Wo das Schweigen endet

„Wir hätten wissen müssen, dass im Kindergrab fremde Kinder liegen, und dann hätten wir uns natürlich gefragt: Was sind das für Kinder“

AUS MENDEN-BARGE MIRIAM BUNJES

Auf dem Hügelkamm endet die Stille des Sauerlands. Hinter der gelb verputzten Kirche des 200-Einwohnerdorfs Menden-Barge gräbt sich ein Bagger durch die rötlich braune Friedhofserde. Stoppt das monotone Geräusch, bedeutet das Tod. Dann hat Volker Schneider wieder eine dunklere Stelle im Boden entdeckt und schnell den Arm gehoben. „Anhalten, hier liegt ein Skelett“, heißt das für den Baggerführer.

„Das hier war eine Frau“, sagt der Umbetter des Volksbunds Deutscher Kriegsgräberfürsorge und zeigt in die offene Grube. Die dunklen Striche am Rand des zwei Meter tiefen Lochs zeigen deutlich: Hier lagen zwei lange dünne Knochen. Nach mehr als 60 Jahren liegen sie jetzt in einem schwarzen Plastiksarg. Dem ersten für heute. Sechs Särge wird Volker Schneider am Abend der Dortmunder Staatsanwaltschaft für NS-Verbrechen übergeben. Der modrige Geruch erschreckt den gelernten Kampfmittelräumer nicht mehr. „Ich weiß ja, dass ich nach Leichen suche“, sagt er und erzählt, dass er in seinem Berufsleben schon mehr als 1.000 Leichen aus dem Zweiten Weltkrieg umgebettet hat.

Vor zwei Wochen schützte ihn aber auch die Routine nicht vor dem Entsetzen: 24 Leichen entdeckte er auf einer seit Jahrzehnten unbenutzten Stelle des Dorffriedhofs. 22 Skelette waren die Leichen von Kindern unter sieben Jahren, gerade mal drei wurden mit Sarg in normaler Tiefe bestattet. Die anderen lagen kreuz und quer etwa 80 Zentimeter unter der Erde. „Einige auch mit dem Gesicht nach unten, als hätte man sie einfach ausgeschüttet“, sagt Schneider. Mindestens drei der Kinder waren behindert, zwei mit Down-Syndrom, eines hatte einen Wasserkopf.

Auf natürliche Art gestorben sind sie nicht. Davon geht inzwischen auch die zuständige Dortmunder Staatsanwaltschaft aus. Euthanasie lautet der Verdacht, der täglich mehr zur Gewissheit wird. Denn Anfang der Woche sind im Mendener Standesamt 300 Totenscheine aus einer NS-Klinik aufgetaucht: mehr als 200 für Kinder. Nach den Leichen wurde nie gesucht. Bis vor zwei Wochen. Und die meisten sind noch immer verschwunden.

Bestempelt sind die Totenscheine mit „Aktion Brandt“, ausgestellt wurden sie von der Sonderkrankenhausanlage Wimbern, dem Nachbardorf von Barge. Hier standen während des Zweiten Weltkrieges acht Baracken, in die vor allem Patienten aus Dortmunder Kliniken gebracht wurden, um die Krankenhausbetten der Ruhrgebietsstadt für die Opfer von Luftangriffen freizuhalten. Der Chefarzt war die rechte Hand Karl Brandts, eines von Hitlers Leibärzten, der als „Generalkommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen“ dafür zuständig war, „unwertes Leben“ zu vernichten (siehe Kasten).

Offenbar auch in Barges Nachbardorf. „Warum hätte man sie sonst stillschweigend verschütten sollen“, fragt Totengräber Schneider. Weil 300 zu den Totenscheinen passende Skelette bislang nicht aufgetaucht sind, durchsucht er zur Zeit ein offizielles Kriegstotengrab. 59 namentlich bekannte Tote liegen hier. Seit diesem Vormittag hat Schneider noch drei neue Grabungs-Aufträge. Auf Luftbildern hat die Staatsanwaltschaft verdächtige Vierecke außerhalb des Friedhofs entdeckt. Wo genau, bleibt vorerst geheim. „Ich habe noch viel zu graben.“

