Versuch, den Horizont zu beschreiben, Nr. 1

Tief fliegt die Schwalbe über den Bootsanleger. Das Holz schwankt unter unseren Füßen. Vorne, am Wasser, ist es feucht. Wir setzen uns trotzdem. In der kürzesten Nacht des Jahres wird es hier im Norden nicht dunkel über dem Meer. Leise gluckst eine Welle an die Bootswand nebenan. Dort baut eine Spinne ein Netz. Halb fertig erst, zappeln schon Insekten darin. In der Ferne, zwischen den zwei Landspitzen, ist das Wasser ein silberner Strich. Dunkle Fichten begrenzen zu beiden Seiten den Blick, als wären sie die Vorhänge auf einer Bühne. Rechts hinter den Bäumen taucht ein weißer Schemen auf. „Die ‚Amorella‘ “, sagt er. Dann schweigt er wieder und schaut auf das Meer. Eine Mücke sticht. Eine Hand schlägt zu. Schon versucht es die nächste. Langsam bewegt sich das Schiff am Horizont, als würde es an einem Faden über die Bühne gezogen. Die weißen Aufbauten heben sich vom roten Rumpf ab. Die Spinne kriecht zur Mitte ihres Netzes. Am Ufer auf der Landzunge leuchten drei Laternen. Ein sanftes Klatschen im Wasser – ein Fisch? „Jetzt fährt die ‚Amorella‘ diese Strecke schon dreiundzwanzig Jahre“, sagt er. Eine Möwe kreist über dem Wasser, lässt sich fallen und dreht kurz über der Wasseroberfläche ab zum Bootshaus. Schilf raschelt. Die Spinne ist mit einem Insekt beschäftigt. Eine Welle schwappt gegen die Boote. Ein Eulenjunges schreit, es klingt wie eine schlecht geölte Tür. Wieder eine Mücke. Die „Amorella“ verschwindet hinter Fichten. „In acht Stunden ist sie in Turku“, sagt er. KRISTINA RATH