Brünhild auf dem Sattel

FAHRRÄDER Eine Ukrainerin schaut sich in Deutschland um und sieht: Die Nation fährt Rad. Plötzlich kommt sie sich vor wie die letzte Jungfrau. Dann steigt sie auf

Ich konnte nicht Fahrrad fahren, war intakt in meiner Weiblichkeit und stolz auf die eigenen Unfähigkeiten

VON KATJA PETROWSKAJA

Ich kann nicht Fahrrad fahren. Das sagte ich immer wieder. Kurz, stolz und stur: „Ich kann es nicht!“ Diese Formel gehört überhaupt zu den häufigsten, die aus den Mündern osteuropäischer Frauen ertönen. Reizend! Die letzte Zitadelle der Weiblichkeit. Aber auch sie ist durch die Osterweiterung in Gefahr geraten.

Früher fuhr bei uns niemand Fahrrad. Das war gar nicht möglich: Die Straßen waren, wie man sich nun erinnern mag, „sechsspurig“, die Entfernungen riesig und die Luft schlecht. Die Städte wurden für den öffentlichen Verkehr geplant. Bei uns zählte das Kollektiv, das Individuum war kein Element in den sowjetischen Berechnungen. Wie es Majakowski so schön formulierte: „Die Eins ist eine Null.“ Und die Null konnte nicht Fahrrad fahren.

Nullen fahren U-Bahn

Null konnte sich nur in großen Mengen zur runden Zahl machen und sich bewegen. Die Metropolen der Sowjetunion waren U-Bahn-Städte: oben die Stadt, unten die Masse des Ameisenhaufens. Ameise zu sein gab Kraft, aber nahm den Willen. Meine ganze Kindheit habe ich in der U-Bahn verbracht. Ich fuhr hin und her. Und dann wieder hin und zurück. Fahrrad dagegen bin ich nie gefahren.

Kiew, wo ich aufgewachsen bin, ist eine Drei-Millionen-Stadt. Kiew ist sehr hügelig. Es fiel damals niemandem ein, mit dem Fahrrad durch die Stadt zu fahren. Im alten Zentrum hätte man sofort ein Mountainbike gebraucht. Es gab damals so eine offizielle Losung: „Die Gewerkschaften sind die Schulen der Kommunisten.“ Mein Vater reimte darauf: „Und Kiew ist die Schule der Alpinisten.“ Er hatte recht.

In der Stadt gehörten Fahrräder zur Freizeit oder sogar zum Luxus. Es waren ausschließlich Jungs, die in unserem großen Hof zwischen den Plattenbauten – den vier neunstöckigen und unserem vierzehnstöckigen – umherfuhren. Viele Mädchen haben Fahrrad fahren gelernt, mit fünf, sechs Jahren. Aber danach war Schluss. Es war unnötig.

Nur auf dem Land fuhren auch Erwachsene Fahrrad. Für mich war ein Fahrrad immer ein Zeichen von Provinz, Datscha und den blöden Jungs. Ich dagegen war ein perfektes Mädel der spätsozialistischen Epoche. Ich konnte nicht Fahrrad fahren, war intakt in meiner Weiblichkeit und stolz auf die eigenen Unfähigkeiten.

Wie schnell, wie verrückt

Meinen ersten „Fahrradschock“ erlebte ich in Amsterdam. Diese Radfahrer – wie schnell, wie verrückt, wie unbekümmert! Danach kam ich nach Deutschland und erlebte das Gleiche: Alle fuhren Fahrrad. Ich ging schlafen, stand auf, frühstückte und immer noch fuhren alle Fahrrad. Verdammt, dachte ich, die ganze Nation fährt Fahrrad! Es gehört zum Alltag. Und als man über Integration sprach, wusste ich genau Bescheid, was mich vom deutschen Volk trennt.

Die Fahrradleute schienen mir sehr grob. Die Frauen – wie Brünhild auf Fahrrädern! Sie schwangen ein Bein hoch wie Hunde und dann flogen sie wie Walküren, sie gehörten doch immer noch zur Musiknation. Starke Oberschenkel, kräftige Sitzbacken und irgendeine ganz andere deutsche Würde. Ich kam mir so fragil und einsam vor. Wie ein richtiges Ausländerkind. Alle können das – alle, nur ich nicht.

Irgendwie schien Fahrrad fahren auch sexy. Oder wie man sagt, geil. Obwohl mittlerweile hier in Deutschland alles geil geworden ist. Man weiß nun nicht mehr, wo man sich ausruhen soll.

