„Der Staat ist nicht hilflos“

Erste Konsequenzen aus dem Mord an Morsal: Bei häuslicher Gewalt gegen Mädchen aus „patriarchal geprägten Familien“ wird künftig geprüft, ob eine tödliche Bedrohung vorliegt

VON KAIJA KUTTER

Zwei Wochen nach dem Mord an der 16-jährigen Morsal O. hat der schwarz-grüne Senat gestern erste Konsequenzen gezogen. GAL-Schulsenatorin Christa Goetsch und CDU-Sozialsenator Dietrich Wersich kündigten an, dass künftig bei jedem Fall von häuslicher Gewalt gegen Mädchen in stark patriarchal geprägten Familien das „worst-case“-Szenario durchgespielt werde: ein tödlicher Ausgang.

„Uns ist klar geworden, dass wir in solchen Fällen umdenken müssen“, sagte Wersich. „Wir können nicht mehr sagen, es ist vielleicht alles nicht so schlimm. Wir müssen den schlimmsten Fall ausschließen.“ Dafür soll eine Interventionskette erarbeitet werden, die festlegt, wie Schule, Justiz, Polizei und andere Ämter in solchen Fällen zusammenarbeiten. Auch will Wersich Schutzmaßnahmen wie die Trennung von Eltern und Kind „konsequenter als bisher umsetzen“.

Zur Frage, ob ein solches frühzeitiges Reagieren Morsal O. das Leben gerettet hätte, legte der CDU-Politiker sich nicht fest. „Wir haben die Hoffnung, dass es in ähnlichen Fällen gar nicht erst zur Eskalation kommt“, sagte der Senator. Für den Vorschlag des Jugendhilferechtsexperten Christian Bernzen, Morsal gegen ihren Willen im Kinder- und Jugendnotdienst festzuhalten und so zu schützen, hätten allerdings die „ juristischen Voraussetzungen“ gefehlt.

„Mir ist in Deutschland kein Familiengericht bekannt, dass einer geschlossenen Unterbringung in einem solchen Fall zustimmen würde“, sagte Jugendabteilungsleiter Wolfgang Hammer. Zwar stehe im Kinder- und Jugendhilfegesetz, dass bei „Gefahr für Leib und Leben“ auch Freiheitsentzug möglich sei. „Das gilt aber nur, wenn es keine andere Möglichkeit gibt“, so Hammer. Im Fall Morsal O. habe es die Alternative einer Unterbringung in einer anonymen Wohngruppe gegeben.

Auch Schulsenatorin Christa Goetsch will schnell Dinge ändern. So soll es Eltern künftig nicht mehr möglich sein, ihr Kind per Telefon von der Schule abzumelden – wie bei Morsal geschehen, bevor ihre Familie sie für neun Monate nach Afghanistan verschleppte. „In Zukunft werden wir eine schriftliche Abmeldung verlangen“, sagte Goetsch. „Kommt die nicht, werden Eltern in die Schule zum Gespräch eingeladen.“

Auf diese Weise solle überprüft werden, ob ein Einschreiten nötig ist. Außerdem soll jede Schule interkulturell geschultes Personal bekommen und die aktive Arbeit mit Jungen und Eltern verstärken.

Die verschärfte Kontrolle der Abmeldungen ist auch deswegen sinnvoll, weil auch in Hamburg Schülerinnen während der Ferien im Heimatland der Eltern zwangsverheiratet werden – allein im Jahr 2005 waren dies an die 40 Fälle. „Die Beratungsstellen haben vor den Sommerferien regelmäßig einen Anstieg“, sagt Dietrich Wersich. Goetsch forderte alle Schulen auf, das Thema auf der nächsten Lehrerkonferenz zu besprechen. Ihre Behörde werde dafür einen Überblick über gültige Regelungen und Hilfen erstellen.

„Der Staat ist nicht völlig hilflos“, sagte Wersich. Man habe bei drohenden Zwangsheiraten Möglichkeiten einzuschreiten. So sei in diesen Fällen ein Antrag auf Sorgerechtsentziehung und die Aufnahme in ein Zeugenschutzprogramm möglich.

Wersich rechnet damit, dass im Zuge der Diskussion um Morsal mehr Fälle bekannt und mehr Hilfsangebote nötig werden. Als ersten Schritt sollen die beiden Gewaltberatungstellen Lale und Ibera 60.000 Euro bekommen, um ihre Beratungskapazität ausbauen. Sie hatten bereits zu Jahresanfang in einem Brandbrief über Überlastung geklagt.

Die Opposition ist damit noch nicht zufrieden – SPD-Familienpolitikerin Carola Veit will eine Sondersitzung des Familienausschusses einberufen.