Darwin ist Antigesetz

Darwin wurde am 12. Februar 1809 als fünftes von sechs Geschwistern in eine recht wohlhabende Arztfamilie hineingeboren. Die Mutter starb, als er acht war. Der Vater wollte einen Arzt aus Charles machen, der Junge zeigte Interesse an Chemie. Das Medizinstudium allerdings konnte Charles nicht recht begeistern, er sattelte auf Theologie um, langweilte sich auch hier und schloss dann doch als einer der Besten seines Jahrgangs ab.

1831 begleitete Darwin Kapitän FitzRoy auf seiner Weltumseglung auf der HMS „Beagle“, eine Reise, die seinen gesamten Werdegang bestimmen sollte: Der Kapitän hatte sich einen naturkundlich interessierten Gesprächspartner zu seiner Begleitung auserbeten. 1835, nach knapp vier Jahren Expeditionsreise, landete Darwin auf den Galapagosinseln. Dort sammelte er neben vielen anderen Exponaten auch die Riesenschildkröte „Harriet“ ein, die bis 2006 in einem australischen Zoo lebte. Wissenschaftlich waren Darwin zu diesem Zeitpunkt die Schildkröten ebenso wie die Galapagosfinken noch ziemlich gleichgültig.

Schon 1837 arbeitete John Gould an einer These über die Veränderlichkeit der Arten; er leitete sie anhand der Galapagosfinken ab, die heute Darwinfinken heißen. Darwin begann gerade erst, Informationen über das Thema zu sammeln und Notizen anzulegen. Auch mehrere andere Forscher arbeiteten an dem Stoff. 1859 erschien „On the Origin of Species“, Darwin hatte sich Zeit gelassen und sich dennoch durchgesetzt. Als einer der wichtigsten Naturwissenschaftler der Welt verstarb Darwin 1882, die Riesenschildkröte „Harriet“ überlebte ihn um 124 Jahre. ALA

Im Darwinjahr kommen Wissenschaftler zu neuen Erkenntnissen der biologischen Evolutionstheorie. Die große Überraschung: Die sexuelle Selektion hat mit Natur nicht viel zu tun. Charles Darwin schrieb eigentlich Kulturgeschichte. Ein Essay

VON CORD RIECHELMANN

Wenn die großen, starken Hirsche im September ihre tiefkehligen, röhrenden Brunftlaute in den Wald stoßen, beginnt eine Periode ihres Lebens, die sich bei Menschen besonderer Aufmerksamkeit erfreut. Die Hirsche besetzten bestimmte Plätze, sie werden territorial und besonders aufmerksam für Konkurrenten in der Nähe. Sollte sich ein anderer Hirsch mit ähnlich prächtigem Geweih in seine Nähe wagen, werden die Platzhirsche noch nervöser, als sie ohnehin schon sind. Dann röhren sie sich eine Zeit lang gegenseitig an, bis sie mit ein paar Meter Abstand nebeneinander herlaufen und gegenseitig genauestens den Zustand der Brust- und Nackenmuskulatur begutachten. Zu Kämpfen kommt es nur, wenn sie dabei zu dem Schluss kommen, zumindest gleich stark zu sein, sonst ziehen sie sich zurück.

Der Hirsch, der auf dem Platz bleibt, gilt als der Sieger und in der allgemeinen Vorstellung auch als der Stärkste und Beste. Dadurch sichert er sich einen privilegierten Zugang zum anderen Geschlecht. Denn während die Hirsche röhrend ihre Kräfte messen, werden sie die ganze Zeit von vielen paarungsbereiten Weibchen beobachtet. Und die, so will es die darwinistische Vorstellung von der sexuellen Selektion, paaren sich am liebsten mit dem stärksten Platzhirsch. Das tun sie dann auch sehr zahlreich und ohne untereinander in eifersüchtige Streitereien zu verfallen. So bringt es dann der stärkste Hirsch zu den meisten Nachkommen, und weil er als der stärkste Hirsch auch die besten Gene hat, ist das auch zum Besten der Hirsche insgesamt.

Dass es aber auch noch viele andere Hirsche gibt, die, weil sie zu schwach oder einfach noch zu jung sind, nicht röhren und trotzdem nach den Weibchen schauen oder auch sich untereinander miteinander beschäftigen, ist zwar zunehmend in den Blick der wissenschaftlichen Hirschforschung geraten, im allgemeinen Verständnis der Biologie bleibt aber alles Verhalten, das sich außerhalb des messbaren Reproduktionserfolgs, also der zählbaren Nachkommen, bewegt, merkwürdig unterbelichtet.

