Ein Funke Freiheit

Ungarn Kritische Medien haben es unter der Regierung Orbán schwer. Der Bürgersender Tilos Rádió macht Opposition – einsam, unbeirrt, beobachtet

■ Der Name Tilos Rádió erinnert an die Anfänge des oppositionellen Senders zu Beginn der 1990er Jahre, als man kurzerhand die Frequenz anderer Hörfunkstationen kaperte: „tilo“ ist ungarisch und bedeutet „verboten.“ Seit 1995 sendet der Bürgerfunk allerdings legal auf der Frequenz 90,3 Megahertz im im Großraum Budapest.

■ Die Macher sind mehr als 250 Ehrenamtler, die rund 130 Sendungen betreuen und täglich rund um die Uhr live senden. Die Themen reichen von Smalltalk bis zu Politik.

■ Auf Facebook hat Tilos Rádió über 21.000 Fans. Etwa 10.000 Menschen schalten täglich ein, hinzu kommen die Internethörer.

AUS BUDAPEST MATHIAS BECKER

Den Fahrradhelm trägt Papo noch auf dem Kopf, als er die Studiotür aufreißt. Schweiß rinnt ihm über die Stirn, malt einen Fleck auf sein T-Shirt. Es ist fünf nach zehn. Um Punkt zehn sollte er auf Sendung gehen, aber kaputte Bierflaschen auf der Petöfibrücke haben ihn an diesem Morgen ausgebremst. Er flucht in seinen Bart, leise, die Mikros laufen.

Die morgendliche Talkrunde plaudert weiter, bis Papo startklar ist. Damit kein Sendeloch entsteht, damit Tilos Rádió nicht verstummt. Papo legt die gelb getönte Sportbrille auf einen Plattenteller, setzt eine schmale zum Lesen auf und wartet auf seinen Einsatz.

Papo heißt eigentlich Gábor Csabai, der Spitzname bedeutet so viel wie „Papa“. Wahrscheinlich nennen sie den 59-Jährigen so, weil er den Überblick behält im zweiten Stock des alten Werksgebäudes in einem Budapester Hinterhof, wo die Studiotür nicht schließt, die Wände mit Zeichnungen und Aufklebern überzogen sind und der Konferenzraum zugleich das Raucherzimmer ist. „Frag Google oder Papo“, sagen sie, wenn etwas unklar ist. Der Kloschlüssel, der eigentlich an einem Nagel im Türrahmen hängen soll, ist mal wieder verschwunden. Wer hat ihn? „Frag Papo!“

Die Tür zu Budapests Bürgerfunk fliegt im Fünfminutentakt auf. Moderatoren und Musiker, Club-DJs und Kabarettisten, Frauenrechtlerinnen und Filmemacher, Hobbyangler und Hochschullehrer geben sich das Mikro in die Hand. Der Mix aus Satire und Sachlichkeit bei Rádió Tilo reizt insbesondere Studenten und junge Kreative, die einen Medienmainstream leid sind, der entweder gänzlich entpolitisiert ist oder sich an der politischen Schlammschlacht beteiligt, die das Land überzieht.

Bald sechs Jahre ist es her, dass sich ein unüberwindbarer Graben in Ungarn auftat. Er verläuft zwischen einer Minderheit, die der Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP) die Treue hält, und einer Mehrheit, die zunehmend einem kruden Nationalismus verfallen ist. Seit die nationalkonservative Fidesz-Partei unter Victor Orbán 2010 die Zweidrittelmehrheit erhielt, herrscht ein revisionistisches Reformfieber: Orbán schränkte die Pressefreiheit ein und ließ die Rechte von Verfassungsgericht, Haushaltsrat und Nationalbank beschneiden. Juden- und Romafeindlichkeit gehören zum Alltag in rechtsnationalen Medien. Im Land hat Orbáns Politik mittlerweile eine zarte Protestbewegung wachsen lassen. Über Facebook verabreden sich immer wieder Zehntausende zu Demonstrationen gegen die Regierung. Doch die Opposition ist zu zerstritten, um tragfähige Alternativen anbieten zu können.

Mittlerweile hat sich bei Tilos Rádió die Talkrunde von ihren Hörern verabschiedet. Papos Studiokollege Ádám Kobrizsa sitzt am Tisch in der Mitte der Raums, über seinem Kopf baumelt ein Plastikraumschiff aus „Star Wars“ von der Decke. Er rückt das Mikrofon zurecht. Papo räuspert sich noch einmal und fährt dann den Regler hoch: „Hallo! Ihr hört Rádió Tilos auf 90,3 für Budapest und Umgebung, entschuldigt die Verspätung. Ich bin’s, Papo, und das ist ‚Planet Error‘, eure Sendung über Umwelt und Energie. Heute ist die Donau unser Thema.“ Der Strom, der Ungarn in der Mitte teilt, bietet reichlich Stoff für Diskussionen, und das Publikum streitet mit, per Telefon oder Onlinechat. Hier wird klar: Tilos ist für Budapest, was einst die Kaffeehäuser waren – ein Ort zum Debattieren, eine Keimzelle demokratischer Kultur in einem Land, das laut „Active Citizenship Foundation“, einem europaweiten Polit-Thinktank, kaum eine Zivilgesellschaft vorzuweisen hat.

