ANNE HAEMING DER WOCHENENDKRIMI
: Wie unfassbar frisch!

Es ist wirklich ein Jammer, dass so viele Menschen die Miss-Marple-Erkennungsmelodie als Klingelton haben. Man hat diese Tonfolge so über, dass es einem fast die Filme verleidet. Aber nur fast. Denn spätestens wenn Jane Marple in „16.50 Uhr ab Paddington“ alt und rund und weißhaarig im Zug sitzt und aus ihrem Fenster den anderen Zug vorbeizuckeln sieht, Abteil um Abteil, Fenster um Fenster sich vorbeischiebt, zuerst das kleine Mädchen, das ihr die Zunge rausstreckt und dem sie daraufhin ihrerseits die Zunge zeigt, im nächsten Moment dann der Kopf einer Frau, deren Hals von zwei schwarzen Handschuh-Händen gewürgt wird – den Rest verdeckt das Rollo – und man dann zusieht, wie Miss Marple (gespielt von der einzig wahren Marple-Darstellerin Margaret Rutherford) eine erschrockene Grimasse nach der anderen zieht: da hat einen dieser 50 Jahre alte Film. Verdammt, wie unfassbar frisch das wirkt!

Diese Agatha-Christie-Verfilmung ist eine echte Erholung von den Sonntagabend-Lala-Krimis. Die Hauptfigur: eine Hobbydetektivin von einem Alter, Aussehen und Auftreten, wie sie heute nicht mehr besetzt werden würde. Der Tonfall: so sarkastisch und schwarz, dass es eine wahre Freude ist. Der Fall: so altmodisch überfrachtet mit Verdächtigen – geldlüsterne Nachkommen eines kränkelnden Patriarchen – und mit der richtigen Note an Absurdität. Die Assistenten: der weichliche Mr. Stringer (Rutherfords Gatte Stringer Davis), der naseweise Junge Alexander, der hilflose Kommissar – eine Wucht.

Und wer jetzt noch einen Grund braucht, sich diesen Klassiker endlich mal wieder anzuschauen: die resolute Miss Marple, die sich als Hausmädchen undercover unter die Verdächtigen gemogelt hat, mit Schürzchen und großer Schleife im Haar, dieser Anblick kann sogar gegen „Deutschland gegen Dänemark“ standhalten.

„Miss Marple: 16.50 Uhr ab Paddington“; Sonntag, 20.15 Uhr, Arte