Verhalten im Sinne Darwins spielt sich zwischen Weibchen und Männchen ab, hat die Nachkommenerzeugung zum Zweck und macht besonders in der medialen Verarbeitung dann Sinn, wenn es sich zur menschlichen Familie in Beziehung setzen lässt. Das muss nicht immer die bürgerliche Kleinfamilie sein, das kann auch das promiske Verhalten von besonders erfolgreichen Männern wie Pop-, Filmstars oder auch VW-Managern sein. Es muss sich nur um einen starken, kräftigen Mann handeln, der dann zum Objekt der Begierde der Frauen wird. Das hat bis in unsere Tage wiederum die filmische Darstellung von Hirschen im Fernsehen bestimmt.

Vom heterosexuellen Verhalten abweichende Erscheinungen wurden bis in die Siebzigerjahre von Tierfilmern und Verhaltensforschern überhaupt nicht wahrgenommen, und als sich die Befunde nicht mehr leugnen ließen, wurden sie aus Filmmaterial und wissenschaftlichen Veröffentlichungen wieder herausgenommen. Das scheint sich aber allmählich zu ändern.

Foucault stammt von Darwin ab“, hat nämlich der Historiker Philipp Sarasin auf den Rücken seines gerade erschienenen Buches „Darwin und Foucault. Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie“ geschrieben. Sarasin, der in Zürich lehrt, bricht damit nicht nur im Darwinjahr fachfremd in die Feierlichkeiten um den Begründer der biologischen Evolutionstheorie ein, er lässt in dieser Formel auch schon die Unterscheidung von Kultur und Natur ins Schwimmen geraten.

Biologisch kann der französische Philosoph Michel Foucault (1926 bis 1984) nicht von dem englischen Naturforscher Charles Darwin (1809–1882) abstammen. Sie stehen in keinerlei erbbiologisch nachweisbarer Verbindung. Die kulturelle Verwandtschaft zwischen dem Theoretiker von Sexualität und Wahrheit, der ein besonderes Interesse an sexuellen Anomalien wie Hermaphroditismus hatte und selbst homosexuell war, und dem englischen Bohnenzähler, der in seinem Garten um sein Haus in Downe in der Grafschaft Kent alle möglichen Pflanzen züchtete und kreuzte und mit seiner Frau Emma zehn Kinder zeugte, ist aber auf den ersten Blick auch nicht gerade nahe liegend. Was Sarasin dann aber in seiner vergleichenden Lektüre von Darwin und Foucault an Gemeinsamkeiten in den theoretischen Entwürfen der beiden ans Licht bringt, ist so verblüffend wie einleuchtend. Foucault und Darwin geht es darum, das Studium des Körpers zuerst einmal aus den metaphysischen Fesseln zu befreien. „Metaphysik studieren, wie sie immer studiert worden ist, kommt mir vor, als wollte man sich den Kopf zerbrechen über Astronomie ohne Mechanik. Erfahrung zeigt, dass das Problem des Bewusstseins nicht gelöst werden kann, indem man die Festung selber angreift. Bewusstsein ist eine Körperfunktion“, schreibt Darwin im Dezember 1856 in sein Notizheft. Drei Jahre vor dem Erscheinen seines Hauptwerkes über die „Entstehung der Arten“ sammelt er darin seine Gedanken und Argumente. In vielen Punkten formuliert er im privaten Notizbuch deutlicher, gegen wen und was sich seine Theorie von der dauernden Veränderung der Arten richtet, als im später veröffentlichten Hauptwerk.

Die Zoologie selbst sei heutzutage rein theologisch, heißt es etwa. Unter Theologie versteht Darwin unter anderem, dass man jede einzelne beobachtete Tatsache mit einem Gesetz in Verbindung bringt. In der Verbindung einer Erscheinung, wie zum Beispiel der des Donners, mit einem Gesetz, etwa dem Willen Gottes, sieht Darwin einen Akt der Gewohnheit, der nicht unbedingt zur Aufklärung des tatsächlichen Sachverhalts beiträgt. Man kann sagen, dass sich Darwin in der Zeit der Formulierung seiner Theorie der Entstehung der Arten auch gegen bestehende Gesetze wendet. Er ist Antigesetz.

