancher Hinsicht wünschenswert gewesen wäre, war das eine klügere Entscheidung: Rehabilitation über die Arbeit. Und dabei haben ihn viele unterstützt, wie zum Beispiel der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Und ich tue das auch, so gut ich kann.

Damals ist ein Foto aufgenommen worden. Ihr Mann sitzt im Garten in einem Liegestuhl und Sie im Rollstuhl. Was sollte das Bild sagen?

Es war keine Absicht, aber natürlich sagt das Bild etwas aus: Auch ich bin behindert, denn vieles können wir nicht mehr gemeinsam unternehmen. Und so ist auch mein Aktionsradius kleiner geworden.

Sie haben damals festgestellt: Unser Leben ist nicht mehr planbar.

Ich habe damals gesagt, dass wir nicht mehr langfristig planen, weil wir gesehen haben, dass sich das Leben ganz schnell ändern kann.

Wir groß war dieser Verlust, nicht mehr planen zu können?

Am Anfang gab es eine Menge Schwierigkeiten. Da mein Mann schon bald in sein Amt zurückkehrte, war das alles nur mit einem guten Team möglich: angefangen von der Familie, den Kindern, Freunden, Fahrern, Sekretärinnen und den Polizeibeamten. Er hat ein tolles Umfeld, bis heute.

Wie kam es, dass Sie mit 53 Jahren eine Aufgabe als Welthungerhilfevorsitzende übernommen haben?

Der Anstoß kam von Vertretern der katholischen Kirche, genauer gesagt von Justitia et Pax, einer Institution, die sich auch mit entwicklungspolitischen Fragen auseinandersetzt und Prominente in Entwicklungsländer entsendet, die für eine oder zwei Wochen das Leben bei den Armen kennenlernen wollen. Dieses Exposure-Programme wollte ich mitmachen, wurde dann allerdings krank. Und dabei erfuhr ich auch von der Suche der Welthungerhilfe nach einer neuen Vorsitzenden.

Da waren Ihre Kinder erwachsen?

Drei waren aus dem Haus, und unsere Jüngste ziemlich flügge.

War es Ihnen unangenehm, eine Aufgabe nur wegen der Prominenz Ihres Mannes zu bekommen?

Eine Spendenorganisation tut gut darin, sich Repräsentanten zu suchen, die bekannt und vor allem vertrauenswürdig sind. Mein Mann war beides, und ich konnte auch einiges einbringen.

War es Ihnen wichtig, dass nicht nur Ihr Name von Bedeutung ist?

Es ging nicht nur darum, die Welthungerhilfe zu repräsentieren. Die Vorstandsvorsitzende und der gesamte Vorstand hatten außerdem eine Menge Aufgaben und Verantwortung zu tragen. In der Auslandsarbeit habe ich fast jedes Projekt genehmigt, und wir waren verantwortlich und haftbar für die Geschäftsführung, immerhin rund 130 Millionen Euro pro Jahr.

Es hat Sie nicht gestört, dass Ihr zweiter Vorname überall „Frau von Wolfgang“ war?

Bei meinen Besuchen in Redaktionen, bei Städten und Unternehmen habe ich oft festgestellt, dass mein Mann schon vorher da gewesen war. Aber das hat natürlich auch viele Türen geöffnet.

Kamen zu Ihnen Leute, die eigentlich von Ihrem Mann etwas wollten?

Manchmal schrieben mir Mitbürger von ihren Problemen, und ich sollte die Briefe weiterleiten. Aber ein lustiges Beispiel gibt es doch: Bei meiner Reise nach Nordkorea, wo wir über unsere zukünftige Arbeit verhandelt haben, sahen die nordkoreanischen Partner mehr die Frau des Politikers Wolfgang Schäuble – sie kannten sein Buch über die Wiedervereinigung Deutschlands, das ins Koreanische übersetzt worden war, und wollten mit mir über eine Zusammenarbeit sprechen, obwohl ich mehrfach erklärte, dass ich nur die Vorsitzende der Welthungerhilfe bin.

Wie reagierten Sie?

Ich besprach das Problem mit dem mitreisenden Vertreter des Auswärtigen Amtes in der Hotellobby. Plötzlich bemerkte ich, dass, während wir unsere Runden in der Lobby drehten, sich uns ein Nordkoreaner anschloss und im gleichen Takt ging und wendete wie wir – auf diese Weise hörte man uns ab.

Wie wurden Sie wahrgenommen, nachdem Sie eine Weile Vorsitzende der Welthungerhilfe waren?

Es hieß dann öfter mal in Talkshows: „Jetzt ist sie aus dem Schatten ihres Mannes getreten.“ Aber ich hatte, ehrlich gesagt, nie in einer Schattenwelt gelebt, auch hatte ich nie das Gefühl, dass ich vorher ein konturloser Mensch gewesen war. Aber immerhin wurde ich mehr und mehr als Vorstandsvorsitzende der Welthungerhilfe wahrgenommen.

Spenden werden auch über Galas gesammelt und auf Empfängen. Ist das Ihr Ding?

