Erst Euphorie, dann Ideenkrise

OSTTAZ Der Fall der Mauer brachte der taz einen Boom mit riesiger Auflage, die komplett wieder verloren ging, und eine Handvoll neuer MitarbeiterInnen

Die Integration des Ostens war den tazlern aus dem Westen keine Herzensangelegenheit

VON KARL-HEINZ RUCH

Manchmal passieren Dinge, die man sich einfach nicht vorstellen kann. Der Fall der Berliner Mauer war so ein Ereignis. Im Westberlin der Siebziger- und Achtzigerjahre hat man als vor der Bundeswehr „geflüchteter“ Student die Mauer nicht sonderlich wahrgenommen. Sie war eine große Mal- und Plakatwand und ansonsten ein Hindernis, das auf dem Weg zur taz von Kreuzberg in den Wedding zu einem Umweg nötigte.

Im Sommer 1989 war die taz-Belegschaft an die Kreuzberger Seite der Mauer gezogen, in die Kochstraße, direkt am Checkpoint Charlie. Nun konnte man das, was bald passieren sollte, direkt vor der Haustür beobachten. Die Mauer fiel und die Massen strömten nach Westberlin. Wir standen an den Grenzübergängen und verteilten die taz, damals für viele in der Opposition der DDR ein Mythos. Nun konnten sie nicht nur taz lesen, sondern auch mit tazlern darüber diskutieren, wie man in der DDR zu einer freien Presse kommt und ob man nicht auch dort eine taz herausgeben könnte.

Noch lief dort nichts ohne die SED, die seit Dezember 1989 SED-PDS hieß und in deren Führung Lothar Bisky für Medien zuständig war. Mit ihm gab es bald ein Treffen, Wohlwollen für die Idee einer Ost-taz wurde signalisiert, und von da an gab es nur noch praktische Probleme zu lösen. Papier musste her und vor allem Räume mit Telefonen. Beides kam von der „Partei“, das Neue Deutschland musste Papier für 100.000 Exemplare aus seiner fallenden Auflage für eine Ost-taz abgeben, und die Redaktion wurde in den ehemaligen Räumen der Westabteilung des ZK untergebracht.

Am 26. Februar 1990 erschien die erste Ost-taz, geschrieben, redigiert und gestaltet von 30 neuen KollegInnen aus dem Osten mit Unterstützung weniger Westtazler. Man bediente sich aus den Texten der West-taz wie aus einem Steinbruch, veröffentlichte aber vor allem eigene Beiträge.

Das Experiment Ost-taz dauerte nicht lange. Mit der Einführung der D-Mark in der DDR wurde ihm zum 1. Juli 1990 die wirtschaftliche Basis entzogen. Einige der KollegInnen gingen in die Kochstraße und produzierten noch für einige Zeit eine FNL-, eine „Fünf Neue Länder“-Seite. Andere gingen in die Medien, die sich gerade überall gründeten.

Was bleibt nach zwanzig Jahren außer der schönen Erinnerung an eine Revolution, bei der wir zum Mitmachen eingeladen wurden und in der wir auch für kurze Zeit ein abenteuerliches Stück Mediengeschichte mitschreiben durften?

Obwohl die taz für viele Oppositionelle in der DDR ein Mythos war, war die Integration des Ostens den tazlern keine Herzensangelegenheit. Sie haben sich sehr schwergetan, hielten sich auf Distanz, das Fremdeln hat Jahre gedauert. Hier begegnete sich eine Generation aus zwei vollkommen unterschiedlichen Gesellschaften, der Abstand hätte nicht größer sein können. Gerade der gestandene tazler, der seine politische Sozialisation im geschützten Westberlin der Siebziger- und Achtzigerjahre erlebt hatte, konnte mit der nun offenen Stadt und ihren Möglichkeiten wenig anfangen.

Hatte der Mauerfall in der taz noch einen kurzen Auflagenboom und publizistische Euphorie ausgelöst – schließlich war sie als einzige überregionale Tageszeitung zur richtigen Zeit am richtigen Ort –, folgte darauf ein Jahrzehnt mit chronisch abfolgenden Auflagen- und Sinnkrisen und ständig wechselnden Chefredaktionen. Aus ihrem Heimvorteil Berlin hat die taz im letzten Jahrzehnt des ausgehenden Jahrhunderts erstaunlich wenig gemacht.

Klar, es gab auch ein paar objektive Gründe für die Schwäche der taz in diesem Jahrzehnt der Investoren, in dem alle deutschen Pressekonzerne Geldpipelines nach Berlin legen ließen, um dort ihre statthaltenden Organe in Zeitungskriegen zu befeuern. Umso notwendiger wäre es für die taz gewesen, dem mit einer eigenen Idee zu begegnen. Aber dazu war die Generation Wende nicht in der Lage.

Aber – dem schon immer falschen Spruch, dass früher alles besser war, kann die taz getrost entgegensetzen: Nein, heute ist es besser! Eine neue Generation der nach dem Fall der Mauer sozialisierten und politisierten MitarbeiterInnen übernimmt Verantwortung. Dabei spielt es keine Rolle mehr, ob jemand aus Leipzig oder München kommt.

PS: Von den 30 MitarbeiterInnen, die 1990 bei der Ost-taz anfingen, arbeiten heute noch fünf in der taz: zwei in der Redaktion, zwei in der Produktion, einer im Controlling.

Karl-Heinz Ruch, 55, ist taz-Geschäftsführer. Geboren 1954 in Löningen/Oldbg., lebt er heute in Westberlin und Brandenburg