„Heute ist die Agitation gegen links kaum noch zu spüren“

Das Hamburger Abendblatt wird 60. Uwe Storjohann, ehemals Journalist beim NDR und Abendblatt-Abonnent der ersten Stunde, hält Rückschau und erzählt, was er an der Zeitung schätzt – und was ihm Kopfschmerzen bereitet

UWE STORJOHANN, 83, lebt und arbeitet als Regisseur und Autor in Hamburg. In seinem Buch „Hauptsache überleben“ schilderte er seine Erfahrungen in der Hamburger Swing-Jugend. Bis 1990 leitete er den NDR-Schulfunk. Mit seinen vielbeachteten Sendungen zur Deutschen Geschichte präfigurierte er das Genre „Doku-Drama“. FOTO: PRIVAT

Aufgezeichnet von MAXIMILIAN PROBST

Ach ja, das Abendblatt … Seit 60 Jahren bin ich Abonnement der Zeitung. Dafür gibt es mehrere Gründe, mit Ausnahme von einem: der Qualität. Da gibt es keinen Zweifel. Mit journalistischen Qualitäten glänzt die Zeitung nicht.

Aber sie liegt jeden morgen pünktlich im Briefkasten. Das mag heute selbstverständlich erscheinen, früher war es das nicht. In 60 Jahren habe ich es nur drei- oder viermal erlebt, dass die Zeitung nicht gekommen ist und eins dieser Male war ich selbst dafür mitverantwortlich. Das war, nachdem die Bildzeitung „Beseitigt Dutschke“ getitelt hatte und es zum Attentat auf den Studentenführer gekommen war. Wir haben dann in Hamburg die Auslieferung bei Springer blockiert.

Entscheidend für den Erfolg der Zeitung ist aber, dass sie den lokalen Teil so abzudecken verstand wie keine andere. Wenn ein Kollege stirbt, ich erfahre es aus dem Abendblatt. Wer wissen will, wie die Handballmannschaft des HSV gespielt hat – scheinbar gibt es solche Leute – muss das Abendblatt aufschlagen. Wenn irgendwo zwischen Ochsenzoll im Norden und den Schwarzen Bergen im Süden ein Maulwurf hustet, steht es am nächsten Tag bestimmt im Abendblatt. Und so umfangreich die Zeitung mittlerweile auch geworden ist, man kommt nie in die fatale Situation, sich festzulesen. Man kann die Zeitung wunderbar überfliegen. Und diese Oberflächlichkeit hat sich über die Jahre noch verstärkt.

Das Abendblatt hat immer behauptet, eine Zeitung für alle zu sein. Anfangs stimmte das insofern, weil es nach dem Krieg die einzige Zeitung war, die keiner Partei angehörte. Diese Unparteilichkeit sicherte ihr damals großen Zuspruch. Man hatte die NS-Zeit erlebt, Indoktrination pur, und danach wollte man von Parteien und Programmen nichts mehr wissen.

Ihr Grundsatz lautete, ganz brav und bieder: „Seid nett zueinander.“ In großen Lettern prangte dieser Schriftzug am alten Redaktionsgebäude am Gänsemarkt. Das Abendblatt hat sich auch immer sehr bemüht, nett zu sein – allerdings nur zu der eigenen Klientel. Man konnte sehr böse werden, wenn es um Abweichler ging.

Das war besonders stark in den Jahren zwischen 1967 und 1975 der Fall. Springer brachte damals das Abendblatt auf Linie mit seinen beiden Kampfblättern Welt und Bild. Alles, was irgendwie links oder avantgardistisch erschien, wurde damals auch im Abendblatt niedergeschrieben.

Mit der Unparteilichkeit war es aber auch sonst nicht weit her. Schill zum Beispiel. Als er für Beust, den das Abendblatt immer verehrte, nützlich war, verehrte das Abendblatt auch ihn. Dass Schill aus dem Nichts heraus fast 20 Prozent der Stimmen bei der Bürgerschaftswahl 2001 bekam, hatte er zum größten Teil dem Eifer des Abendblatts zu verdanken. Als Schill dann lästig wurde, ließ ihn das Abendblatt so schnell fallen, wie es ihn emporgehoben hatte. Und die Abendblatt-Ikone von Beust konnte allein weiterregieren.