Galas sind nicht unbedingt meine Welt. Wir hatten allerdings über viele Jahre eine Fernsehgala mit Dieter Thomas Heck, die sehr erfolgreich war. Nach dem Rücktritt von Heck haben wir ein neues Format ausprobiert, eine Quizsendung über Hunger, Ernährung und Menschen in Entwicklungsländern. Sie hatte eine guten Start, und wir haben mehr als zwei Millionen Euro bekommen! Bei großen gesellschaftlichen Galas kommt es darauf an, wie viel Geld nach Abzug der Kosten für das Anliegen übrig bleibt. Und da bin ich oft sehr skeptisch.

Fühlen Sie sich überhaupt wohl auf Societypartys?

In Bonn, als es noch Sitz von Parlament und Regierung war, habe ich sie selten wahrgenommen, schon weil ich vier Kinder zu Hause hatte, die ja nicht so ganz einfach zu bändigen waren.

Seit einiger Zeit wohnen Sie in Berlin. Gehören Sie denn hier zur Gesellschaft?

Nein, aber hier in Berlin ist es natürlich viel spannender als in Bonn, wo alles schon so festgefahren war. Nach Berlin kamen viele und mussten sich neu orientieren. Wir gehen hier in Berlin gern ins Theater, nutzen die Opernszene und besuchen vor allem die Philharmonie.

Hat die Arbeit in der Welthungerhilfe Sie traurig gemacht?

Manchmal schon. Die Sichtweise verändert sich, man lebt bewusster und wird feinfühliger. Und ich sehe auch die negativen Kehrseiten unseres Lebensstils viel klarer. Manchmal, insbesondere wenn ich aus sehr armen Ländern zurückkomme, nervt mich gelegentlich die konsumselige Fröhlichkeit, das „Wir leben heute“-Gefühl vieler. Ich bin aber, das muss ich sagen, kein Asket.

Trotzdem müssen Sie diese Menschen um Spenden bitten.

Warum nicht? Wir versuchen dabei, die Erfolgsgeschichten unserer Arbeit hier in Deutschland darzustellen. Denn negative Nachrichten gibt es genug. Wir wollen aus armen und an Hunger leidenden Menschen keine Almosenempfänger machen, sondern sie als Partner darstellen, denen wir Hilfe zur Selbsthilfe leisten, und das nachhaltig.

Dürfen wir dies als Ihre wichtigste Botschaft nehmen?

Ja. Wir können Hunger und Armut erfolgreich bekämpfen, wenn wir den politischen Willen haben und gemeinsam mit den Betroffenen selbst und mit den Regierungen ernsthaft dieses große Problem angehen.

Geht es nicht zunächst darum, die fröhlichen Reichen nicht so direkt mit Elend zu konfrontieren, weil sie dann nichts geben?

Früher hat man in der Öffentlichkeitsarbeit auch Kinder mit Hungerbäuchen gezeigt, um die Menschen wachzurütteln. Das versucht man heute zu vermeiden, weil es den Kindern, den Menschen die Würde nimmt, die sie auch in großer Not besitzen. Heute steht im Vordergrund zu sagen, was wir gemeinsam erreichen können, wenn sie selbst ihren Beitrag leisten.

Warum hören Sie als Vorsitzende der Welthungerhilfe auf?

Zwölf Jahre sind eine lange Zeit, und jetzt erscheint mir die Gelegenheit günstig, mein Amt abzugeben, zumal wir gerade eine neue Organisationsstruktur beschlossen haben. In Zukunft wird der Vorstand hauptamtlich sein, und ein ehrenamtliches Präsidium wird die strategischen Richtlinien bestimmen und kontrollieren. Das entspricht der gewachsenen Größe und Bedeutung der Welthungerhilfe. Und da finde ich es gut, wenn auch die Spitze wechselt.

Und Sie? Was ist gut für Sie?

Ich werde mehr Zeit für mich haben, für meine Familie, meine 98-jährige Mutter, für Berlin und seine Umgebung.

Ihr Mann bleibt in der Politik, er will im kommenden Jahr zum elften Mal in den Bundestag gewählt werden. Sitzen Sie dann zu Hause wie früher?

Das glaube ich nicht. Hier in Berlin können wir wenigstens schon mal morgens gemeinsam frühstücken.

Frau Schäuble, wer oder was hat Ihr Leben denn am meisten bestimmt? Sie? Ihr Mann? Ihre Eltern? Das Schicksal?

Das ist nun wirklich nicht so einfach zu beantworten. Ich war naturgemäß manchmal das schwächste Glied, weil ich häufig Rücksicht auf alle genommen habe. Ich kann Sie aber beruhigen: Ich habe zwar nicht immer meine Vorstellungen durchsetzen können, zumindest nicht die beruflichen, aber das Leben war dennoch nicht langweilig.

Sie haben nicht zu wenig sich selbst bestimmt?

Manchmal habe ich mir überlegt, was aus mir hätte werden können, wenn ich immer berufstätig gewesen wäre.

Und?

Aber trotz allem bin ich zufrieden: Meine Kinder haben ihren Weg gefunden, wir haben schon zwei Enkel, und in der Welthungerhilfe haben wir die Weichen für morgen gestellt. Und deshalb bin ich glücklich.

GEORG LÖWISCH, Jahrgang 1974, ist Reporter im Inlandsressort der taz. Vor genau einem Jahr erschien von ihm im taz.mag ein Porträt über Wolfgang Schäuble BERND HARTUNG, Jahrgang 1967, ist freier Fotograf und lebt in Berlin