Im Unheil das Heile finden

GRÖSSE Belfast schämte sich, die „Titanic“ gebaut zu haben. Nun versucht die Stadt, daraus ein Glück zu machen

Lange wollte man in Belfast, wo die „Titanic“ gebaut wurde, nichts von ihr wissen, weil die „Unsinkbare“ nicht unsinkbar war

AUS BELFAST RALF SOTSCHECK

Das hätte man sich früher in Belfast nicht zu bauen getraut: eine Fassade aus Glas. Noch vor fünfzehn Jahren erschütterten Bombenanschläge die nordirische Hauptstadt, Fensterscheiben gingen zu Bruch.

Und jetzt das: ein Gebäude aus Glas, sternförmig, es sieht aus, als seien vier Schiffe wie siamesische Vierlinge an den Hecks miteinander verwachsen. Sechs Stockwerke ist es hoch, so hoch wie die in Belfast gebaute „Titanic“. Es heißt auch so: „Titanic-Expericence“ – „Titanic-Erlebnis“. Rechtzeitig zum 100. Jahrestag des berühmtesten Schiffsuntergangs der Geschichte in der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912 wurde der hundert Millionen Pfund teure Bau – mit dem Guggenheim Museum in Bilbao als architektonischem Vorbild – eröffnet.

Seit dem Friedensabkommen vom Karfreitag 1998 herrscht in Belfast einigermaßen Ruhe – Fensterscheibenruhe. Die Stadt blühte auf. Es entstanden gigantische Einkaufszentren, schicke Restaurants und exklusive Hotels. Und die Touristen kamen. Waren es vor dem Abkommen 400.000 im Jahr, sind es inzwischen fast 10 Millionen. Doch jetzt ist Nordirland von der Rezession schwerer betroffen als der Rest des Vereinigten Königreichs, die Arbeitslosigkeit steigt, die Hauspreise sinken. Das bessere Leben – es ist ein unsicherer, ein fragiler Zustand.

Das „Titanic-Erlebnis“ soll Rettung bringen. Zwei Generationen lang wollte man in Belfast, wo die Titanic in der Werft von Harland & Wolff gebaut wurde, nichts von dem Schiff wissen, weil die „Unsinkbare“ nicht unsinkbar war. Dann kam James Camerons Filmschnulze mit Leonardo DiCaprio und Kate Winslet und in Belfast horchte man auf: Wenn mit einem Katastrophenfilm Geld verdient werden kann, warum nicht mit dem Originalschauplatz, an dem der Grundstein für die Katastrophe gelegt wurde?

Aus der Neugier aufs Morbide lässt sich Kapital schlagen. Deshalb tauchen Expeditionen wohl immer wieder zum Wrack der „Titanic“ hinunter, dem Grab von mehr als 1.500 Menschen, und bringen Souvenirs mit, die dann in Museen ausgestellt werden.

Auch was an Land gefunden wird, ist wertvoll: Eine Speisekarte des letzten Mittagessens in der ersten Klasse auf der „Titanic“ wurde für 76.000 Pfund versteigert. Die Eintrittskarte zum Belfaster Hafen am Tag des Stapellaufs für 35.000 Pfund. Was hätten die Original-Konstruktionspläne der „Titanic“ eingebracht? Ein Angestellter von Harland & Wolff, der sie in den sechziger Jahren in einem alten Schreibtisch fand, verbrannte sie auf Anweisung seines Chefs. Damals war den Belfastern das Schiff noch peinlich.

Beim „Titanic-Erlebnis“ steht aber nicht der Untergang im Mittelpunkt, sondern die Leistung der Ingenieure und Handwerker in einer Zeit, als Belfast ein führender Industriestandort war. Wie damals werden auch heute Superlative bemüht. Wurde die „Titanic“ als größtes und luxuriösestes Passagierschiff der Welt gefeiert, so ist auch das Titanic-Erlebniszentrum laut Marketingchefin Clare Bradshaw das größte der Welt. Es könnte den Tourismus in Nordirland in eine völlig neue Dimension katapultieren, hofft Tim Husbands, der Geschäftsführer des Projekts. Schließlich sei Titanic nach Coca-Cola der bekannteste Markenname der Welt.

