„Sabbeln, saufen, singen“

Literaturpapst versenkt Deutschen Fernsehpreis: Für Marcel Reich-Ranicki ist die inzestuöse Branchen-Gala schlicht „Blödsinn“. Recht hat der Mann. Aber warum nimmt er den Ehrenpreis zuletzt doch an?

AUS KÖLN MARIKA DRESSELHAUS

Zunächst war es zum Einschlafen, doch dann schlug die Bombe ein: „Ich nehme diesen Preis nicht an!“, mit diesen schlichten, aber durchschlagenden Worten hat Marcel Reich-Ranicki bei der zehnten Verleihung des Deutschen Fernsehpreises im Kölner Coloneum deutlich gemacht, was von der 1999 gestarteten Jubelfeier der Branche mittlerweile zu halten ist. Nichts nämlich

Bis dahin war die dieses Jahr turnusmäßig vom ZDF ausgerichtete TV-Gala ohne nennenswerten Aufreger dahingeplätschert. Und so kündigte TV-Veteran Thomas Gottschalk, der bis dato mit altgedienter Souveränität durch die Show geführt hatte, den von den Chefs der fernsehpreisstiftenden Sender (ARD, ZDF, RTL, Sat.1) ausgelobten Ehrenpreis auch als besonderen Höhepunkt an. Doch der 88-jährige Literaturpapst, der infolge seines die TV-Landschaft nachhaltig prägenden Schaffens laut Gottschalk als „Gesamtausgabe“ für seine ZDF-Sendung „Das literarische Quartett“ geehrt werden sollte, lehnte den Preis mit ähnlich deutlichen Worten ab, wie er dort über Bücher gesprochen hatte: Mit der ihm eigenen, höflichen Bösartigkeit. „Ich möchte niemanden verletzen, aber ich finde es schlimm, was ich hier vier Stunden erleben musste. Ich habe nicht geahnt, was mich hier erwartet.“

Ein im Kapitänsdress auflaufender Atze Schröder zum Beispiel, der seine Laudatio zur „Besten Late-Night-Moderation“ mit den Worten, „Alle anderen haben die Hosen voll, aber bei mir ist das flüssig!“ einleitete. Worauf sich die in dieser Kategorie ausgezeichnete NDR-Moderatorin Ina Müller bedankte, dass sie glücklicherweise für das, was sie am besten könne, auch noch Geld verdiene: nämlich fürs „Sabbeln, Saufen und Singen“.

Dazu tanzte dann Ingolf Lück – visuell zweifelsohne ansprechend – im „Namen der Hose“ und im schlumpfblauen „Ganzkörperkondom“ vor Reich-Ranicki. Und „Deutschland sucht den Superstar“ wurde zur besten Unterhaltungsshow gekürt. Zum Weinen das.

„Herr Ranicki hat vor dem Hintergrund seines persönlichen Generationenverständnisses reagiert, bei dem Fernsehen und kulturelle Vermittlung früher eine ganz andere Rolle gespielt haben als heute“, kann Jurymitglied und ehemaligen Regierungssprecherin Miriam Meckel die Empörung des „Soll“-Preisträgers nachvollziehen. Auch ZDF-Intendant Markus Schächter, dessen Sender Reich-Ranickis Biografie vor exakt zwei Jahren zur großen Doku verfilmt hatte, schien etwas geahnt zu haben. Hatte er doch schon vorab gebeten, „bitte nicht so hart“ zu sein. Doch Reich-Ranicki nahm kein Blatt vor den Mund: Er habe viele schöne Fernsehabende, zum Beispiel bei Arte, verbracht. „Aber nicht diesen Blödsinn.“

Da hielten nicht nur 1.300 Kulturschaffende im Saal die Luft an. Auch Thomas Gottschalk war authentisch verstört. Und redete mit Engelszungen auf den Literaturpapst ein: „Sie dürfen alles, wenn sie ihn [den Ehrenpreis, die Red.] nehmen.“ Dass er das tatsächlich durfte, darüber schien sich Reich-Ranicki im Klaren. Einen unterhaltenderen wie geistreicheren Auftritt hätte er kaum „inszenieren“ können.

Das Ende vom Lied: Gottschalk bot eine einstündige Sendung an, in der er das Thema mit ihm diskutieren wolle. Die soll es laut ZDF auch wirklich geben, ein Sendeplatz werde bereits gesucht, hieß es gestern. Und der Literaturpapst, der seine TV-Karriere dem ZDF zu verdanken hat, nahm den Preis ganz am Ende aus Höflichkeit „symbolisch an“, und würdigte zuvor schon das Friedensangebot, indem er Gottschalk um den Hals fiel: „Ab heute sagen wir du!“

Verbeten hätte sich Reich-Ranicki derlei Intimitäten wohl mit Laudatoren wie den TV-Richtern Barbara Salesch und Alexander Hold (beide Sat.1), die ihre Kategorie „Beste Reality-Sendung“ unreflektiert mit dem Sprichwort „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut! anteasten und damit allen Ernstes die grassierenden „Selbsthilfe“-Formate meinten: Dort würde schließlich „echten Menschen mit echten Problemen, echte Hilfe“ geboten. Senta Berger sekundierte Reich-Ranicki dagegen als kritische Stimme und fragte sich, was wohl aus ihr geworden wäre, wenn sie in ihrer Jugend das heutige Nachmittagsprogramm hätte gucken können.

Dass auch überflüssige Preis-Galas etwas Gutes haben – nämlich helfen können, Aufmerksamkeit für Wesentlicheres zu schaffen –, bewies immerhin die Königskategorie „Bester Fernsehfilm“. Die Auszeichnung geht an den ARD-Zweiteiler „Contergan“, der Anfang des Jahres bereits die Goldene Kamera, aber keinen Grimme-Preis gewann. Schon die frühabendliche Promischau am roten Teppich wurde begleitet von Demonstranten, die auf Plakaten höhere Entschädigungszahlungen der Herstellerfirma Grünenthal für die Opfer forderten. Und „Contergan“-Produzent Michael Souvignier widmete seinen Preis dem Contergan-Opfer Stephan Nuding, der zusammen mit seiner Mutter und seiner Lebensgefährtin seit drei Wochen im Hungerstreik ist.