Versuch, den Horizont zu beschreiben, Nr. 4

Ein Sonntag im Sommer. Auf der Wiese vor dem Urbankrankenhaus am Landwehrkanal sitzen Menschen. Eng umschlungen küssen sich Pärchen. Sie lagern auf winzigen Decken. Drei Touristen entfalten ihren riesengroßen Stadtplan von Berlin auf dem Rasen und beugen sich suchend darüber. Daneben ein Mädchen. Es lackiert sich die Fußnägel im gleichen Rot wie ihr Handtuch, zwei andere üben Französisch-Vokabeln. „L’amitié – die Freundschaft.“ Eine Frau mit Bademantel und Krücke kommt vom Krankenhaus und setzt sich auf eine Bank auf der Wiese, ein paar junge Männer stoßen mit jedem neuen Bier neu auf sich an, ein Kind will ein Erdbeereis. „Aimable – liebenswert.“ Ein Mann mit Hornbrille und Schnauzbart studiert die Sonntagszeitung, eine Familie breitet ein Tuch aus und darauf die Tupperwaredosen fürs Picknick, ein Straßenverkäufer bietet sein indisches Brot feil, „Papadam, Papadam“, schreit er. Ein altes Ehepaar schaut einem vorbeifahrenden Touristenschiff nach. „Amical – freundschaftlich.“ Ein Bettler wühlt im Müll, ein anderer sammelt leere Bierflaschen auf der Wiese, ein Junge isst eine Salamipizza aus dem Pappkarton, während neben ihm ein Mädchen an einem Schokocroissant aus der Papiertüte kaut. Und schließlich eine Frau. Sie stillt ihr Kind, hebt ihren Kopf dabei und blickt schweigend über die Häuser auf der anderen Seite des Ufers. „Amère – bitter.“ EVA MÜLLER-FOELL