Hartnäckiges Schweigen

Nicht nur aus Rache, auch als Strategie der Vertreibung werden in Kriegen bewusst Frauen und junge Mädchen vergewaltigt. Auf das Trauma sexualisierter Gewalt folgt das Trauma des Verschweigen-Müssens: Die Frauen leiden an der unverarbeiteten Gewalterfahrung zusätzlich zum eigentlichen Trauma lebenslang an seelischen Folgen und schweren Krankheiten. Aus Angst vor gesellschaftlichem Stigma und Scham schweigen sie und damit schützen sie wiederum die Täter. Vergewaltigung ist eine Form der Folter, bestätigen mittlerweile mehrere Urteile des Den Haager Kriegsverbrecher-Tribunals. Verschiedene Projekte befassen sich mit der Aufklärung und Aufarbeitung sexualisierter Kriegsgewalt und versuchen das Schweigen zu brechen: Projekt zu lebensgeschichtlichen Erinnerungen 1933–1945: Neue Arbeitsgemeinschaft für Zeitgeschichte und SozioAnalysen (NAZ) e. V., Nollendorfstr. 20, 10777 Berlin, Tel. (0 30) 7 52 58 54 (NAZ-online@web.de). Die Medica-Mondiale-Kampagne „Zeit zu sprechen“ zur Öffentlichmachung von sexualisierter Gewalt im und nach dem Zweiten Weltkrieg betreut Projekte auf dem Balkan, in Afghanistan und in afrikanischen Krisengebieten wie Darfur, Kongo, Uganda und Liberia (www.medica-mondiale.org). Ehrenamtliche Aktion „Frauen brechen ihr Schweigen, um zukünftiges Leid zu verhindern“ des Frauenverbands im Bund der Vertriebenen (www.vertriebene-frauen.de). Film zum Thema: „Anonyma – Eine Frau in Berlin“. Regie: Max Färberböck. Mit Nina Hoss, Evgenij Sidikhin, Irm Hermann u. a., zurzeit im Kino. Bücher: „BeFreier und Befreite. Krieg, Vergewaltigungen, Kinder“, Helke Sander, Barbara Johr (Fischer-TB-Verlag, 1995); „Erfahrungen sexualisierter Gewalt in der Lebensgeschichte alter Frauen“, Martina Böhmer (Mabuse-Verlag, 2000, 15,90 Euro); „Freiwild: Das Schicksal deutscher Frauen 1945“, Ingeborg Jacobs (Propyläen, 2008, 19,90 Euro); „Rotarmisten schreiben aus Deutschland“ Elke Scherstjanoi (Saur, 2004)

Eine Vergewaltigung im Zweiten Weltkrieg: Die Verarbeitung von Trauma und Scham

VON VERA KATTERMANN

„Auf Berlin einstürmende bewaffnete Mongolen“ – wenn Hitlers Propagandamaschinerie eines gekonnt beherrschte, dann war es das Bedienen der Klaviatur archaischer Ängste. Die realen Traumata des Zweiten Weltkriegs legierten sich in der Folge mit den nationalsozialistischen Schablonen einer Propaganda des Grauens und wirken aus psychoanalytischem Verständnis bis heute in den kollektiven Schichtungen des Unbewussten fort. Wie können wir Zugang finden zu diesen Facetten der kollektiven Erinnerung und was davon lässt sich entschlüsseln?

Die Neue Arbeitsgemeinschaft für Zeitgeschichte und Sozioanalysen (NAZ e.V.), ein 2007 gegründeter sozialwissenschaftlicher Verein in Berlin, untersucht in einem Projekt zur nationalsozialistischen Zeitgeschichte Erzählungen von Menschen über ihr Erleben der Jahre 1933–1945 mit dem spezifischen Schwerpunkt auf den Perspektiven von Frauen.

Der interdisziplinäre Zugang zum Verständnis ihres Erlebens ergänzt eine kleine und doch auffallende Lücke in der psychohistorischen Forschung: Zwar lässt sich insgesamt weiterhin eine Intensivierung der kollektiven Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Deutschland beobachten. Ihr markantestes Beispiel ist vielleicht das recht plötzliche und manchem inflationär anmutende Erinnern der „Kriegskinder“, das spätestens mit der gleichnamigen Tagung im April 2005 den Weg in die Zeitungsfeuilletons fand. Ein Erinnerungstabu jedoch scheint unverbrüchlich fortzubestehen: die Vergewaltigungen von Frauen während und zum Ende des Zweiten Weltkriegs.

