Synästhetische Wahrnehmungen: Das Essen hat zu wenig Spitzen

Ein Klavierton klingt blau, der Buchstabe "e" rot und Pfefferminzgeschmack ist eine Marmorsäule. Klingt seltsam? Das Phänomen nennt sich Synästhesie.

Aike Tappe sieht dieses Motiv auf einer Art Leinwand im Kopf, wenn das A eines Vibrafons erklingt. Bild: Aike Tappe

Kein Ton ist nur, wie er sich anhört. Da ist noch eine andere Ebene, ein Bild, ein von links nach rechts laufendes Farbfeld etwa, das sich zu einer geometrischen Figur formt. Ein Ton klingt nicht nur, sondern sieht auch aus. Doch nur die wenigsten Menschen können das sehen, weil ihnen die Fähigkeit zur Kopplung von Sinneswahrnehmungen fehlen.

Diejenigen, die diese Fähigkeit haben, nennt die Wissenschaft Synästhetiker. Das Wort stammt aus dem Griechischen, syn heißt "zusammen", aisthésis "empfinden", sagt also haargenau, worum es geht.

Bei Synästhetikern läuft ein erstaunlicher Prozess ab: In ihrem Kopf lässt ein Sinnesreiz mehrere Wahrnehmungen zugleich entstehen. Sie sehen Farben, wenn sie Töne hören oder Buchstaben und Zahlen lesen. Manche fühlen ein Kribbeln an den Unterarmen, wenn sie ein bestimmtes Gericht essen. Synästhetiker sehen, was sie riechen, sie riechen, was sie sehen. Was sie berichten, geht weit über das hinaus, was Nichtsynästhetiker sehen, fühlen und schmecken, denn deren Wahrnehmungen bleiben immer eindimensional. Ein Ton ist nur ein Ton.

Hinderk Emrich, inzwischen emeritierter Professor für Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover, erforscht das Phänomen. Er hat Synästhetiker gebeten, das aufzumalen, was sie auf einer Art inneren Leinwand sehen. Um für Nichtsynästhetiker sichtbar zu machen, was ein Ton, eine Stimmung, eine Zahl eben auch sein kann: ein Bild, eine Form, ein dynamisches Etwas.

Zahlen erzeugen Farben

Aike Tappe hat ein auf einem Vibrafon gespieltes A als geometrische Figur gemalt, die einer Mensch-ärgere-Dich-nicht-Figur ähnelt, die auf die Seite gefallen ist. Sie hat schwarze, sehr klar definierte Ränder und ist blau gefärbt. Sie fließt von links nach rechts, sobald der Ton verklungen ist, ist das Bild auch verschwunden. Für Tappe, 20, sind auch viele Zahlen blau: Sieht sie 1, 3, 5, 9, 10, 30er, 60er und 90er sieht sie ebenfalls Blau, andere Zahlen erzeugen andere Farben.

Wolfgang Streblow hat ein eingestrichenes A auf dem Klavier gehört und diesen Ton als eine sich verschiebende Fläche gesehen. Streblow, Leiter der Conrad-Hansen-Musikschule im westfälischen Lippstadt, sagt dazu: "Beim Hören dieses Tons erscheint in einem ,inneren', leeren, dreidimensionalen Raum das farbige, metallisch-blaue Rechteck, das im Verlauf des Klangs mit einer Veränderung der Form von links nach rechts hinten verschwindet." Für den 53-Jährigen ist die Farbe Blau mit dem Buchstaben A gekoppelt - "ein sehr dunkles Blau mit leicht goldenem Schimmer". Das Wort "Banane" oder auch "taz" ist für Streblow also auch blau, weil die Vokale den Klang bestimmen. Allerdings zaubere das "e" in Banane einen Tupfer Rot ins Blau. Er sieht das in einem inneren Raum, der zunächst schwarz ist - und in dem er sich selber befindet, wie ein Betrachter am Rande stehend.

Elke Dlugos sagt, Blau sehe sie, "wenn etwas - also eine Situation, ein Vorhaben - gut und richtig ist", noch mehr: Blau ist die Farbe, die vor ihrem Auge erscheint, wenn sie ihr Leben "absolut schön" findet und sie glücklich ist. Blau heißt: "Es geht mir gut." Sie hat ein Bild gemalt, das diesen Gemütszustand zeigt, so wie sie ihn sieht: "Im Kopf, als ob die innere Stirn mit dem Eindruck ausgefüllt ist."

