Unsere Lehrerin Doktor Specht

Schuss Ein Film über ein Schulmassaker verhebt sich an seinem Gegen-stand („Die Lehrerin“, 20.15 Uhr, Arte)

„Oh, Sie unterrichten noch in Straßenschuhen? Aber Hausschuhe sind viel friedlicher“

LEHRERIN MERET BECKER ÜBER DIE ANGESTRENGTE KOLLEGIN

„School Shootings“ oder „Schulmassaker“ gab es schon immer, in letzter Zeit ist ihre Zahl aber deutlich angestiegen. Allein in Deutschland kam es in den vergangenen Jahren zu Gewalttaten dieser Art in Freising, Coburg, Erfurt, Emsdetten, Winnenden und Ansbach. So beliebt in der Schulzeit angesiedelte Motive im Allgemeinen auch sind – die Aufarbeitung dieser Ereignisse mit den Mitteln des fiktionalen Films steht noch aus. Zu groß ist offenbar die Gefahr, sich die Finger zu verbrennen.

Auch die Rezeption des amerikanischen Films „Elephant“ aus dem Jahr 2003, der sich frei an das Schulmassaker an der Columbine High School anlehnt, macht keinen Mut. Gus Van Sants Film wurde zwar in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet, sah sich aber zugleich sehr grundsätzlicher Kritik ausgesetzt. Plump und klischeehaft sei die Erklärung, keiner möge die Jungs, ergo griffen sie zur Knarre. Mehr als diese Erklärung hat leider auch der erste deutsche Spielfilm über ein School Shooting (Regie: Tim Trageser, Buch: Laila Stieler) nicht zu bieten. Selbst wenn er seine Protagonistin einmal sinnieren lässt: „Es gibt viele Gründe. Aber ich finde keine Erklärung. Vielleicht will ich sie auch nicht finden.“ Wir aber würden durchaus wollen. So bleibt das Beste, was sich über den Film sagen lässt, dass jemand den Mut hatte, ein schwieriges, relevantes Thema anzugehen – und sich daran zu verheben. Dass der Film im Ergebnis misslungen ist, liegt nicht allein an der zu simplen Erklärung.

Darüber könnte man vielleicht sogar hinwegsehen, denn es geht hier, anders als bei Van Sant, nicht so sehr um die Täterperspektive. Der Täter ist überhaupt nur einen kurzen Augenblick lang mit der Pistole in der Hand zu sehen. Es geht um die Opfer. Aber auch die Darstellung von deren Traumatisierung lässt sich mit allzu plumper Psychologie vermasseln: Ein Schüler hört einmal in der Ferne ein Martinshorn, springt sofort hektisch auf und beginnt, die Tür des Klassenzimmers zu verbarrikadieren. Wie sie es zuvor während des Shootings gemacht hatten. Das andere Problem des Films ist, dass er die Aufarbeitung des Shootings mit einem Entwicklungsroman über seine Hauptfigur verknüpft.

Anna Loos spielt „Die Lehrerin“, vor dem Shooting ist sie noch dabei, ihren Job zu kündigen: „Wenn ich die Schüler sehe, dann kommt mir die Galle hoch, Mann, ich muss aufpassen, dass mir nicht irgendwann die Hand ausrutscht!“ Das passiert nicht, stattdessen sie lässt ihre Schüler in der ersten Stunde nach den Ferien einen Test schreiben. Der Film ist prominent und gut besetzt, Axel Prahl gibt einen Psychologen, Meret Becker eine Lehrerkollegin, die in allem das Gegenteil der Hauptfigur ist: lässig, flippig, reformpädagogisch angehaucht. Über ihre Kollegin wundert sie sich: „Oh, Sie unterrichten noch in Straßenschuhen? Aber Hausschuhe sind doch viel friedlicher.“ Das sagt sie in einer Rückblende, denn die lässige Lehrerin ist es, die gleich zu Anfang von so einem Schüler, den keiner mag, angeschossen wird und ins Koma fällt.

Die Gegensätzlichkeit der beiden Frauenfiguren überzeichnet der Film in grotesker Weise. Dadurch wird umso weniger nachvollziehbar, wie aus ihnen beste Freundinnen wurden. Die Strenge übernimmt die – traumatisierte – Klasse der Lässigen und wächst mit ihrer Aufgabe. Sie wächst zu einer Art Lehrerin Doktor Specht. Sie besucht ihre komatöse Freundin am Krankenbett, bildet sich ein, nicht nur zu, sondern auch mit ihr zu sprechen, und sagt am Ende: „Da war doch immer ’ne Wand zwischen den Kindern und mir, und auf einmal gibt’s die nicht mehr! Die ist weg!“ Da war das Shooting doch immerhin für eine Sache gut. JENS MÜLLER