Stille vor dem Schluck

Weinkenner wie Robert Parker haben enormen Einfluss auf die Medien, die Konsumenten und die Weinwirtschaft. Wie kommen ihre Urteile zustande? Eine Kritik der Weinkritik

VON ULRICH SAUTTER

Denn der Verkoster, der alleine seinem Wein und einem Blatt Papier gegenüber sitzt, kommt nicht um einen Kraftakt umhin. Er muss etwas schreiben. Schrecklich! Es ist die frappierende Eigenschaft des Weins, Monsieur Kesselring, dass in diesem Moment sowohl der Wein als auch der Verkoster auf dem Prüfstand stehen, beide werden geprüft. Voilà.

Jules Chauvet, „Le vin en question“. Ein Gespräch mit Hans Ulrich Kesselring (1981)

Da steht es wieder, das Glas mit einem Wein, der beschrieben und begutachtet werden soll. Ich halte es schräg gegen das Licht und rieche in den Kelch. Ich schwenke das Glas und rieche erneut, nippe, lasse die Flüssigkeit über meine Zunge strömen und warte, bis sie meine Mundschleimhaut benetzt. Dann lasse ich das Pfützchen Wein wieder zusammenlaufen und speie es in einen Spucknapf – eine seltsame Tätigkeit.

Sie wird noch seltsamer, wenn man sie genauer betrachtet. Der Weinwissenschaftler Jules Chauvet, einer der Gründungsväter der französischen Schule der Weinbeschreibung, zielt auf eine merkwürdige Dialektik ab, die sich zwischen Verkoster und Verkostetem entspinnt. Seine Aussage trifft die mediale Vermittlung des Weins und deren populärste Form, die Weinkritik, an einem zentralen Punkt – der Infragestellung des Verkosters durch den Wein. Werfen wir einen Blick auf die elementaren Vorgänge des Weinprobierens.

Riechen und Schmecken sind die beiden wesentlichen Sinnesqualitäten jeder Verkostung. Gerüche provozieren sehr unmittelbar eine wertende Reaktion. Sie werden als „angenehm“ oder „unangenehm“ eingeordnet, noch bevor sich einzelne Aromen greifen lassen. Bei der fachlichen Verkostung folgt daher auf den spontanen Eindruck eine besonders eindringliche Analyse: In ihr wird sich ein geschulter Degustator beispielsweise fragen, ob der Duft als „oxidativ“ oder „reduktiv“ einzustufen ist. Er wird entlang seinem olfaktorischen Gedächtnis nach möglichen Übereinstimmungen mit den typischen Aromen einzelner Rebsorten suchen. Je erfahrener der Degustator ist, desto mehr und differenziertere Aspekte wird er in die Untersuchung seiner Sinneswahrnehmung einfließen lassen. Schließlich wird er die Entwicklung des Dufts im Glas verfolgen, die Veränderungen, die sich durch den Kontakt des Weins mit der Luft ergeben.

Auch der Gaumeneindruck besitzt eine gewisse Unmittelbarkeit, allerdings übt er bei weitem nicht dieselbe suggestive Kraft aus, die dem Duft eigen ist. Die Zunge besitzt im Wesentlichen Rezeptoren für vier Geschmacksdimensionen: süß, sauer, salzig und bitter. Hinzu treten Wahrnehmungen des Tastsinns in der Mundschleimhaut: Adstringenz, Viskosität, Wärme. Nehme ich einen Rotwein in den Mund, nimmt typischerweise die Untersuchung der Gerbstoffe besonders großen Raum ein: Sind sie grobkörnig oder fein? Ziehen sie mir den Mund zusammen? Falls ja: Liegt das an einer jugendlichen Strenge des Weins (die sich mit weiterer Reifung verlieren wird), oder ist die Adstringenz begleitet von „grünen“, sogar bitteren Noten, die auf ungenügende Reife der phenolischen Substanzen in Beerenhaut und Kernen zurückschließen lassen? Ähnlich wie in der Analyse des Dufts sammelt sich eine Vielzahl detaillierter Beobachtungen, und ebenso erfordert auch die Analyse der Gaumenstruktur einen inneren Dialog des Verkosters: Spontaner Eindruck? Welche Informationen liefert die analytische Begutachtung? Kongruiert der erste Eindruck mit den neutraleren analytischen Sinnesdaten? Korrigiert die Analytik den ersten Eindruck? Oder bleiben die Eindrücke widersprüchlich?