Die häufige Vernachlässigung spezifisch weiblicher Untersuchungsperspektiven in der historischen Forschung ist bekannt, auffallend ist sie gerade im Hinblick auf sexuelle Gewalt. Möglicherweise ist es nicht nur die Scham der Frauen, die eine Auseinandersetzung um die massenhaft erlittenen Vergewaltigungen behindert hat, sondern sind es auch Scham- und Schuldgefühle vieler deutscher Männer, die ihrerseits als Wehrmachtssoldaten im Kontext ihrer Feldzüge Frauen vergewaltigten. Eine solche Dopplung der Abwehr könnte die Hartnäckigkeit des Beschweigens im Nachkriegsdeutschland erklären. Wenn jetzt die Verfilmung des zu Kriegsende verfassten anonymen Tagebuches „Anonyma – Eine Frau in Berlin“ in den Kinos läuft, dürfte dies die öffentliche Auseinandersetzung um Gewalt an Frauen im Kontext des Kriegs deutlich intensivieren. Bislang ist dieses anonyme Tagebuch eines der wenigen Zeugnisse, die detailliert zugänglich machen, wie und in welch vielfältigen Formen sexuelle Gewalt in der Kriegszeit ausgeübt wurde.

Ein anderes Zeugnis ist das Gedicht der Berlinerin Rose H., „Geschichte meiner Vergewaltigung 1945“: Es beschreibt eine spezifische Vergewaltigungssituation in einem Berliner Wohnzimmer zu Kriegsende und lässt darin auch die damit verbundenen, emotionalen Folgewirkungen der Frau anklingen.

In vielen TV- oder Kinoproduktionen werden solche Szenarien sexueller Gewalt im Kontext des Zweiten Weltkriegs zumeist nur kurz als hektische Keller- oder Treppenhausübergriffe angedeutet. Medial hat sich damit eine sehr reduzierte Vorstellung „typischer“ Vergewaltigungen durch (zumeist russische) Soldaten vermittelt und als visuelle Schablone in das kulturelle Erinnerungsreservoir gefräst. Das Gedicht von Rose H., zum Zeitpunkt ihrer Vergewaltigung fünfundzwanzigjährig, zeigt dahingegen ein „ungewohntes“ und mit Widersprüchen behaftetes Erleben der traumatischen Vergewaltigungssituation auf, das sich mit einem psychoanalytischen Verständnis eingehender aufschlüsseln lässt.

Das Gedicht ruft auch in uns als Leserinnen und Lesern intensive Gefühle hervor: Überraschung, Entsetzen, Unglaube, Lachen, Beschämung – ein irritierendes Gemisch an Reaktionen, die anzeigen, wie verwirrend und verstörend wohl auch die Dichterin die Vergewaltigungssituation erlebte. Die gewohnte Ordnung der Dinge ist zersprengt, die Gefühle fliegen gleichsam in Einzelteile zerlegt herum und kombinieren sich zu teilweise abstrus wirkenden Neuformationen. Das Gedicht weist fast durchgängig dieses Merkmal einer Montage von eigentlich Widersprüchlichem auf. Das zeigt sich zunächst im Hinblick auf die Form: Die Reimform schafft eine spezifische Atmosphäre unschuldiger Fröhlichkeit und steht damit in starkem Kontrast zum traumatischen Potenzial des Erzählten.

Durch die Melange aus saloppem Slang („Stalins Elitetruppe war es schnuppe“) und ironisch eingesetzter, gestelzter Sprache (wie die „herfürtretenden Soldaten“) wird assoziativ das Gefühl einer unbeschwerten, heilen bürgerlichen Welt wachgerufen. Wir denken an Szenen aus Wilhelm Buschs Klassikern, die ähnlich widersprüchlich humorvoll von kruder Gewalt erzählen, wie etwa mit dem „explosiven Attentat“ von Max und Moritz auf Lehrer Lämpel. Auch das Gedicht von Rose H. induziert in lyrischer Leichtigkeit eine Art Heiterkeitstrance, die einlullt und zugleich das empfundene Unbehagen und die Verwirrung vertieft.

