Alles hat ein Ende

SCHLUSSAKKORD Als die „Perfekte Welle“ von Deutschrockern wie Silbermond durchs Land rollte, wurden auch Virginia Jetzt! nach oben gespült. Fast waren sie Stars. Dann erfasste sie die Krise des musikalischen Mittelstands. Jetzt hören sie auf

■  Die Band: Es fing an mit einer Demo-CD, die die vier Jungs aus Brandenburg, dem Berliner Jugendradiosender Fritz schickten. Der Sender spielte ihre Songs. 2003 erschien das erste Album „Wer hat Angst vor Virginia Jetzt!“. Mit „Anfänger“ gelangten sie ein Jahr später in die Top 20 der Charts. „Land unter“ erreichte 2007 noch Platz 31, „Blühende Landschaften“ 2009 nur noch Platz 65.

■  Der Abschied: Im Mai 2010 gaben Virginia Jetzt! ihre Auflösung bekannt.

■  Die Tour: Die letzte Tour beginnt am 11. Oktober in Wien. Der erste Abschlussauftritt in Deutschland findet am 12. Oktober in Frankfurt statt. Die Tournee endet am 22. Oktober im Admiralspalast in Berlin. Die genauen Daten unter: www.virginia-jetzt.de

VON THOMAS WINKLER
UND AMÉLIE LOSIER (FOTOS)

In der Luft hängt der feine Staub der Veränderung. Der Dreck, der anfällt, wenn die Welt sich weiterdreht. Er schmeckt nach Holz und nach Neuanfang, der Staub, und er setzt sich ab auf Angelo Gräbs. Er färbt seine Haare grau und auch das T-Shirt, das einmal schwarz war und auf dem noch schemenhaft der Schriftzug einer recht bekannten amerikanischen Rockband zu erkennen ist.

Es ist noch gar nicht lange her, da war Gräbs selbst so etwas wie ein Rockstar. Heute baut er ein Hochbett. Als Altbaurenovierer fräst, bohrt und schraubt er. Draußen schieben die Macchiato-Mütter ihren Nachwuchs durch Berlin-Prenzlauer Berg, vorbei an Bioladen und Sushi-Bar. Eine von denen wird bald hier wohnen. Oben an der Decke ist der alte Stuck wieder freigelegt, im Nebenzimmer stapeln sich Umzugskisten. „Die wollten eigentlich schon eingezogen sein“, sagt Gräbs.

Früher hat Angelo Gräbs sein Geld nicht mit der Renovierung von Altbauwohnungen oder der Inneneinrichtung von Clubs in den schicken Vierteln Berlins verdient, er ist nicht früh ins Bett gegangen, weil er so fertig war von der Arbeit und weil er wusste, dass seine Tochter früh aufwachen wird. Früher hatte er einen anderen Rhythmus, er hat lange geschlafen und länger gearbeitet, er war unterwegs auf Tour und ist in den Clubs aufgetreten, deren Theke er heute baut. Wenn er nachts nach dem Auftritt ins Bett gehen wollte, konnte er nicht einschlafen, das Adrenalin. Früher hat Gräbs Schlagzeug gespielt. Davon konnte er leben. Heute sagt er: „Ich muss jetzt erst mal Geld ranschaffen.“

Angelo Gräbs ist 30 Jahre alt. Die vergangenen elf davon war er Schlagzeuger bei Virginia Jetzt! Elf Jahre hat er, wie das oft die Rolle des Schlagzeuger in einer Rockband ist, „den Laden zusammengehalten“. Das muss er jetzt noch genau 13 Tage tun. Dann spielen Virginia Jetzt! ihr letztes Konzert. Nach elf Jahren, vier Alben, mehr als sechzig Songs, nicht ganz fünfhundert Auftritten und ungezählten Stunden im Übungskeller. Dann, an einem Freitag im Oktober, nach einem letzten Auftritt in ihrer Heimstätte Berlin, werden sich Virginia Jetzt! auflösen.