Das ist natürlich heute, in einer Zeit, in der die Evolutionstheorie von vielen ihrer Verfechter wie ein Naturgesetz verkauft wird, schwer nachvollziehbar. Und doch hat es einige Evidenz, worauf auch Darwin selbst hinweist. In der „Entstehung der Arten“ kommentiert er sein sich verzweigendes Liniengestrüpp, mit dem er in einem Diagramm den Evolutionsprozess veranschaulichen will, folgendermaßen: „Doch muss ich hier bemerken, dass ich nicht der Meinung bin, dass der Prozess jemals so regelmäßig und beständig vor sich gehe, wie er im Schema dargestellt ist, obwohl er auch da schon etwas unregelmäßig scheint.“ Das heißt: Der von Darwin in wirr sich verzweigenden Linien gezeichnete Evolutionsverlauf ist ihm in der Darstellung noch viel zu regelmäßig. Die Wege der Natur im Prozess der Evolution sind demnach wesentlich weniger geregelt als der menschliche Verkehr in Städten und Dörfern.

Die Evolutionstheorie ist keine Straßenverkehrsordnung, sie beschreibt kein Naturgesetz im Sinne der physikalischen Beobachtung, dass Äpfel, wenn sie vom Baum fallen, immer von oben nach unten fallen. Das in philologischer Genauigkeit gezeigt zu haben, ist das Verdienst von Julia Voss. In „Charles Darwin zur Einführung“ kann die Wissenschaftshistorikerin klar belegen, dass Darwin nicht einmal den Mechanismus der natürlichen Selektion, der den zufälligen Hervorbringungen der Lebewesen die Richtung der Anpassung an die Lebensverhältnisse gibt, als Naturgesetz verstanden wissen wollte. Darwins Theorie des struggle for life, der im deutschen gewöhnlich mit „Kampf ums Dasein“ wiedergegeben wird, übersetzt sie dem Original getreuer als „Ringen ums Dasein“.

Mit Voss’ Darwin-Einführung und Sarasins Darwin-Foucault-Lektüre hat man auch die Grundlagen, um in eine neue, nicht normative Lektüre eines der heikelsten Themen der Darwin’-schen Theorie einzusteigen: in die sogenannte sexuelle Selektion. Darwin hat mit dem Terminus der sexuellen Selektion die Beobachtung beschrieben, dass bei zweigeschlechtlichen Lebewesen, die sich wie Menschen und Tiere bewegen können, die Chancen, von einem Partner gewählt zu werden, nicht gleich verteilt sind. Dabei trennt Darwin in gewisser Weise die sexuelle Selektion von seinem Begriff der natürlichen Selektion. Für die natürliche Selektion spielt alles eine Rolle, was über Leben und Tod der Lebewesen entscheiden kann. Das sind Klimaverhältnisse, räumliche Gegebenheiten ebenso wie Fressfeinde oder Unfälle. Wichtig ist dabei, dass die Faktoren der natürlichen Selektion den Organismen immer äußerlich sind. Dem Wetter, dem Nahrungsangebot oder den Feinden steht der Organismus gegenüber. Zur Anpassung zwingen die äußeren Faktoren die Organismen über die Drohung, bei Nichtanpassung nicht weiterleben zu können.

Die Anpassung der Organismen, die die natürliche Selektion erzwingt, steht also immer in einem Verhältnis zur Nützlichkeit. Was man von den Begünstigungen der sexuellen Selektion nicht sagen kann. Die langen Schwanzfedern von Fasanen- und Pfauenhähnen behindern ihre Beweglichkeit, und ihre bunt schillernden Federn machen sie unübersehbar. Für Feinde wie Füchse oder Greifvögel ist das ein gefundenes Fressen. Die Schwanzfedern, die wegen ihrer Länge auch noch besonders tief im Körper verankert sind, lassen sich vom Fuchs leicht greifen und mit der Schnauze festhalten. Adler freuen sich, wenn sie einen Fasanen sehen und wegen dessen Unbeweglichkeit ohne größere Schwierigkeiten auch greifen können. Nützlich scheinen die Schmuckfedern der Hähne also auf den ersten Blick nicht zu sein. Im Gegenteil: Wir befinden uns hier, um ein Zitat von Walter Benjamin leicht abzuwandeln, am Umschlagplatz zwischen Lust und Leiche.