Dass etwas mit Barges kleinem Friedhof nicht stimmt, ahnte Volker Schneiders Chef, Rainer Mertes, schon im Jahr 2000. Hier liegen 59 Kriegstote im Schatten einer alten Eiche, die meisten waren russische Zwangsarbeiter, die sich im nahe gelegenen Hoennetal zu Tode arbeiteten. Auf einer Stele daneben stehen nur 28 Namen – unzureichend, klagt der Volksbund seit Jahren. Als Mertes deshalb vor sechs Jahren das Massengrab besuchte, fiel ihm ein wild überwachsenes, etwa 20 Quadratmeter großes Feld direkt daneben auf. Daraufhin sprach er eine Friedhofsbesucherin an. „Na ja, beerdigen können wir da keinen mehr“, sagte die über 80-Jährige zu ihm. „Wieso nicht?“ fragte der Ex-Offizier erstaunt. „Da liegen doch mehr als 200 Tote aus dem Wimberner Krankenhaus“, sagte die alte Frau. Und: „Das wissen doch alle hier.“

Als Rainer Mertes einige Wochen später, am 20. Mai 2000, von der Kirchengemeinde eingeladen wurde, den neuen Glockenturm einzuweihen, brach er das 60-jährige Schweigen in Barge. „Hier liegen 200 Tote aus der Krankenhaussonderanlage Wickede-Wimbern“, sagte er vor der versammelten Gemeinde und forderte ein entsprechendes Gedenkschild.

Ein Satz, der das Dorfleben erschütterte. „Seitdem kennen die Stammtische kaum ein anderes Thema“, sagt Theodor Ostermann. Er verschränkt nervös die großen Hände zu immer neuen Figuren. Er soll mit niemanden von der Presse über seine Recherchen sprechen, hat ihm das Landeskriminalamt eingeschärft. Das könnte den Ermittlungen schaden.

Der 61-jährige ehemalige Landwirt ist Hobbyhistoriker und Gemeindechronist. Und seit Mertes‘ Rede vor dem Glockenturm treibt ihn vor allem ein Thema um: die namenlosen Toten von Barge. Alle Zeitzeugen hat er befragt. Viele sind das nicht. Eigentlich nur drei, und die gehen auf die 90 zu.

Mehrmals hat eine Frau die Pferdekarren aus Wimbern den steilen Weg zur Barger Kirche fahren sehen. Voll beladen mit Leichen und Leichenteilen in Papiertüten seien sie gewesen. So voll, dass sie einmal aus dem Karren rutschten und in den Straßengraben fielen. Über die nackten Leichen sprach die Frau mehr als 50 Jahre lang mit niemandem. Ihr Mann war im Krieg, sie allein mit den Kindern und einem Bauernhof. Jetzt lebt sie dement in einem Altersheim, und Theodor Ostermann ist der einzige Zeuge ihrer Erinnerungen. Bei Staatsanwalt Ulrich Maaß, Leiter der Dortmunder Zentralstelle für die Verfolgung von NS-Verbrechen, melden sich inzwischen täglich neue Zeugen. „Die allermeisten haben ihre Informationen aber aus zweiter Hand“, sagt Maaß. „Sie haben von ihren Eltern über die Wimberner Baracken und die Stelle auf dem Barger Friedhof gehört. Wir müssen mit diesen Quellen also sehr vorsichtig umgehen.“

Es gibt in Barge aber auch noch Menschen, die das Grauen miterlebten. Heinz Oesterberg zum Beispiel. Der ehemalige Bankangestellte war zwölf und Messdiener in der Kirche, als er eine Pferdekarre auf den Friedhof fahren sah. Leichen und amputierte Gliedmaßen seien in das offene Grab gekippt worden. Und eine damals 14-Jährige, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, soll in Wimbern gesehen haben, wie Wagen mit Spritzen und Leichen durch die Gänge der Baracken fuhren. „Eine Zeugin hat als Verwaltungsangestellte im Krankenhaus gearbeitet“, bestätigt auch Staatsanwalt Maaß, der in Menden ein Puzzleteil nach dem anderen zusammensucht.

