Alarmglocken überhört

Der SPD-Innenpolitiker Andreas Dressel wirft CDU-Innensenator Christoph Ahlhaus und der Polizeiführung schwere „Versäumnisse“ bei den Neonazi-Aufmärschen am 1. Mai vor

„159 Chaoten erst in Gewahrsam genommen – dann wieder freigelassen“, kritisierte der SPD-Innenpolitiker Andreas Dressel jüngst im Innenausschuss – das sei „sinnbildlich für die Fehler“. Einsatzleiter Peter Born erklärt: Die Kräfte seien andernorts gebraucht worden. Ein Polizei-Training hatte ergeben, dass die Ingewahrsamnahme eines gefüllten Busses eine Hundertschaft länger als eine Stunde binden kann.  KVA

VON PETER MÜLLER
UND ANDREAS SPEIT

Der SPD-Innenexperte Andreas Dressel wirft dem damaligen Innenstaatsrat und heutigen Innensenator Christoph Ahlhaus (CDU) sowie der Polizeiführung schwere Versäumnisse am 1. Mai vor. „Barmbek war teilweise ein rechtsfreier Raum“, so Dressel. Am 1. Mai hatte es rund um den Neonazi-Aufmarsch teilweise Krawalle gegeben. Die Neonazis griffen Polizeibeamte und Gegendemonstranten an, diese wiederum lieferten sich Gefechte mit der Polizei.

Mit seinem „Zehn-Punkte-Katalog der Versäumnisse“ bewegt sich Dressel aber auf dünnem Eis. So bemängelt er, dass die Polizei wegen bundesweit diverser Einsätze zu wenig auswärtige Kräfte bekommen habe, sich aber zuletzt auch wenig bemüht habe, diesen Mangel zu beheben. „Wenn die Arbeitsebene scheitert, hat sich der Staatsrat als politische Ebene einzuschalten“, sagte Dressel am Donnerstag. Ahlhaus habe aber nicht zum Telefon gegriffen, um bei seinen Länderkollegen Polizisten zu ordern.

Dressel bemängelt auch, dass die Lage fehlerhaft beurteilt worden sei. Einem polizeilichen Lagepapier zufolge war durchaus klar, dass mehr als 200 militante autonome Nationalisten kommen könnten. „Da hätten sämtliche Alarmglocken schrillen müssen“, sagt Dressel. Stattdessen konnten die Rechten nahezu ohne Kontrollen nach Hamburg einreisen. „In Wellingsbüttel hat die Bundespolizei 300 Neonazis abgeliefert“, so Dressel „sie wurden aber nicht von der Landespolizei in Empfang genommen und zum Treffpunk begleitet.“

Gewagt ist die These des SPD-Hardliners, die Polizei hätte den rechten Marsch durch Barmbek verhindern können, in dem sie sich auf den „polizeilichen Notstand“ berufen hätte. Dann hätte der Aufmarsch aufgelöst oder auf eine stationäre Kundgebung reduziert werden können. Doch das hätte die Lage laut Einsatzleiter Peter Born nicht entspannt. Da die Bundespolizei den Strom der S-Bahn wegen brennender Barrikaden unterbrochen und nicht wieder eingeschaltet hatte, die Busse der Neonazis zudem „entglast“ worden waren, hatte Born nach eigenen Angaben nur noch vor der Frage gestanden: „Wie bekomme ich die Rechten hier wieder weg.“

Zudem hat das Verwaltungsgericht Hamburg in einer Entscheidung von 2000 zum selben Sachverhalt festgehalten, polizeilicher Notstand könne nur als „ultima ratio“ in „extremen Situationen“ geltend gemacht werden. „Polizeilicher Notstand ist zugleich der Offenbarungseid des Staates“, urteilte damals das Gericht.

„Das Instrument des polizeilichen Notstands ist nicht nur rechtlich kritisch, es führt auch einsatztaktisch nicht weiter“, kontert auch Polizeipräsident Werner Jantosch. Kaum jemand wäre „den beabsichtigten Veranstaltungen ferngeblieben.“ Wenig nachvollziehbar ist auch Dressels Kritik, die Polizei habe – nachdem das Oberverwaltungsgericht die räumliche Trennung aufgehoben habe – nicht eindringlich genug den Zeitplan durchgesetzt und die Antifa-Demonstration um 11.30 Uhr aufgelöst – notfalls durch Zwangsmittel. Gerade diese Verspätung hatte das OVG gewollt. So heißt es in dem Urteil: Nach dem Abmarsch des rechten Zuges gegen zwölf Uhr vom S-Bahnhof Alte Wöhr sei zu erwarten, „dass dieser die fragliche Kreuzung mit der Fühlsbüttler Straße schon lange passiert haben wird, bevor der Aufzug des Antragssteller diesen Bereich erreicht“. Der Senat habe zudem, um ein Aufeinandertreffen beider Demonstrationen zu verhindern, den Antragstellern die Durchführung einer Zwischenkundgebung Ecke Habichtstraße auferlegt.

Dressels Kritik löste starke Reaktionen aus. Innensenator Ahlhaus nannte sie unverantwortlich. „Es gab keine Versäumnisse“, schimpft er „Es ist unredlich, dem Innensenator die Schuld für die Vorkommnisse zugeben“, so die CDU-Fraktion, „die entweder nicht vorhersehbar oder die wegen der Gerichtsentscheidung nicht beeinflussbar waren.“ Und Polizeipräsident Jantosch: „Die öffentliche Kritik geht an der Realität völlig vorbei.“