Warum also tragen Pfauen und Fasanen Kleider, die sie eher behindern als „fitter“ machen? Und, was für Darwin wichtiger ist, woher kommen die Federn überhaupt? Hat sie jemand gemalt, oder wollten die Hähne sie sogar, um bei den Hennen besser Eindruck schinden zu können? Um die letzte Frage zuerst zu beantworten: Nein, natürlich hat sie niemand gewollt und gemalt auch nicht. Die langen, bunten Federn sind einzig deshalb in der Welt, weil sie gewählt worden sind, und gewählt haben sie die Weibchen. Für Darwin steht es außer Frage, dass es die Weibchen sind, die wählen in dem geschlechtlichen Prozess der Partnerfindung, der die offensichtlichen Übertreibungen am Körper vieler männlicher Tiere hervorbringt. Es ist ihr Vermögen der Wahl, das im Laufe der Generationen eine mickrige Stange auf dem Kopf eines Hirsches sich zu einem imposanten Geweih auswachsen lässt, mit dem der Hirsch dann nicht mehr so schnell vor Wölfen durchs Unterholz fliehen kann.

Adrian Desmond, James Moore, Janet Browne: „Charles Darwin – kurz und bündig“. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, 172 Seiten, 9,95 Euro. Mit 172 Seiten bietet die Abhandlung im Handtaschenformat eine informative Einführung für all jene, die dem Darwinjahr informiert gegenübertreten wollen. Ernst Peter Fischer: „Das große Buch der Evolution“. Fackelträger Verlag, Köln, 416 Seiten, 39,95 Euro. In diesem großformatigen, schön gestalteten Werk stellt Ernst Peter Fischer Darwin durch Zitate anderer Forscher und Literaturverweise in einen Bezug zum Heute; viele Fotos und Grafiken ergänzen das Werk optisch. Philipp Sarasin: „Darwin und Foucault. Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 456 Seiten, 24,80 Euro. Philipp Sarasin, ein Züricher Historiker, hat erstaunliche Analogien im Denken der zwei wichtigen Theoretiker herausgearbeitet, die sich beide als Genealogen verstehen.

Neil Shubin: „Der Fisch in uns. Eine Reise durch die 3,5 Milliarden Jahre alte Geschichte unseres Körpers“. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 282 Seiten, 19,90 Euro. Nicht über Darwin, sondern auf der von Darwin ausgelösten Debatte aufbauend berichtet Neil Shubin. Anhand eigener Forschungsergebnisse schildert der Autor, wo die menschliche DNA noch Spuren der Evolution erkennen lässt. Volker Mosbrugger: „Die ungeheure Verschiedenartigkeit der Pflanzen und Tiere. Darwin für Kinder und Erwachsene“. Illustriert von Hans Traxler. Insel Verlag, Frankfurt am Main, 115 Seiten, 14,80 Euro. Darwin als einen Menschen, den auch Kinder begreifen können, stellt dieses Buch vor: Herr Darwin hat gerne Käfer gesammelt und mit seiner Forschungsreise um die ganze Welt ein großes Abenteuer erlebt. Der Autor, Leiter des renommierten Naturkundemuseums Senckenberg, überlässt dabei Darwin selbst das Wort, Hans Traxler begleitet illustrierend. ALA

Weil die Weibchen dabei nicht nach der Nützlichkeit entscheiden, sondern nach der Auffälligkeit, spricht Darwin von einem Sinn für Ästhetik bei den wählenden Tieren. Man muss hier aber strikt von unserem Sinn für Ästhetik unterscheiden. Jedes Tier, jedes Lebewesen entwickelt dabei seine eigenen Kategorien. Dass uns die Federn eines Pfauenrads ebenfalls als schön erscheinen, ist dabei genauso dem Zufall geschuldet wie die Entstehung der ersten bunten Federn bei einem Vogel. Schon die nackten Hautschwellungen im anal-genitalen Bereich von Pavian- oder Schimpansenweibchen, mit denen diese ihre sexuelle Bereitschaft in den fruchtbaren Tagen um den Eisprung anzeigen, wird von Menschen in der Regel überhaupt nicht mehr als schön empfunden.

Sinn für Ästhetik ist bei Darwin eine individuelle Kategorie, die sich nur in der jeweils getroffenen Wahl des beobachteten Tieres zeigt. Das heißt aber nicht, dass sich nicht bestimmte Vorlieben über eine Population verbreiten können und so, über Generationen verfestigt, so etwas wie eine Wahlregel etablieren. Darwin findet sie selbst beim Menschen. Unsere Haarlosigkeit sieht er als ein Produkt genau jenes Vermögens der Wahl, das er bei den Pfauenhennen fand.