Denn plötzlich werden sie laut, die verschwiegenen Erinnerungen. „Bei uns hieß das immer das Kindergrab“, sagt Dorfchronist Ostermann. Ihm sei aber auch jetzt erst klar geworden, dass das keine Barger Kinder sein können. „Wir haben hier nur Familiengruften“, sagt er. „Wir hätten wissen müssen, dass dort fremde Kinder liegen, und dann hätten wir uns natürlich gefragt: Was sind das für Kinder?“

„Wir haben nichts vertuscht“, sagt Pfarrer Johannes Hammer. „Seit 2000 reden wir ja darüber.“ Seitdem ist er hier Pfarrer. Warum sein Vorgänger stillschweigend auf der Fläche nicht beerdigt habe, weiß er nicht. Fragen kann man ihn nicht mehr, er starb im vergangenem Frühjahr. Bekannt waren ihm die Gerüchte sicherlich. Denn der Dorfchronist hat jetzt auch eine alte Friedhofskarte entdeckt, auf der eine Fläche als „Kindergrab der Sonderanlage“ bezeichnet wird. Grabungen angestoßen hat der frühere Pfarrer aber deshalb nicht.

„Erst wenn der Bagger kommt und die ersten Knochen freilegt, fangen die Leute hier an zu reden.“ Das war Hans-Bernd Besa-von-Werden, zuständiger Dezernent der Kreisbehörde Arnsberg, von vornherein klar. Dass die Bagger kommen konnten, hat ihn drei Jahre Arbeit gekostet. Seit 2003 durchsucht er amtliche Archive nach Materialien über Wimbern – „unauffällig, damit die Akten nicht verschwinden“. Und es gibt sie wirklich. „Die Nazis haben ja alles akribisch aufgeschrieben“, sagt Staatsanwalt Maaß. „Sie fanden ihr Töten ja richtig.“ Totenscheine im Standesamt, Krankenhausakten und Akten aus dem Berliner Staatsarchiv stapeln sich auf Maaß‘ Schreibtisch. Nach und nach wird er sie alle sichten – und auf Beweise hoffen. „An den Skeletten wird man möglicherweise keine Spuren von Mord mehr entdecken können“, sagt er. „Euthanasie bedeutet oft Tod durch Verhungern oder Spritzen. Das kann man nach 61 Jahren nicht mehr sehen.“

Das Wimberner Krankenhaus übernahmen 1947 die Steyler Missionsschwestern. In ihrer Klosterchronik, verfasst im Jahre 1983, steht: „Die Baracken verdanken ihre Entstehung der Aktion Brandt“. Und Bürgermeister Josef Sartorius wird bei der Übergabe an die Caritas zitiert: „Das Krankenhaus ist eine Schande für ganz Wimbern.“ Man solle es erst mit viel Weihwasser besprengen und alle Teufel von dort austreiben.

Aus Barge sind sie nicht verschwunden. Schweigend steht eine Gruppe älterer Barger hinter dem Friedhofszaun. Sie tragen Gießkannen und Harken, schauen aber vor allem auf den Bagger vor dem offenen Loch. „Sollen die doch die Toten in Ruhe lassen“ und „Wie viel Geld das alles kostet“, haben in der vergangenen Woche viele zu Theo Ostermann gesagt. „Sie haben Angst vor der Vergangenheit“, sagt der Dorfchronist. Auch das Jahrzehnte lange Schweigen erklärt er mit Angst. „Alle kannten die Arbeitslager des Sauerlandes. Wer zu Hitlers Zeiten den Mund aufgemacht hätte, wäre doch sofort dort gelandet“, sagt Ostermann. Nach dem Krieg hätten dann alle erst mal andere Sorgen gehabt. Und danach? „Irgendwie wurde das vergessen.“

Der Umbetter hebt erneut die Hand. Der Bagger stoppt – wieder ist ein toter Mensch aufgetaucht. In die Stille ruft eine Kuh hinein. Die Menschen vor dem Zaun stecken die Köpfe zusammen. Nach zwei Wochen Grabung wissen hier alle: In Barge spricht die Stille vom Tod.