Klingt das seltsam? Nur deshalb, weil Nichtsynästhetiker sich das nicht vorstellen können. Synästhetiker beschreiben das Phänomen aber als etwas ganz Normales, es stört sie auch nicht: Elke Dlugos sieht Rot, wenn sie ein A liest, ein G färbt die innere Stirn, von der sie spricht, grün. Das ist einfach so und war schon immer so. Und erst als sie als Kind im Musikunterricht saß, dachte sie: Diese Sinneswahrnehmung scheint nicht jeder Mensch zu haben. Denn im Unterricht wurden Noten nach Farben gelehrt. Jeder Note wurde eine bestimmte Farbe zugeordnet - und das konnte Dlugos nicht mit ihrem Farb-Ton-System in Einklang bringen: "Mein A ist rot, dort war es gelb. Das war ein Problem."

Die wissenschaftliche Karriere dieses Phänomens begann im Jahr 1980 auf einer Dinnerparty. Der Neurologe Richard Cytowic, der heute eine neurologische Klinik in Washington D. C. betreibt, war damals Abendgast des Malers Michael Watson. Es sollte Huhn in Sahnesauce geben, und als Watson das Gericht abschmeckte, hörte Cytowic ihn murmeln: "Es hat zu wenig Spitzen." Watson errötete, es war ihm unangenehm - fand in Cytowic aber einen ehrlich interessierten Gesprächspartner. Keinen, der sich über ihn lustig machte.

Geschmack mit Form

Cytowic erfuhr, dass sich für Watson jeder Geruch und Geschmack als Form mit einer klaren Oberfläche äußere, spürbar auf der Haut. Pfefferminzgeschmack etwa spürt Watson als glatte, kühle Marmorsäule auf der Innenseite der Arme. Watson war Cytowics erster Synästhetiker - und die Bestätigung eines Phänomens, dass der Neurologe bis dahin nur als Schilderung aus Büchern über Malerei und Musik kannte, in denen Künstler über synästhetische Wahrnehmungen berichteten.

Der Maler Wassily Kandinsky nahm Farben nicht nur als optische Reize wahr, sondern verknüpfte sie mit Klängen, Gerüchen und Formen. Er soll Farben angesummt haben, bevor er sie auf die Leinwand brachte. Der Komponist Alexander Skrjabin hat synästhetische Erfahrungen in seiner symphonischen Dichtung "Prometheus" verarbeitet. Eine der Stimmen schrieb er für das von ihm erdachte Lichtklavier. Für die Uraufführung des Werks 1915 in der New Yorker Carnegie Hall wurde das Instrument gebaut und projizierte Farbenspiele an eine Wand. Das, was Skrjabin hörte. Zum Teil schmerzhaft grelle Illusionen.

Cytowic wurde zum ersten Synästhesie-Forscher - und gilt heute, neben Emrich, vielen Synästhetikern als eine Art Held, weil sie durch ihn mehr über das Phänomen erfahren haben, das sie zwar als normal empfinden, das so verbreitet aber nicht ist. 3 von 1.000 Menschen sollen Synästhetiker sein, 85 Prozent von ihnen offenbar Frauen, darunter viele künstlerisch tätige.

Was genau Synästhesie ist, ist allerdings unklar. Cytowic vermutet, dass sie mit dem limbischen System zu tun hat, also jenem Hirnareal, das Gefühle, Erinnerungen und Affekte reguliert. Demnach verfüge jeder Mensch über die latente Fähigkeit zur Synästhesie. Weil das limbische System seinen Platz im evolutionsgeschichtlich ältesten Teil des Gehirns hat, vermutet Cytowic, dass die gekoppelte Wahrnehmung bei den meisten Menschen im Laufe der Evolution verloren gegangen ist. Cytowic nennt Synästhetiker deshalb auch "kognitive Fossilien".

Emrich hält Cytowics Mutmaßung für plausibel. Er glaubt, dass das limbische System als Brücke zwischen zwei Hirnarealen dient. Es verknüpft die Sinneseindrücke mit Emotionen, die dort gespeichert sind. So verbinden sich die Sinneswahrnehmungen. Und wo das Gehirn bei Nichtsynästhetikern sich widersprechende Wahrnehmungen herausfiltert, tut es das bei Synästhetikern nicht. "Schlamperei der Kategoriebildung unseres Gehirns" nennt er das. So schlicht und farbenfroh.

Hinderk M. Emrich (u. a.): "Welche Farbe hat der Montag? Synästhesie: Das Leben mit verknüpften Sinnen". Hirzel Verlag Stuttgart 2004, 152 Seiten, 24 Euro

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