An diesem Punkt wendet sich die Wahrnehmung des Weins in Selbstwahrnehmung. Das Bild, das ich vom betreffenden Wein bekomme, entwirft zugleich ein Bild meiner Fähigkeit, diesem Wein Verständnis entgegenzubringen. Es benötigt zuweilen Überwindung, im Bewusstsein dessen etwas niederzuschreiben, sich festzulegen. Der von Chauvet beschriebene Kraftakt ist eine Syntheseleistung, die etwas auf den Punkt bringen muss, die es aber zugleich schaffen muss, über offen bleibende Fragen und Brüche in der Deutung der Sinnesdaten nicht hinwegzugehen. Möglicherweise ist es so etwas wie Gestaltwahrnehmung, was die per se disparaten Sinnesdaten – multistabil! – zusammenzufügen gestattet. Es muss dabei vorab im Geist existierende Bilder geben, die sich unter dem Eindruck des konkreten Wahrnehmungsangebots zu diesem oder jenem Gesamteindruck aktualisieren.

Ein ähnlich holistischer Effekt, der die bewusste Wahrnehmung eines Weins über die bloße Summe der Sinneswahrnehmungen und deren Analyse hinausführt, kann durch Kontextualisierungen entstehen. Der Wädenswiler Önologieprofessor Tilo Hühn spricht vom Motiv der Sinnstiftung, das die Weinerlebnisse der Konsumenten präge. Ich kaufe jedes Jahr beim Winzer X, wir kennen uns seit Jahren, ein sehr sympathischer Mensch. Ein Beispiel für eine Sinnstiftung, die sich aus persönlichem Kontakt, Vertrauen und Sympathie ergibt. Diese assoziative Verknüpfung kann über Jahre hinweg hohen Weingenuss garantieren, auch wenn der ein oder andere Kauf vielleicht kleinere Schwächen haben mag. Der Klassiker fehlgeschlagener Bedeutungsvermehrung ist der aus dem romantischen Sommerurlaub mitgebrachte Lieblingswein, dessen bedeutungsvoller Auftritt am heimischen Esstisch unweigerlich zu Ernüchterung führt: Meist sind seine sensorischen Eigenschaften bei weitem nicht spektakulär genug, um den Urlaubserinnerungen im Milieu des Alltags noch als Projektionsfläche dienen zu können.

Auch in der professionellen Weinkritik gibt es unterschiedliche sinnstiftende Motive. Nehmen wir einige typische Wendungen Robert Parkers, des weltweit einflussreichsten Weinkritikers: „Mit Sicherheit ist dies einer der eindrucksvollsten Weine des Jahrgangs“ – „Der Wein des Jahrgangs? Es ist noch zu früh, um das mit Sicherheit sagen zu können, auf jeden Fall aber kann es der 2001er mit dem 1998er und dem 2000er aufnehmen.“ Oder: „[…] nachdem ich ihn sechsmal aus der Flasche verkostet habe, steht für mich fest, dass dieser außergewöhnliche Verschnitt von sechzig Prozent Merlot, dreißig Prozent Cabernet Franc und zehn Prozent Cabernet Sauvignon zweifellos zu den monumentalsten Weinen gehört, die Bordeaux je hervorgebracht hat. Hundert Punkte.“

Dieser Autor demonstriert Detailkenntnis. Wichtig ist Präzision. Sechzig Prozent Merlot, hundert Punkte, sechsmal probiert. Das von Parker entworfene Weinweltbild ist fest gefügt und streng geordnet: Der Vergleich verschiedener Weine ein und desselben Jahrgangs, die Nennung von Vergleichsjahrgängen desselben Guts. All dieses In-Bezug-Setzen verdeutlicht den Anspruch auf vollkommene logische Kohärenz. Die dabei unumgängliche Reduktion sensorischer Vielfalt auf Besser-schlechter-Relationen funktioniert so lange, wie die hinter den Urteilen stehenden Kriterien unhinterfragt Geltung beanspruchen können, beispielsweise solange sich der Markt nach Parkers Noten richtet.

