„Ich habe nur den Anstoß gegeben“

RÜCKWÄRTS Hilde Schramm hat die Stiftung Zurückgeben mitgegründet. Ihr Schicksal ist es, Tochter zu sein

„Ich verwende das Wort Versöhnung nie. Auch nicht Wiedergutmachung"

sonntaz: Frau Schramm, wer Sie erklärt, sagt meist: Tochter von Albert Speer. Wie ist es, zuerst Tochter des Kriegsverbrechers zu sein und dann man selbst?

Hilde Schramm: Indem man diese Zuschreibung nicht so annimmt, wie sie gemeint ist, nämlich als immerwährend dominantes Merkmal meiner Person. Ich habe versucht, mir eine eigene Reputation zu schaffen, und das ist mir in Teilen gelungen, aber in der Öffentlichkeit leider nicht. Damit muss ich leben. Ich muss gucken, dass es mich nicht zu sehr verunsichert und kränkt.

Ist das, als lebten Sie zwei Leben: das eigene im Licht und im Schatten davon das des Vaters?

Mein Vater ist Albert Speer, und das hat mich ein Leben lang begleitet. Viele meiner Generation wussten so wenig über die NS-Verstrickungen ihrer Eltern. Mir aber war bekannt, dass mein Vater als Hauptkriegsverbrecher verurteilt worden ist. Wir haben es als Kinder vielleicht nicht verstanden, aber es hat uns erreicht. Zudem wurde es mir von meiner Umgebung gespiegelt. Alle kannten meinen Vater.

Der Vater ein Verbrecher – gibt einem das einen Stich?

Es war meine Realität, und ich wollte es verstehen. In der Nachkriegszeit gab es an meiner Schule alle möglichen Biografien: Kinder von Kriegerwitwen, Widerstandsopfern und rückkehrenden Emigranten, Kinder, die geflüchtet waren. Das Spektrum war so breit, dass ich nicht dachte, was mir auf dem Buckel liegt, ist herausragend. Wenn man als Kind in einer freundlichen Umgebung ist – und das war ich –, nimmt man vieles gelassen. Und spielen, lernen, mit Freundinnen sein war mindestens so wichtig wie mein Vater.

In den Fünfzigern und Sechzigern haben Sie sich für seine vorzeitige Haftentlassung eingesetzt.

Das ist für manche schwer zu verstehen, das ist klar. Die Familie hat mich in diese Rolle geschoben. Ich habe sie angenommen. Ich habe es gemacht, weil ich, was ich nie verhehlt habe, meinen Vater sehr mochte, obwohl ich sah, welche Verbrechen er begangen hat und welche Verantwortung er für das Regime hatte. Das ist der Zwiespalt meines Lebens.

Sie haben Erziehungswissenschaft und Soziologie studiert – Fächer, die nach Verstehenwollen klingen. Zumal man weiß, dass die Nazis mit Erziehung manipulierten.

Autoritäre und schwarze Pädagogik, Zurichtung und all diese Methoden von damals, die sich in Alternativen umwandeln mussten, das waren unsere Themen. Wir wollten es besser machen.

Wie kamen Sie von da zur Versöhnungsarbeit? Etwas besser machen, da steckt Zukunft drin. Versöhnungsarbeit bezieht sich dagegen auf Vergangenes.

Ich verwende das Wort „Versöhnung“ nie. Auch nicht „Wiedergutmachung“. Zumindest maße ich mir nicht an, dazu beitragen zu können. Trotzdem bezog sich mein Handeln immer darauf, Mängel aufzudecken, die ich an der Fürsorge für die noch lebenden Opfer sah.

Wie?

Als ich in den Achtzigern Abgeordnete in Berlin für die Grünen war, habe ich mich für alle Opfer des Nationalsozialismus eingesetzt, auch die vergessenen, wie Sinti und Roma, Deserteure, Homosexuelle. Es ging um gesellschaftliche Korrekturen. Auch dass es damals nirgends eine Gedenktafel mit den Namen der verfolgten und ermordeten Abgeordneten gab, das kann man doch kaum fassen. Ich habe das angestoßen.

Gegen Rechtsextremismus haben Sie sich auch engagiert und für die Entschädigung von sowjetischen Kriegsgefangen.

Ja, das stimmt. 2004 wurde deutlich, dass diese, anders als die zivilen Zwangsarbeiter, keine Entschädigung erhalten. Ich war alarmiert. Vielleicht ist das typisch: Man stößt auf etwas und ist alarmiert. Man stößt natürlich auf vieles und kann nicht alles machen. Jetzt sehe ich, dass Flüchtlinge im Mittelmeer ersaufen, und mache nichts. Aber wenn ich in dem Bereich, der das NS-Unrecht tangiert, auf etwas gestoßen bin, dann war ich wach, und die Bereitschaft, etwas zu tun, war hoch.

Mitte der Neunzigerjahre haben Sie auch die Stiftung Zurückgeben gegründet.

Ich habe nur den Anstoß gegeben, weil ich Bilder erbte, aber nicht annehmen wollte. Freundinnen hatten die Idee mit der Stiftung. Vier Frauen haben sie gegründet, nicht ich allein.

Wie kommt es dann, dass so viele denken, es sei Ihre Stiftung?

Die Medien forcieren das. Sie wollen immer über mich schreiben. Aber wenn ich exemplarisch vorgestellt werde und andere nicht, die sich in der Stiftung engagieren, kommt schnell die Deutung: Ja, eine mit so einem Vater, die hat es nötig. Alle anderen sind entlastet. Stünde aber jemand im Mittelpunkt, dessen Eltern etwa Vorteile hatten, weil jüdische Geschäfte zumachen mussten, wäre das viel exemplarischer. Dann würden andere sich vielleicht fragen, ob auch sie heute noch Nutznießer sind von früherem Unrecht.