Die Wahl der Reimform per se ist ein ästhetischer ebenso wie psychologischer Kunstgriff: Sie nötigt bestimmte sprachliche Darstellungszwänge auf, schafft einen dichterischen Abstand und übt einen Sog spezifischer Wortfindungsnotwendigkeiten aus. Gerade die festgelegte Reimfolge bildet ein haltendes und begrenzendes Korsett für die Darstellung der traumatischen Erfahrung. Rose H. hat damit eine ganz eigene Form gefunden, das Dilemma zu lösen, wie sich traumatisches Erleben überhaupt mitteilen lässt.

Auch inhaltlich zeigt sich das irritierende Zusammenspiel von Widersprüchlichem und Gegensätzlichem: Als Leserinnen und Leser werden wir Zeugen der Vermischung einer Vergewaltigungsszene mit einem „festlichen Schmaus“ bei Brot und Ölsardinen, die zu Kriegsende ein wahrer kulinarischer Schatz gewesen sein dürften. Die widersprüchliche Aufladung der Situation wird ja auch von der Dichterin angedeutet: „Wir schluckten sie gehorsam runter / die Russen war’n erstaunlich munter.“ Das Geschehen der Vergewaltigung wird insgesamt in einem eigentümlichen Phasenablauf beschrieben: Beginnt die Szenerie zunächst im Keller, in den „bewaffnete Mongolen“ eindringen, so arbeiten sich die Protagonisten des Weiteren in die Küche vor, wohin die Frauen „gebeten werden“, und schließlich wird die Erzählerin von einem „Offizier“ in ein Klavierzimmer gewinkt.

Angst und Schrecken der jungen Frau werden zwar durchaus angesprochen, wirken jedoch karikaturenhaft eingefroren: „Wir sah’n entsetzt uns an, verstohlen, Es war’n bewaffnete Mongolen!“ / „Wir, wie Hühner auf der Stange, vor ihnen zitterten so bange!“ oder „Das tat uns doch die Ruhe rauben!“. Hier zeigt sich konkret, wie die Reimform ermöglicht, dem Schrecklichen den Schrecken zu nehmen und es stattdessen in vertraute Wort- und Bildschablonen zu überführen. Und es zeigt sich auch: Die sexuelle Gewalt wurde eben nicht nur gleichsam animalisch von „bewaffneten Mongolen“ im Kellerdurchgang ausgeübt, so wie es von der NS-Propaganda als Bedrohung beschworen und zum Teil bis heute medial weiterkolportiert wurde – sie fand auch den Weg in die gutbürgerlichen Wohnzimmer unter dem Beiwerk klassischer Klavieretüden.

Mit diesem Überraschungseffekt spielt auch das Gedicht: Einhergehend mit der Verlagerung in einen bürgerlichen Klaviersalon wird die Vergewaltigung in eine Verführungssituation umgedeutet: „Ich ging mit ihm in aller Ruh / zu dem erahnten Rendezvous“. Das Winken mit der Pistole deutet an, wie stark in dieser Situation eigentlich das Empfinden von Ohnmacht und Hilflosigkeit gewesen sein muss.

In der ironischen Darstellung als Rendezvous wird diese Ohnmacht jedoch ausgeklammert und in ein Verhältnis der Wechselseitigkeit gewendet, in dem prinzipiell beide um das Gefallen des anderen ringen. Zu unserer Überraschung stellt die Vergewaltigte abschließend fest: „Nur, was empfunden hab ich nicht!“ Hier beschämt sie den Vergewaltiger als versagenden Freier, der nicht vermochte, sie sexuell anzusprechen oder gar zu befriedigen – eine für die Vergewaltigung eher absurd anmutende Idee, da die Empfindungslosigkeit ja als erleichternd erlebt werden könnte.

Fast Mai, da saßen wir im Keller.Das Ende nahte immer schneller.Der Worte Hitlers eingedenk, Hoffte Mama auf Armee Wenck!

In all dem Krach und Feuerblitzen,Sah man erwartungsvoll uns sitzen. Dann sprang sie auf, die Kellertür, Soldaten traten nun herfür:

Wir sah’n entsetzt uns an, verstohlen,Es war’n bewaffnete Mongolen!Stalins Auswahl-Elitetruppe, Und der war es nun ziemlich schnuppe,

Ob wir, wie Hühner auf der Stange, Vor ihnen zitterten so bange!Sie suchten Soldaten, -mit finsteren Mienen,-Nun, damit konnten wir nicht dienen.