Natürlich hat das Abendblatt auch immer Kulturpolitik gemacht – obwohl die Zeitung eigentlich ein Publikum anspricht, das seine Freizeit am liebsten im Winterhuder Fährhaus oder in den Musical-Theatern verbringt. Nun muss man sich nur anschauen, welche Indentanten es in Hamburg schwer gehabt haben. Das waren nach Gustav Gründgens fast alle Intendanten des Schauspielhauses. Man mag das Theater eben nicht. Zu schrill, zu gewagt, so gar nicht passend zur steifen, hanseatischen Zurückhaltung. Die Thalia-Intendanten werden dagegen regelmäßig beklatscht. Das Thalia ist das Abendblatt-Theater. Es war also immer nur eine scheinbare Überparteilichkeit. Aber dieser Schein hat gut funktioniert.

Sehr früh hat das Abendblatt mit demoskopischen Untersuchungen angefangen: Was sagt die Masse, wie tickt sie, was will sie, und danach richtet sich das Blatt. Die Zeitung ist immer sehr nah dran an den Stammtischen, sie bietet den Leuten das, was sie sehen, was sie hören wollen, macht das aber sehr viel geschickter als die Bild und natürlich weniger vulgär. Weil da eine gewisse Bürgerlichkeit federführend ist.

Geschickt operiert das Abendblatt auch mit den Leserbriefen, in denen manchmal verkündet wird, was die Redakteure nicht schreiben dürfen. Die Leserbrief-Seite wirkt dann wie ein Tummelplatz für Erzreaktionäre. Immer aber sind es Leserbriefe, die das Abendblatt unterstützen, ja feiern. Wie überhaupt die Selbstbeweihräucherung in dieser Zeitung schier unglaublich ist. Der einzige Punkt, in dem die Zeitung sich extrem vom Hanseatischen entfernt.

Eins war das Abendblatt allerdings nie: Es war nie antisemitisch. Das hing mit der Person Axel Springers zusammen. Man kann sich heute kaum noch vorstellen, wie stark der Antisemitismus bis in die 60er Jahre verbreitet war, wie schwer es Juden hatten, die zurückkehrten und sich zu erkennen gaben. Da hat das Blatt, und das ist wohl sein größtes Verdienst, von Anfang an gegengesteuert. Das Leben der jüdischen Gemeinde wurde immer mit großem Wohlwollen begleitet.

Daraus folgte aber nicht, dass sich das Blatt auch antifaschistisch positioniert hätte. Man war ja immer gegen Sozialisten und Kommunisten. Und damit Freund all derer, die sich am Kampf gegen die Linken beteiligten. Da waren dann auch Alt-Nazis als Bundesgenossen gern gesehen.

Den Widerspruch zwischen projüdisch und nationalsozialistisch versuchte man bei Springer zu glätten, indem man die Mär vom „guten Nationalsozialisten“ und „bösen Nazi“ erfand. Der Nazi war einer, der an der Judenvernichtung mitgewirkt hatte, Nationalsozialisten waren vornehme Deutsche, die den Bolschewismus abgewendet hatten. Und es sollte natürlich nur einen kleinen Haufen böser Nazis gegeben haben, denen die guten Deutschen dann zum Opfer gefallen sind …

Heute ist die Agitation gegen links kaum noch zu spüren. Mir scheint auch die Überwachung der einzelnen Redakteure nicht mehr das, was sie mal war. Neulich las ich einen Autor, der gesellschaftliche Zusammenhänge kritisch hinterfragte und reflektierte, als sei er bei Karl Marx in die Schule gegangen. Bei aller Betulichkeit ist das Blatt vielfältiger geworden in den letzten Jahren. Trotzdem lässt sich nicht darüber hinwegsehen, dass das Niveau kontinuierlich sinkt. Ganz langsam hat es sich über die Jahre immer mehr der Bildzeitung angenähert.

Eins hätte ich jetzt fast vergessen: die Rubrik „Menschlich gesehen“. Das ist das Herzstück des Abendblatts, ein großes Versöhnungsprogramm. Die Spalte ist immer voll des Lobs. Auch Leute, die man zuvor kritisiert hat, werden „menschlich gesehen“ plötzlich verständlich und damit wieder aufgenommen in die große Abendblatt-Familie. Komischerweise bin ich der Einzige aus der Riege der alten Hamburger, der noch nicht „menschlich gesehen“ wurde. Fast alle meine Kollegen und näheren Bekannten sind dort früher oder später aufgetaucht. Nur ich nicht. Keine Ahnung, ob das ein Affront oder eine Auszeichnung ist.