Einer für alle und zur Not alle für einen

GESCHICHTE Wie zwei Pioniere im 19. Jahrhundert zeitgleich das Genossenschaftsprinzip erfanden

„Man nennt die Vereine nach meinem Namen. Ich habe dieselben indes nicht erfunden. Der erste Verein war ein Kind unserer Zeit, aus der Not geboren“, hatte Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818–1888) einst festgehalten, ganz in der pflichtbewussten Bescheidenheit eines preußischen Beamten und Christenmenschen.

Doch seine 1866 erschienene Schrift zu den „Darlehnskassen-Vereinen“ war die Initialzündung für mittlerweile mehr als 330.000 Genossenschaftsbanken in aller Welt – und machte Raiffeisen zu dem heute international bekanntesten Pionier des Genossenschaftswesens.

Als Kommunalbeamter in einer verarmten Landregion des Westerwalds gründete er 1847 einen „Brotverein“ zur Bekämpfung der Hungersnot und einen „Hilfsverein zur Unterstützung unbemittelter Landwirte“, um die Bauern unabhängig von Krediten zu machen. Sie sparten ihr Geld gemeinsam und konnten es sich im Bedarfsfall zu günstigen Konditionen ausleihen. Raiffeisens Projekte waren zu Beginn über Spenden finanziert, aus seinem christlichen Menschenbild heraus appellierte er an die Nächstenliebe vor allem der Reichen.

Das Wirtschaftsprinzip der Genossenschaften hatte zeitgleich einen weiteren Entdecker, der ohne direkten Kontakt mit Raiffeisen aktiv wurde: Hermann Schulze-Delitzsch. Als Richter hatte er die Not der kleinen Handwerksbetriebe kennengelernt und 1849 im sächsischen Delitzsch eine Einkaufsgenossenschaft für Schuhmacherbetriebe ins Leben gerufen. Bald darauf entwickelte er die ersten Vorschuss- und Kreditvereine, um Kapital für Investitionen zu beschaffen. Als Abgeordneter schaffte er 1867 eine gesetzliche Basis für Genossenschaften.

Anders als Raiffeisens Modell, das an der Landbevölkerung ausgerichtet war, richtete sich Schulze-Delitzsch an kleine und mittlere Gewerbetreibende, deren Existenz durch die beginnende industrielle Massenproduktion bedroht war. Er appellierte weniger an Nächstenliebe, sondern an Eigennutz und Selbsthilfe. Mit seiner strikten Ablehnung staatlicher Einmischung und Wohltätigkeit vertrat er nicht nur ein anderes Wertekonzept als Raiffeisen, sondern stand auch in Opposition zu Genossenschaftstheoretikern wie Ferdinand Lassalle.

Das Gebot der Staatsferne

Genossenschaftsgründungen „von oben“ widersprachen für Schulze-Delitzsch dem Selbsthilfe- und Selbstverantwortungsgedanken und damit dem Grundprinzip der Genossenschaften. Der Staat hatte in seinerVorstellung nur die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu schaffen. Die „Gleichschaltung“ der Genossenschaften durch die Nazis und die Zwangskollektivierungen in sozialistischen Ländern haben die Richtigkeit des Gebots der Staatsferne später herausgestellt. Dafür musste sich Schulze-Delitzsch von Lassalle, seinem Gegner im „Systemstreit“ um das Genossenschaftswesen, jedoch als „Manchester-Mann“ beschimpfen lassen, obwohl er kein Vertreter des Raubtierkapitalismus war.

Der Streit ist heute weitgehend nivelliert. Der von Raiffeisen geprägte Begriff „Hilfe zur Selbsthilfe“ ist ebenso selbstverständlich wie die von Schulze-Delitzsch erfundenen Mikrokredite an Gewerbetreibende.

MATHIAS BRÖCKERS