Sie waren ein Jahrzehnt lang ein fester Faktor in der deutschen Musiklandschaft. Bekannt, aber nicht berühmt. Sie hatten Fans, wenn auch keine Massen. Sie waren Teil des breiten musikalischen Mittelstands, der ein paar zehntausend Platten verkauft, ein paar hundert Menschen zum Konzert lockt und einigermaßen davon leben kann. Sie waren wie viele andere Bands, und nun hören sie auf. Warum?

Es gibt darauf eine ganz schlichte, ökonomische Antwort. Und dann, wenn man mit jedem der vier spricht, die elf Jahre lang zusammen Musik gemacht haben, kristallisiert sich eine andere Antwort heraus. Eine, die nicht ganz so einfach ist, sondern kompliziert, wie das eben wird, wenn so eine eheähnliche Gemeinschaft sich trennt.

Die ökonomische Antwort wäre die: Von der Musik zu leben, wird immer schwieriger. Denn die Krise, unter der die Musikindustrie seit Jahren ächzt, betrifft nicht nur den kleinen Plattenladen, der ausstirbt, die große Plattenfirma, die meint, immer mehr Mitarbeiter outsourcen zu müssen, oder das Indie-Label, das die Musik nur als Download anbietet, weil es sich nicht mehr lohnt, CDs brennen zu lassen. Sie betrifft natürlich auch die Musiker selbst, die das Produkt Musik herstellen. Ein Produkt, das es heutzutage scheinbar überall gibt – und meist auch noch umsonst.

Deshalb reduzieren immer mehr Bands die Musik zu einem Hobby oder lösen sich ganz auf. Bands wie Virginia Jetzt!, die ein paar Platten in die Charts brachten und einen eigenen Fanclub hatten. Bands, die im Fernsehen waren und bei Festivals im Sommer schon mal vor zehntausenden Menschen gespielt haben. Bands, die Erfolg hatten. Immerhin so viel, dass es Menschen gibt, die sich zu ihrer Musik verliebt haben, und andere, die den Namen der Band auf ewig als Tätowierung tragen. So viel Erfolg, dass vier Musiker einigermaßen davon leben konnten, und ein Manager und vielleicht noch ein Roadie und der Tonmischer, wenn sie sich noch eine zweite Band suchten. So viel Erfolg wie Virginia Jetzt! einmal hatten.

Doch diese Krise, die schon lange kein Ausnahmezustand mehr ist, sondern Alltag im Geschäft mit der Popmusik, sie trifft vor allem den musikalischen Mittelstand. Denn wenn die CD-Verkäufe einer Lady Gaga im zweistelligen Prozentbereich einbrechen, muss sie vielleicht einen Hutdesigner einsparen. Und auch das musikalische Prekariat, die Bands, die jung und hungrig auf die Bühnen drängen, weil sie die Welt verändern oder wenigstens Mädchen beeindrucken wollen, die wird es immer geben.

Solch eine Band waren auch Virginia Jetzt!, als sie sich 1999 gründeten in Elsterwerda, einem Städtchen im Süden Brandenburgs. Kurz darauf ziehen Schlagzeuger Gräbs, Gitarrist Thomas Dörschel, Bassist Mathias Hielscher und Sänger Nino Skrotzki zusammen nach Berlin. Sie treten auf in kleinen Clubs, sie nehmen erste Songs auf, die tatsächlich ab und an von lokalen Radiosendern gespielt werden. Bei Interviews trinken sie Apfelsaftschorle, und bei den Konzerten tauchen immer öfter die Talentspäher der Plattenfirmen auf. Am Ufer der Spree hat der Unterhaltungsmulti Universal gerade seine neue Deutschlandzentrale errichtet. Und wenn die vier dort vorbeilaufen, dann sagt einer garantiert, der Laden gehört bald uns. Oder so was Ähnliches. Dann lachen alle. Aber kurz darauf unterschreiben die vier aus der kleinen Stadt tatsächlich einen Vertrag bei der großen Plattenfirma.