Ádám Kobrizsa ist fester Teil von Papos Umweltshow „Planet Error“. Der Name ist an „Planet Terror“ angelehnt, einen Film, in dem ein Gas Menschen in Zombies verwandelt. „Vielen Ungarn fehlt das Bewusstsein für diese Themen“, sagt der 33 Jahre alte Wasseringenieur. Kobrizsa will Ideen unter die Leute bringen, etwa die von Miniwasserkraftwerken unter Donaubrücken: „Sie könnten den Strom für die Brückenbeleuchtung produzieren.“

Nach zwei Stunden übergeben Papo und Kobrizsa das Mikrofon an die Polittalkshow mit dem nicht ganz ernst gemeinten Titel „Nationales Erwachen“. Thema des Tages: Warum schneidet Ungarn so schlecht beim „Better Life Index“ der internationalen Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ab? In der Stunde darauf informieren Mitarbeiter einer NGO über die Situation der rund 700.000 Roma im Land: In ihren Vierteln rotteten sich rechte „Bürgerwehren“ zusammen, es hätte sogar schon Mordanschläge gegeben. Am Nachmittag besprechen dann Lesbenaktivistinnen die neueste Frauenliteratur. Budapest wirkt auf den ersten Blick wie eine weltoffene Stadt, doch Homosexuelle berichten immer wieder von Verfolgung, und die neue Verfassung spart gleichgeschlechtliche Partnerschaften demonstrativ aus.

Tilos Rádió hat Sendungen auf Englisch, Deutsch, Russisch, Chinesisch und Serbisch, das musikalische Spektrum reicht von Jazz über Punk bis Elektro. Abends spielen Bands kleine Konzerte, nachts wuchten DJs Plattenkisten ins Studio. Einer von ihnen ist seit dem ersten Tag dabei: Zsolt Palotai, 51 Jahre alt, schwarzes Unterhemd, ein weißes Handtuch über den breiten Schultern, ist quasi der Großvater der ungarischen Klubkultur. „Ich glaube, wir wollten wissen, wie das ist“, sagt er zwischen zwei Zügen an einer Zigarette. „Wie man einfach so einen Radiosender aufmacht.“

Der Mix aus Satire und Sachlichkeit bei Tilos reizt junge Kreative, die den entpolitisierten Medienmainstream leid sind

Palotai wuchs in Györ auf. Dort, an der Grenze zu Österreich und in Reichweite der UKW-Frequenzen des ehemaligen Klassenfeindes, lernte er früh, dass das freie Wort aus dem Radio kommt. Mit 27, in den Wirren der Wende, eröffnete der Sportstudent gemeinsam mit ein paar Kumpels den ersten Nachtklub Budapests: „Tilos az Á“ wurde über Nacht zum Szenetreff. „Wir waren total euphorisch. Schließlich glaubten wir, dass ein besseres Leben kommen würde.“ Vom Erfolg beflügelt, ging die Gruppe wenig später mit einem Übertragungsgerät, das Freunde aus Holland herausgeschmuggelt hatten, und ohne Lizenz auf Sendung. Jeweils für ein paar Stunden in der Woche spielten sie Musik vom Band. „Das Signal war so schwach, dass man uns nur auf ein paar Quadratkilometern hören konnte“, erzählt Palotai. Es dauerte nicht lange, bis die Polizei Jagd auf die Sendepiraten machte. „Sie wollten uns orten, also wechselten wir ständig den Standort“, erzählt Palotai. Dank eines selbst gebauten Polizeifunkempfängers waren sie den Ordnungshütern jedoch stets einen Schritt voraus. Mit den Jahren begriffen die Behörden, dass Tilos Rádiós nicht mundtot zu machen war – und erteilten dem Sender eine Lizenz.

Tilos Rádió kann sich ein Programm jenseits des Mehrheitsgeschmacks leisten, weil es nicht auf Werbeeinnahmen angewiesen ist. Der Löwenanteil des Budgets sind Steuergelder: In Ungarn kann jeder Bürger dem Fiskus mitteilen, welche Kultureinrichtung er mit einem Prozent seiner Abgaben fördern möchte. Und treue Hörer schreiben eben „Tilos Rádió“ auf ihre Steuererklärung. Bei dem einwöchigen Tilos Marathon, einem jährlichen Spendenaufruf an die Hörerschaft – die Aktion für 2012 endete in dieser Woche – kommen umgerechnet etwa 7.000 bis 10.000 Euro zusammen. Zudem erhält der Sender Privatspenden, einzelne Produktionen werden von internationalen NGOs oder durch EU-Kulturfördermittel gesponsert.

Bisher hat das Geld immer gereicht. Und doch blickt Papo besorgt in die Zukunft. 2014 werden die Sendefrequenzen neu ausgeschrieben – und es kann sein, dass Tilos Rádió dann leer ausgeht. Das ist 1999, unter der ersten Orbán-Regierung, schon mal passiert, wegen einer Formsache. Und zuletzt sollte das regierungskritische Klubrádió dran glauben. Auch hier habe es „Formfehler“ gegeben, so die parteitreue Behörde. In den staatlichen Sendern haben Orbáns Parteisoldaten längst den Kahlschlag vorgenommen: Mehrere hundert zumeist kritische Journalisten wurden über Nacht vor die Tür gesetzt. Die verbleibenden berichten – anonym – von massiven Manipulationen von Nachrichteninhalten.

„Bei der Medienbehörde warten sie nur darauf, dass wir ihnen einen Grund geben, uns zu verbieten.“ Im Dezember 2010 wäre es beinahe so weit gewesen: Ein am Nachmittag ausgestrahlter Rapsong rief die Behörde auf den Plan. Es blieb bei einer Verwarnung. Seither schärft Papo jedem bei Tilos Rádió Wachsamkeit ein. „Das ist eine Gratwanderung“, sagt er. Schließlich wolle und könne man in einem Bürgerfunk nicht alles kontrollieren. Dass der Sender etwas an der Situation im Lande ändern kann, glaubt er nicht. „Wir legen kein Feuer“, sagt Papo. „Aber wir können einzelne Funken weitertragen.“