Ich glaube inzwischen, dass Fahrrad fahren ein echter Nationalsport ist, vergesst Fußball! Ohne Fahrrad zu fahren habe ich mich wie eine Jungfrau der deutschen Nation gefühlt. Die Jungfrau auf der Schwelle zur großen Entscheidung. Sein oder doch fahren? Irgendwann war es zwar mal sehr würdevoll, eine Jungfrau zu sein. Aber die Zeiten sind nun wirklich vorbei. Schade?

Integrationslücke Fahrrad

Ich erinnere mich an mein kleines Dreirad, das auf dem Balkon unserer alten Wohnung im Zentrum Kiews stand. Es war das erste und das letzte Fahrrad meiner Jugend. Das nächste kam knapp dreißig Jahre später.

Irgendwann ging es nicht mehr ohne Fahrrad. Ich hatte zwei Kinder, ich war erwachsen und musste meinen Lieferservice erfüllen: Kita – Arbeit – Kita – Musikschule – Einkaufen – nach Hause. Das war die wahre Integration. Zu Fuß war es schlicht nicht mehr zu schaffen. Und Auto konnte ich auch noch nicht fahren. Da habe ich entschieden, mich von meiner fast aristokratisch inszenierten Unfähigkeit zu verabschieden. Das Verpasste nachzuholen.

Damals amüsierte ich viele Leute. Erst übte ich auf der freien Fläche des ehemaligen Supermarkts Norma. „Norma“ wurde auch von Maria Callas gesungen. Sie hatte noch größere Probleme im Leben als ich, und das tröstete mich irgendwie beim Üben. Die vietnamesischen Zigarettenschmuggler unseres Kiezes versammelten sich, um mir zuzuschauen. Sie wussten nicht, was sie davon halten sollten: Eine erwachsene Frau dreht Runden auf dem Fahrrad, macht dabei eine Reihe komischer Figuren und hat Spaß daran! Danach haben sie mich immer gegrüßt, obwohl ich nicht rauche. Sie grüßen mich immer noch.

In der ersten Fahrradzeit war ich sehr glücklich. Ich war immer an der Spitze der Ereignisse. Ich musste damals immer die Leute anschreien und warnen: „Achtung! Achtung! Ich fahre!“, oder „Vorsicht! Ich kann nicht lenken!“ Ich fuhr immer tagsüber und habe dadurch viele Männer kennengelernt: Ich war schon am helllichten Tage unstabil und wackelig. Alle wollten mit mir reden und anderes. Niemand verstand, dass ich gerade Fahrrad fahren lerne. „Warum lenkst du so?“, fragte mich meine Nachbarin einmal irritiert. Eigentlich war sie einfach neidisch.

Mein erstes Fahrrad war auf einem Baumarkt gekauft worden. Es hieß „Hurricane“ oder so, und das passte irgendwie zu meinem damaligen Fahrstil. Das Fahrrad war nicht gut. Ich habe es aber sehr geliebt. Später habe ich sogar einen Fahrradanhänger für meine Kinder gekauft und bin durch die ständige Fahrerei sehr sportlich geworden. Wie viele Stunden meines Lebens habe ich vergeblich versucht, mein Fahrrad ohne Ständer gerade hinzustellen und das Schloss, das schon vor dem Kauf verrostet war, auf- und zuzumachen!

Mein „Hurricane“ war oft kaputt. Dadurch habe ich meinen ersten Verehrer in Deutschland bekommen. Der war von seltener Kostbarkeit. Er war nämlich unsichtbar. Invisible. Immer als ich in der Kita war, um meine Kinder zu bringen oder abzuholen, hat er heimlich mein Fahrrad gepflegt. Wir haben uns später kennengelernt. Er hieß leider genau so wie mein Mann, aber nannte sich Bicycle Repair Man. Schutzengel der modernen Zeiten.

Die vielen Jahre, die ich ohne Fahrrad versäumt habe, zahlten sich langsam aus: Ich habe immer noch viel mehr Freude am Fahren als alle anderen. Den Moment der Trägheit spüren und ihn überwinden, losfliegen, den Wind fließen lassen und dabei eine Arie aus „Norma“ singen. Herrlich! Und ganz normal: Ich fahre jetzt jeden Tag. Aber wer guckt mir noch hinterher?

P.S.: Als ich schon ganz normal fahren konnte, habe ich ein „Flying Dutchman“ von Batavus gekauft, um zusammen mit den Brünhilden zu fliegen. Das fliegende Volk akzeptierte mich aber nicht lange: Mein Fahrrad wurde geklaut. Ich trauere immer noch. Liebe Leserinnen und Leser! Vielleicht ist der Dieb unter euch?

■ Katja Petrowskaja, promovierte Literaturwissenschaftlerin, geboren in Kiew, ist zurzeit Berlin-Kollumnistin der Moskauer Zeitung „Snob“