„Es gibt viele Faktoren, die den Erfolg von Musik bestimmen“, sagt Thomas Dörschel, vor allem aber „kommt es darauf an, dass man einen Nerv trifft“. Dafür war vor allem er zuständig, denn Dörschel spielte Gitarre, Piano, und er schrieb die Lieder der Band, „alle bis auf eins“. Diese Lieder haben den Nerv, findet Dörschel, „eine ziemlich lange Zeit getroffen“. 2004 gelingt ihnen fast so etwas wie ein Hit. „Ein ganzer Sommer“ steigt bis auf Platz 28 der deutschen Charts, das Album „Anfänger“ sogar bis auf Platz 17. Bei der Tournee spielen sie in mittelgroßen Hallen vor tausenden Menschen, die nur ihretwegen gekommen sind. Es ist das Jahr, in dem Julis „Perfekte Welle“ durchs Land rollt, Silbermond ihr erstes Album veröffentlichen, Mia ihr „Hungriges Herz“ besingen und Wir sind Helden ihr eigenes „Denkmal“ schon wieder abreißen wollen.

Es ist eine gute Zeit für deutschsprachige Popmusik und für Virginia Jetzt!. Ihre Musik ist eingängig und gefühlig. So gefühlig, dass aus der Indie-Gemeinde, der sie sich verbunden fühlen, immer wieder der Vorwurf kommt, sie seien allzu nah dran an der Schlagermusik. Beste Voraussetzungen also für den großen Erfolg.

Doch dann lief irgendetwas falsch. „Unser Sänger“, sagt Dörschel, „hatte keine Brüste.“ Er lacht dabei. Ein Witz. Aber er lacht leise. Nicht, weil das jemanden stören könnte, das Lachen geht unter im Stimmengewirr der Mensa II der Freien Universität Berlin. Aber Dörschel ist jemand, der leise lacht, selbst wenn er recht hat. Denn das, was übrigblieb von diesem Sommer, waren tatsächlich jene Bands, deren mediales Erscheinungsbild von einer Frau bestimmt wurde. Wir sind Helden, Mia, Juli.

Das nächste Album von Virginia Jetzt!, „Land unter“, verkauft sich aber nur noch 25.000-mal, nicht halb so oft wie „Anfänger“. Es hält sich nur zwei Wochen in den Charts. Die Plattenfirma ist enttäuscht, die Band auch. In manchen Städten, in denen kurz zuvor noch 2.000 die Band sehen wollten, kommen nun nur noch 200 zum Konzert. Im Titelsong des Albums heißt es prophetisch: „Von ganz weit oben ging’s ganz tief runter.“

Die Hallen wurden kleiner, der Schlagzeuger Vater

Unten ist zwar relativ. Da unten, wo Virginia Jetzt! wieder waren, hätte es vielen anderen Bands immer noch gut gefallen. Aber für die vier war es ein Abstieg: Die Hallen wurden wieder kleiner, auch die Busse, mit denen man zwischen ihnen hin und her fuhr. Virginia Jetzt! wurden älter. Der Schlagzeuger wurde Vater. Und die Menschen von der Plattenfirma waren immer weniger enthusiastisch.

„Der Erfolg hat nur bedingt etwas mit der Qualität der Musik zu tun“, sagt Dörschel und stochert in seinem Kaiserschmarrn. Das sei das Einzige, was man in der Mensa II essen könne, sagt er. Im vergangenen Jahr hat er einen Song geschrieben, der hieß: „Dieses Ende wird ein Anfang sein“. Da wusste er, da wusste die anderen, dass es sie bald nicht mehr geben würde. Noch bevor sie den Song aufnahmen für das vierte und letzte Album, hatte die Band beschlossen, sich zu trennen.

Seitdem hat Dörschel wieder mehr Zeit, in der Mensa II zu Mittag zu essen und sein Studium der Publizistik und Kommunikationswissenschaften, Nebenfach Philologie, nach geschätzten 16 Semestern doch noch zu Ende zu bringen. Er ist jetzt 33 Jahre alt und hat festgestellt, dass „22-Jährige völlig andere Probleme haben“. Aber er ist gar nicht der Älteste hier: Joy Delanane hat er schon an der Uni getroffen, die Sängerin studiert Linguistik. Und das Exmodel Nadja Auermann ist im zweiten Semester.