Sie trieben uns an’s Tageslicht,Man hörte keinen Schuß mehr nicht.Krieg war definitiv vorbei,Und eigentlich war’n wir jetzt frei!

Doch bat man uns in eine Küche, Voll Rauch und anderer Gerüche, Und aus der engen Speisekammer,Ertönte Scheppern und Gejammer:

Die Nachbarin mußte dran glauben,Das tat uns doch die Ruhe rauben!Und ein Soldat – mittenmang der Töpfe,Schloß, hoch befriedigt – Hosenknöpfe!

Doch weil wir gar so hungrig schienen, Bot man uns Brot und Ölsardinen.Wir schluckten sie gehorsam runter, Die Russen war’n erstaunlich munter.

Ein Offizier winkt mit Pistole,Und ich begriff, daß er MICH hole!Ich ging mit ihm in aller Ruh’,Zu dem erahnten Rendezvous!

Im Zimmer, da stand ein Klavier,Das sollt’ ich spielen nun allhier.Doch da ich lange nicht geübt,War wohl mein Vortrag leicht getrübt:

Ich konnte nur eine Etüde,Des war der Russe alsbald müde,Er warf sich in den Se el schlapp,Und brach den Vortrag damit ab!

DANN BAT ER MIT GEWALT INS BETT.Leider war ich nicht sehr adrett.Die Unterwäsche nicht mehr reinlich,Das war mir ganz besonders peinlich!

Er hielt es wohl für seine Pflicht,Nur, was empfunden hab ich nicht!

Als ich dann wieder angekleidet,War ihm die Angelegenheit verleidet.

Ich schlich von dannen, fast betrübt:Hätte ich doch bloß mehr geübt:

Denn die Blamage am Klavier,Niemals verzeihe ich die mir!

Alleine ging ich für mich hin, Freunde besuchen fest im Sinn.Vor Augen eine Sonnenbrille,Die Einz’ge noch, denn leider vieleDer Augenhilfen war’n entschwunden,Hatten im Krieg ihr End’ gefunden!Ein junges Militär mit Rad, Mich barsch um diese Brille bat.

Doch ohne Glas konnt’ ICH nichts sehen. Ich bat, kaum konnt’ er mich verstehen,Die Brille einmal aufzusetzen!Zu meinem heimlichem ERgötzen, Konnt’ er nichts sehen, welch ein Glück,

Postwendend gab er sie zurück!Verschwand mit dem – geklauten – Rad,Und ich lief weiterhin zur Stadt!

Die Autorin dankt der Dichterin für ihre Bereitschaft zur Veröffentlichung des Gedichts.

Die traumatische Ohnmacht ist hierdurch aber gekonnt aus dem Erleben getilgt und die Scham dem Täter zurückgegeben: Die Dichterin beschreibt in ihren Versen auch seine „Vergewaltigungsblamage“. Aus der Vergewaltigten, über die gewaltsam verfügt wurde, ist eine Demoiselle geworden, die sich über das sexuelle Unvermögen ihres Freiers mokiert. Er erscheint hier lächerlich, ähnlich wie auch der Vergewaltiger der Nachbarin, der sich inmitten scheppernder Kochtöpfe die Hosen zuknöpft. Dies ist eine wesentliche Wendung der Interpretation, die das Gedicht vornimmt und die das Trauma der Beschämung zu mildern hilft: Versagen und Beschämung werden nachträglich an den Täter zurückgegeben.

Dennoch bleibt die Scham der Erzählerin sehr spürbar und wird im Gedicht intensiv bearbeitet. Sie bezieht sich jedoch auf einen überraschend harmlos wirkenden Nebenschauplatz: das Klavierspiel und die Sauberkeit der Unterwäsche. Der Offizier beschämt die junge Frau, indem sie ihm vor ihrer Vergewaltigung noch eine Klavierdarbietung geben soll. Dass ihr „Vortrag leicht getrübt“ war, überrascht kaum, wenn wir uns ihre eigentliche Angst ausmalen – sie selbst führt es jedoch auf nachlässiges Üben zurück.