Mit Blick auf unsere nächsten Verwandten, die schon erwähnten Affen, bekommt die Haarlosigkeit von Menschen einen leicht unangenehmen Beigeschmack. Die haarlosen Partien, die auf den Körpern von sonst behaarten Affen an wenigen Stellen zum sexuellen Attraktionsmerkmal geworden sind, haben sich bei uns fast über den ganzen Körper ausgedehnt. Über Generationen hat unsere Bevorzugung nackter Hautpartien durch sexuelle Selektion den ganzen Menschen nackt gemacht. Unser Nacktsein wäre demnach das menschliche Pendant zum Pfauenrad oder zum Hirschgeweih. Aber unabhängig davon, ob einem das nun gefällt oder nicht, steckt in dieser Sicht Darwins, die er in seinem zweiten Hauptwerk, der 1871 erschienenen Abhandlung über „Die Abstammung des Menschen“, entwickelt, eine Sicht des Körpers, die die oben zitierte Stelle vom Bewusstsein als Körperfunktion illustriert.

Wenn es der Sinn für Ästhetik ist und nicht der Sinn für Nützlichkeit, der die wählenden Individuen bei der Partnerwahl leitet, dann gibt es einen Vorrang des „Geistes“ vor der Materie. Die Geschichte der Körper wird so bei Darwin auch zur Kulturgeschichte. In der sexuellen Selektion dominiert „mind over matter“ wie der Literaturwissenschaftler Winfried Menninghaus in seiner Studie zum „Versprechen der Schönheit“ (2007) gezeigt hat. Menninghaus zeichnet dabei aber nicht nur in einer genauen Lektüre Darwins die Überlagerungen von Kultur und Natur in Darwins Konzeption der Geschichte der Körper nach, er legt auch das unausgesprochene Ideologem der sexuellen Selektion frei: Wenn sich nämlich die sexuellen Ornamente und ihre Träger wie auch ihre Bewerter über die Nachkommen in der Population ausbreiten können, dann liegt darin immer auch die Möglichkeit, dass das als schön Empfundene in „irgendeiner Weise zugleich ‚gut‘ sei“. Und genau das ist in der aktuellen Evolutionsbiologie auch geschehen. Das Handikap der langen Federn wird als Qualitätsmerkmal interpretiert. Der Pfau sagt damit, schaut her, ich hab so gute Gene, dass ich mir selbst solche Federn leisten kann, die schwächere Kollegen reihenweise im Fuchsmagen enden lassen. Oder besonders ebenmäßige, symmetrische Gesichtszüge bei Menschen werden mit herausragender Gesundheit und Fruchtbarkeit der Träger assoziiert. Bei Darwin aber findet sich noch nichts dergleichen. Die Wahl ist bei ihm nur eine Wahl, und ein Merkmal breitet sich in der Population dann aus, wenn viele Individuen ein ähnliches Merkmal wählen und Nachkommen zur Welt bringen.

Mit Stärke oder Gesundheit sind diese Merkmale bei Darwin nicht konnotiert. Und wenn man sich an seine Bemerkung über die Plan- und Regellosigkeit des Evolutionsprozesses erinnert, dann kann man aus seinen Gedanken nicht einmal schließen, dass Weibchen immer Männchen wählen müssen oder umgekehrt. Möglich bleibt alles, was sich zur Wahl anbietet. Und die Wahl trifft ein Individuum, keine Art, keine Rasse und auch kein Naturgesetz. In Darwins Konzeption kennt das Vermögen zur Wahl im sexuellen Geschehen keine normativen Vorgaben wie das Gute oder Gesunde. Die Natur verfährt ungeregelter, freier in ihrem Evolutionsprozess, als es die Gesetze der menschlichen Gesellschaften tun. Einfach auch deshalb, weil die sexuelle Selektion kein Naturgesetz ist. Sie kann, muss aber nicht stattfinden.

Damit kann man auch verstehen, was Darwin für Michel Foucault so interessant machte: Aus der Evolution, wie Darwin sie dachte, lässt sich nichts anderes als eine dauernde Bewegung ableiten, kein Höher und auch kein Ziel. Entwickeln kann sich alles, und nichts bleibt, wie es ist. Das Sein der Lebewesen ist in ein Werden überführt worden, in dem Hermaphroditen genauso agieren wie Hirsche oder Pfauenhennen. Und ob sie gewählt werden oder nicht, hängt einzig vom „Geschmack“ der wählenden Individuen ab.

CORD RIECHELMANN, JAHRGANG 1960, ist Biologe und Autor von „Die Stimmen der Tiere“, Teile 1–3. Audio CDs, Kein & Aber Verlag 2007; jeweils 14,90 Euro Auf dem tazkongress vom 17. bis 19. April im Berliner Haus der Kulturen der Welt spricht Cord Riechelmann in einer Lecture zum 200. Darwinjahr zur Kritik am Naturalismus