Dörschel dagegen steht kurz vor seinem Abschluss. Den will er unbedingt haben, sagt er, vor allem aber will er „natürlich weiter Musik machen“. Er hat angefangen für andere zu schreiben und den einen oder anderen Song verkauft. „Ich habe mir einen Traum erfüllt“, sagt er über die erfolgreiche Zeit, „aber ich gebe den Traum auch nicht auf.“ Er kann sich vorstellen, es noch mal mit einer anderen Band zu versuchen. Dennoch: „Es ist ein großes Glück, drei Menschen zu finden, mit denen man so lange an einem Strang ziehen kann.“

Menschen entwickeln sich. Das ist die andere Antwort auf die Frage nach den Gründen für die Auflösung, die weniger ökonomische. Oft entwickeln diese Menschen sich in verschiedene Richtungen. Alte Konflikte werden verbissener. Aus Freunden werden Fremde. „Das, was die Faszination einer Band ausmacht, dass vier unterschiedliche Menschen einen gemeinsamen Nenner finden, das war aufgebraucht“, sagt Dörschel. Er sagt, dass die Auflösung „zwar keine Niederlage, aber eine große Enttäuschung“ sei, und dass er ein gutes Jahr gebraucht hat, um endgültig abzuschließen mit der Band. „Mir wird vieles fehlen“, sagt er. „Wir“, sagt er und meint die Band, „wir haben viele Fehler gemacht, aber es gibt nichts zu bereuen.“ Dann blickt er sich um in der Mensa und sieht all die 22-Jährigen, die ganz andere Probleme haben.

Mathias Hielscher, der Bassist, hat nur kurz Zeit für ein schnelle Mahlzeit, zwischen dem Nachmittag, als er in der Location alles vorbereitet hat, und dem Abend, wenn die Feier steigen soll. Bis die vegetarische Pizza kommt, erzählt er von den Partys in Berlin, München, Leipzig, Hamburg oder demnächst Wien, die er veranstaltet. Hielscher ist ein umtriebiger Mensch, DJ, Veranstalter, Blogger. Wenn er in ein Formular seinen Beruf eintragen muss, schreibt er „Eventmanager“. Neuerdings.

Früher hat er „Musiker“ geschrieben. Da hat er noch hauptberuflich Bass gespielt. Er hat einen Traum gelebt, „diesen Traum sogar übertroffen“. Aber irgendwann hat er gespürt, dass die Zeit für Virginia Jetzt! „einfach vorbei war“. Dann hat er vor dem vierten Album seinen drei Kumpels sagen müssen, dass er sie verlässt. Die waren überraschend gefasst. Sie haben nicht einmal diskutiert, ob sie ohne ihn weitermachen. Als hätten sie alle gespürt, dass sie abgelaufen war, die Zeit. „Das Herzblut war raus“, erinnert sich Hielscher. Er war nur noch der Überbringer der schlechten Nachricht.

Eine Rolle, für die er prädestiniert war. Nicht nur, weil er von sich selbst glaubt, „dass ich gut loslassen kann“. Nicht nur, weil Hielscher derjenige in der Band war, der am strategischsten dachte, der eine kaufmännische Lehre und, kurz nach Bandgründung, ein Trainee-Programm bei einer Plattenfirma absolviert hatte. Vor allem war er derjenige, der am drängendsten das Gefühl hatte, in einer Sackgasse zu stecken: „Ich wollte nicht mit 38 Jahren immer noch auf eine Bühne müssen, nur weil ich keine Alternative habe.“