Wir spüren verwundert mit ihrer Beschreibung die Enttäuschung, diese Darbietung nicht besser gemeistert zu haben und den Vergewaltiger damit nur „müde“ und „schlapp“ in den Sessel zu drücken. Hier empfinde ich als Leserin die situative Verdrehung besonders stark: die Überlagerung einer sexuellen Vergewaltigung durch eine Zwangssituation, in der es um Macht, Unterwerfung und kulturelle Ästhetik geht. Nicht nur die sexuelle Würde dieser jungen Frau wird angegriffen, sondern auch ihre bürgerlichen Werte und Fertigkeiten. Diese Demütigung macht die Vorgeführte jedoch nicht trotzig oder wütend, sondern sie erlebt sie als die eigentliche und bleibende Erniedrigung: „Ich schlich von dannen, fast betrübt / Hätte ich doch bloß mehr geübt: / Denn die Blamage am Klavier / Niemals verzeihe ich die mir!“

Diese Beschämung spiegelt sich auch in der Scham über ihre „nicht mehr reinliche Unterwäsche“: Hier sind wir überrascht, dass sich die Vergewaltigte dafür schämt, ihrem Vergewaltiger nicht gefallen zu können („leider war ich nicht adrett“). Die Fantasie, die das Gedicht andeutet, lautet: „Eine Frau muss Männern durch Reinlichkeit und Kultiviertheit gefallen, dann vermag er auch, sie zu befriedigen.“ In diesem Gegenentwurf zur Vergewaltigung ist die Frau eine Akteurin, eine Handelnde, Lenkende, wenn auch nicht Bestimmende, und das Trauma ist nicht mehr eines der sexuellen Schändung, sondern eines der kulturellen Beschämung. Die Intensität, mit der die Dichterin diese Umdeutung der Vergewaltigungssituation erlebt, erklärt sich vielleicht indirekt aus dem Kontext: Eingeführt ist das Mithören der Vergewaltigung, das sie am Beispiel der Nachbarin beschreibt, hier schepperten die Kochtöpfe. Eingeführt ist gleich zu Beginn auch die Mama, die fortan durchgängig durch die Wir-Form präsent bleibt. So geht es letztlich vielleicht nicht nur um die Beschämung vor dem Offizier selbst, sondern vor allem auch vor den Ohren der Mama, die das „Üben der Etüden“ möglicherweise zuvor streng einforderte. Was wir dann als unbewusste Dimension ergänzen können: Nicht nur das offenbar klägliche Klavierspiel, sondern auch die sexuelle Gewalt wurde mitangehört. Die Fatalität der Vergewaltigung liegt dann vor allem auch darin, dass die Mutter Zeugin war und als Zeugin im Leben der Frau präsent bleiben wird. Die bleibende Scham über die gewaltsam erzwungene sexuelle Intimität vor der Mutter kann unsere Irritation über die überstark betonte Beschämung durch das mangelhafte Klavierspiel verständlich machen. Dass es letztlich eine Bagatelle ist, die als bleibende Beschämung überdauert, ist aber auch der humoristische Triumph des Gedichts: dass das stümpernde Klavierspiel als so furchtbar empfunden wird, ist zum Lachen, scheinbar wirklich amüsant. Die Dichterin kann durch den Kunstgriff der Verschiebung der Scham ihre Heiterkeit begründen. Damit hat sie das sexuelle Trauma mittels des Gedichts gleichsam weggelacht.

Rose H. sagt heute zu ihrem Gedicht: „Die Russenvergewaltigung war wirklich komisch! Es ist doch gut, dass ich drüber lachen kann, und es war gut für meinen Charakter, dass ich das alles vergessen habe seelisch.“ Das Gedicht war für sie offenbar ein hilfreicher Weg, das zerstörerische traumatische Potenzial zu bannen.

In ihrer Reimfertigkeit hat sie zudem doch noch das gekonnte Beherrschen von bürgerlichen Kulturtechniken bewiesen. Uns als Leserinnen und Lesern hat sie gezeigt, dass sexuelle Gewalt gerade auch durch den Kontext, in dem sie ausgeübt wird, zersetzend wirken kann, und wie wichtig es ist, individuelle Wege zu finden, die traumatische Erfahrung zu verarbeiten.

VERA KATTERMANN, Jahrgang 1967, arbeitet als Psychoanalytikerin in Berlin. Ihr Interessenschwerpunkt sind die psychischen Folgewirkungen totalitärer Systeme und kollektive Vergangenheitsbearbeitung. 2007 erschien ihr Buch „Kollektive Vergangenheitsbearbeitung in Südafrika. Ein psychoanalytischer Verständnisversuch der Wahrheits- und Versöhnungskommission“. Gießen, Psychosozial-Verlag, 36 Euro