Ein Titanic Quarter mit tausend Luxuswohnungen

Das Gebäude enthält keine Artefakte, das „Erlebnis mit allen Sinnen“ steht im Mittelpunkt. Es gibt im obersten Stockwerk, im Restaurant, eine Nachbildung der aus dem Film bekannten Treppe, auf der sich Hochzeitspaare gerne im DiCaprio-Winslet-Look fotografieren lassen. Die Nachbildungen der Kabinen der ersten, zweiten und dritten Klasse geben einen Einblick in die Verhältnisse an Bord. Die Klassenunterschiede sind immens: hier ein schmales Etagenbett und ein Krug mit Waschwasser, dort ein geräumiges Zimmer mit Plüschbett, Chaiselongue und separatem Badezimmer. Das Schicksal der Passagiere der ersten Klasse ist gut dokumentiert, über die Leute aus der dritten Klasse ist kaum etwas zu erfahren.

Im „Titanic-Erlebnis“ gibt es Touchscreens, Hologramme, Spezialeffekte. Man kann einen virtuellen Spaziergang machen durch den Maschinenraum, über Korridore und auf die Brücke. Man kann die Panik nach der Kollision mit dem Eisberg durch sinkende Temperatur, Wasserprojektionen auf dem Boden und SOS-Morsezeichen nachempfinden. Das „Titanic-Erlebnis“ ist Heilvolles im Unheilvollen. Man kann durch einen Glasfußboden auf ein Foto des Wracks blicken oder in einer Schwebebahn durch ein Schiffswerftmodell fahren – mit ohrenbetäubendem Lärm, Hitze und Gestank nach Stahl und Kohle.

All das ist im Zeitalter der elektronischen Fortschritte nicht wirklich aufregend. Interessanter sind die echten Schauplätze: das Pumpenhaus, das Trockendock, die Helling, von der die „Titanic“ zu Wasser gelassen wurde, und auch die „SS Nomadic“ im Hamilton-Dock – das Zubringerschiff, das die Passagiere vom Hafen in Cherbourg zur „Titanic“ brachte. Es ist eine Miniversion der „Titanic“, ähnlich luxuriös und trotz der kurzen Fahrt in drei Klassen unterteilt. Zuletzt war das Schiff ein Restaurant auf der Seine. Bis zum Herbst soll es originalgetreu restauriert werden.

Um die Titanic-Geschichte herum entsteht das Titanic Quarter, das größte Bauprojekt Europas, mit tausend Luxuswohnungen, einem College für 16.000 Studierende, einem Drei-Sterne-Hotel, einem Bankzentrum und einem Filmstudio. Das Hafenviertel-Projekt auf einer Fläche von 75 Hektar kostet 7 Milliarden Pfund.

Einen Hinweis auf die unrühmliche Seite der Geschichte von Harland & Wolff sucht man indes vergeblich. Die Werft war von Anfang an weit mehr als bloß ein Arbeitgeber: Für die Protestanten war sie das Symbol ihrer Vormachtstellung, für die anderen das beste Beispiel für ein Staatengebilde, in dem Katholiken zu Bürgern zweiter Klasse degradiert waren. Antikatholische Ausschreitungen hatte es schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf der Werft gegeben. Und am 21. Juli 1920 kam es nach einer Versammlung protestantischer Arbeiter zu einem Pogrom. Bewaffnet mit Knüppeln, prügelte man die katholischen Arbeiter hinaus, viele wurden einfach ins Wasser geworfen.

Das Vermächtnis erscheint plötzlich lukrativ

Die letzten Katholiken sind 1974 vertrieben worden, als die Werftarbeiter eine führende Rolle beim protestantischen Generalstreik spielten, durch den die Regionalregierung gestürzt wurde, weil ihr auch Katholiken angehörten. Gleichheit, Sicherheit, Frieden – kein Wort darüber.

Schiffe werden bei Harland & Wolff lange nicht mehr gebaut, die einst größte Werft der Welt produziert heute Windturbinen. Aber das Vermächtnis der „Titanic“ scheint lukrativ. Im Unheilen soll das Heile gefunden werden. Man kann Titanic-Kartoffelchips naschen, sich mit Titanic-Whiskey betrinken oder Titanic-Marmelade aufs Brot schmieren.

Die Nordirische Rechnungskammer bezweifelt allerdings, dass das „Titanic-Erlebnis“ die notwendigen 290.000 Besucher im Jahr anziehen wird. So könnte das Projekt in ein paar Jahren sang- und klanglos untergehen. Wenigstens wird dabei niemand ertrinken.