Er hatte zwar noch Lust auf Musik, aber keine Lust mehr auf das Drumherum, auf das ewiggleiche Geplapper bei der Plattenfirma und die ewiggleichen Clubs auf Tour, auf die labbrigen Brötchen vor dem Konzert und die stickigen Absteigen danach. „Einfach nur Musik machen, ohne den Druck, davon leben zu müssen, das habe ich extrem vermisst.“

Das holt er nun nach in einem neuen Projekt namens Band of the Week, das nur ein Hobby sein soll. Denn bei Virginia Jetzt! kam er sich zuletzt vor, sagt er heute, wie in einem „Laufrad“ oder auf der „bekloppten ‚Titanic‘ “, und freut sich, dass rechtzeitig ein Rettungsboot zu Wasser gelassen wurde, die Partys, seinen Blog, diese „mögliche Zukunft“.

Wenn Hielscher von der Band spricht, die bis Ende Oktober ja noch seine ist, sagt er nie „wir“. Bei den paar Auftritten im Frühjahr und Sommer hat er sich vertreten lassen von einem Ersatzbassisten. Für die Abschiedstournee staubt er seinen Bass, den er manchmal Monate nicht angefasst hat, wieder ab. Er freut sich, zum Abschluss noch mal mit den anderen unterwegs zu sein.

„Klar stellt sich die Frage: Kann ich davon leben? Aber viel wichtiger ist doch: Wie groß ist die Erfüllung“

NINO SKROTZKI, GESANG
Neues Starmaterial wartet auf Plastikstühlen

Das ist nicht selbstverständlich. Die Band ist keine Ersatzfamilie mehr wie früher, als die Schulfreunde losgezogen sind, um die Welt zu erobern. Beim Fototermin unter den U-Bahn-Schienen weiß keiner, wie lange es her ist, dass sie sich alle vier getroffen haben. Im März vielleicht? Diese Band, hatten alle unabhängig voneinander erzählt, war immer eine Band, in der vieles, vielleicht zu vieles ausdiskutiert wurde. Die harmonischste Zeit war ausgerechnet die, in der das letzte Album aufgenommen wurde. Als klar war, dass sie auseinandergehen würden.

Auf der anderen Seite des Flusses glitzert die multifunktionale O2-World. Dorthin werden Ende Oktober bis zu 17.000 Zuschauer pilgern, wenn Carlos Santana spielt. Was wäre gewesen, wenn Virginia Jetzt! selbst so groß geworden wären? Das sei hypothetisch, wehrt Hielscher ab: „Auch wenn das letzte Album durch die Decke gegangen wäre, mein Entschluss stand fest.“

In der Heimat von Santana wurde im Sommer eine Studie veröffentlicht. Die RIAA, der Verband der US-amerikanischen Musikindustrie, stellte fest, dass in den vergangenen Jahren die Zahl der Berufsmusiker sogar noch stärker gefallen ist als die Umsätze mit Tonträgern. Wenn das so weitergeht, gibt es bald nur noch Stars und Hobbymusiker und nicht viel dazwischen. Dort aber, zwischen dem Establishment und Freizeitkünstlern findet der kreative Fortschritt statt. Den leisten die, die sich auf ihre Kunst konzentrieren können, aber noch nicht zu satt sind für neue Ideen.

„Klar stellt sich die Frage: Kann ich davon leben?“, sagt Sänger Nino Skrotzki. „Aber viel wichtiger ist doch: Wie groß ist die Erfüllung?“ Der Sänger spricht schnell, aber mit Bedacht, er will niemanden verletzen, auch nicht im Nachhinein. Er war Gesicht und Stimme der Band, und oft der Vermittler zwischen den beiden starken Charakteren an Gitarre und Bass. Er hat vieles gelernt in den elf Jahren in der Band, deren Ende er „als Niederlage“ betrachtet. Vieles, das er heute gut gebrauchen kann. Skrotzki hat mit einem Freund eine Agentur gegründet, die junge Bands betreut. Bands, die bereits von der Kritik gefeiert werden wie das Elektronik-Duo Hundreds. Oder Vierkanttretlager aus Husum, die dort „noch in die elfte Klasse gehen“ und die Skrotzki aufs Musikgeschäft vorbereitet. Er kann sich vorstellen, mal wieder selbst Musik zu machen, aber auf eine Bühne drängt es ihn nicht. Mit der Aufbauarbeit, sagt er, „kann ich mich ausleben wie in einer eigenen Band“.