Einen anderen Ton schlägt die amerikanische Weinzeitschrift Wine Spectator an. In ihren Beschreibungen werden Sinnesqualitäten aus anderen Kontexten auf Eigenschaften des Weins übertragen. Polierte Tannine schimmern, Flaschenreife bringt den Wein zum Singen, und der Abgang schwappt an den Gaumen, als handle es sich um das Gestade eines tiefen Sees. Ist das ein interessantes didaktisches Konzept? Alltägliche Sinnesqualitäten statt verquasten Weinsprechs? Aber sagt das Schimmern der Tannine wirklich etwas Substanzielles über die Gerbstoffqualität aus? Und wie singt Wein, wenn er reif ist? Der in dieser Sprache entfachte Sinnenzauber erstarrt in bloßer Attitüde.

Zu guter Letzt ein Autor deutscher Zunge: René Gabriel. Auch er ist ein Fachmann für Bordeaux und eine Kapazität auf seinem Gebiet. Beispiele für seine Diktion: „Eine Merlot-Droge […], im Finale dramatisch druckvoll und schlichtweg genial.“ – „Eine wahre Tannin-Bombe“ – „Eine Miss World in Rubens-Form!“ – „Es gibt auch heute noch keinen anderen Bordeaux, der so viel Sex-Appeal besitzt.“ – „Der Le Pin 2002 war nämlich so geil, dass ich ihn als einzigen von deutlich mehr als 500 Weinen nach dem Verkosten schluckte.“ – „Ein Le Plus […], der schon in fünf Jahren eine bombastische Orgie darstellen wird.“ – „Nach dem Schlucken bleibt das Rückaroma minutenlang im vor Wollust noch zuckenden Gaumen.“

In diesen Zitaten wird die persönliche Syntheseleistung der Autoren kenntlich, die sich an ihre sensorischen Weinbeschreibungen anschließen. Die Wahl der drei untersuchten Autoren war mehr oder weniger willkürlich. Verdeutlicht werden sollen dabei die Spielarten eines Problems, das der Weinjournalismus insgesamt hat. Der Schreibende dieser Zeilen nimmt nicht für sich in Anspruch, hiervon weniger als andere betroffen zu sein.

Aus den angeführten drei Modellen der Weinbeschreibung lassen sich folgende Angebote zur Sinnstiftung ableiten: Autorität, Kohärenz, Präzision (Parker), sinnlicher Lifestyle (Wine Spectator), Sex and Drugs – ohne Rock and Roll, aber mit ein wenig Militär (Gabriel). Alle drei Versuche, sensorische Qualitäten zu bündeln und zu vermitteln, bewegen sich recht weit abseits der ursprünglichen Eigenschaften des Weins. Parkers hermetischer Kosmos legitimiert sich vor allem faktisch durch das Verhalten der Märkte. Die Redeweisen des Wine Spectator funktionieren unter der (den Leser letztlich verniedlichenden) Annahme, ein wenig zusätzlicher Kitzel genüge schon, um den Leuten ihren Spaß zu geben. In Gabriels Angeboten, sich mit ihm zu begeistern, ist Synapsenbefeuerung das Leitmotiv. Dies macht Sinn, wenn man die Bedeutung des Weins vorrangig in seiner Wirkung als Stimulus und in einer leicht angeschwitzt wirkenden Dimension des Sexuellen sieht.

Allen drei Modellen ist zuletzt aber vor allem gemein, dass sie frei von inneren Brüchen sind und kaum Momente der Selbstreflexion enthalten. Alle drei Autoren machen die Grundlagen ihrer jeweiligen Syntheseleistung nur wenig transparent. So geben sie dem Leser keinen Leitfaden an die Hand, wie er seine eigenen sprachlichen und/oder wertenden Referenzsysteme zu denen der jeweiligen Publikation in Bezug setzen könnte. Vor allem aber bieten sie dem Leser wenig Anlass, sich sein persönliches Weinweltbild bewusst zu machen und seine eigenen Motive der Sinnstiftung weiterzuentwickeln.

Die Kehrseite dieser Kritik am Status quo der Weinkritik ist, dass es auch Leser geben muss, die sich mit allzu einfachen „Wahrheiten“ nicht begnügen wollen.

ULRICH SAUTTER, Jahrgang 1965, lebt in Hamburg und ist Redakteur der Zeitschrift Wein Gourmet, eines Schwestermagazins von Der Feinschmecker