Nun fährt er durch die Republik mit seinen Bands, berät sie bei Verhandlungen und wartet bei den Auftritten hinter der Bühne. Dann ist er oft aufgeregter als früher, wenn er selbst da hoch musste. Die Hoffnungen seiner Schützlinge sind ähnlich wie die, die er hatte. Nur ihre Aussichten, irgendwann von der Musik zu leben, die sind viel schlechter.

Skrotzki hat ein paar Jahre Jura studiert. Er kann sich vorstellen, wie es ist, als Rechtsanwalt zu arbeiten. Er weiß, sagt er, „dass ich das gut könnte“. Man glaubt ihm das sofort. „Ich weiß, dass ich dann mehr Geld verdienen könnte, aber ich weiß auch, dass mich das nicht ausfüllen würde.“ Stattdessen ist er jetzt also der Anwalt seiner Musiker. Er tingelt nun wieder durch dieselben kleinen Clubs, in die er mit Virginia Jetzt! nicht mehr zurückwollte. Klar hätte man die Band als Hobby weiter betreiben können, ab und zu mal auftreten vor ein paar Menschen, sagt er, „aber dazu war mir Virginia Jetzt! immer zu wichtig“. Und dass sie „jederzeit wieder einen neuen Plattenvertrag bekommen hätten“. Aber sie hätten auch gemerkt: „Es wird immer schwieriger, von der Band zu leben. Am Schluss gab es immer noch eine Menge emotionale Gründe, die gegen eine Auflösung sprachen, aber rationale fallen mir nicht viele ein.“

Der Fototermin ist zu Ende, der Abend gekommen. Angelo Gräbs, der Schlagzeuger, der jetzt renoviert, sitzt vor einem Café, trinkt eine Apfelsaftschorle und erzählt, dass er sich nie wie ein Rockstar gefühlt habe. Dass er, der immer im Hintergrund saß, in den elf Jahren „vielleicht zwei Monate lang“ daran geglaubt habe, dass Virginia Jetzt! richtig groß werden würden. Dass es fast eine Erleichterung war, als das Ende der Band feststand, weil „die Fronten so verhärtet waren“. Dass er sich keine großen Gedanken über eine zweite Karriere als Musiker macht: „Täglich kommen zwanzig Schlagzeuger von der Pop-Akademie, von denen viele besser sind als ich.“

Dann erzählt er, dass seine Eltern erst aus der Lokalzeitung erfahren haben, dass sich seine Band auflöst. Dass sie sich aber keine Sorgen um ihn und seine Kleinfamilie machen, weil sie wissen, dass ihr Sohn ein begabter Handwerker ist, gelernter Holzmechaniker. Und sein allererster Traumberuf, damals als Kind, war sowieso Tischler. An den Nebentischen sitzt derweil der Kreuzberger Kreativnachwuchs. Junge Menschen, die davon träumen Schauspieler, Künstler, Musiker, notfalls auch Grafiker oder Webdesigner zu werden. Junge Menschen, die bei Bier oder Weißweinschorle von Projekten schwärmen. Starmaterial auf Plastikstühlen. Junge Menschen, die heute genauso sind, wie Angelo Gräbs, Mathias Hielscher, Thomas Dörschel und Nino Skrotzki einmal waren, als sie vor gut einem Jahrzehnt nach Berlin kamen.

Gräbs hat seine Apfelsaftschorle ausgetrunken. Die ganze Zeit hat er mit einem Zollstock herumgespielt. Er will gleich noch eine Decke ausmessen. Eine neue Baustelle wartet auf Angelo Gräbs. Er muss dann mal los.

Thomas Winkler, 45, kann weder singen, noch eine Gitarre stimmen. Über Musik schreibt er lieber nur