Die Schlecker-Saga

REICHE Ein knausriger Metzger aus Schwaben errichtet ein Drogerie-Imperium. Es wird ein System der Kontrolle, in das Anton Schlecker sogar seine Kinder einbaut. Mitarbeiter überwacht und straft er. Bis ihm alles entgleitet. Dieser Tage schließt die Hälfte der Läden

Anton Schlecker war der böseste Chef Deutschlands. Er tat nichts, um diesen Ruf loszuwerden. Erst als die Firma Probleme bekam, brauchte er nette Gesichter. Er schickte die Kinder vor

AUS EHINGEN UND WIEN KIRSTEN KÜPPERS

Am 30. Januar dieses Jahres sitzt eine schmale blasse Frau hinter einem Tisch mit einer knittrigen weißen Tischdecke, und die Millionen fehlen. Meike Schlecker, die Tochter des Drogeriemarktbetreibers Anton Schlecker, hängt eingeklemmt zwischen dem Insolvenzverwalter und dem Finanzvorstand des kaputten Unternehmens. Es ist das erste Mal seit zwanzig Jahren, dass einer aus der Familie Schlecker vor Publikum auftritt, und sie machen die Pressekonferenz in der Firmenzentrale im schwäbischen Ehingen auch nur, weil es nicht mehr anders geht:

Die Drogeriemarktkette ist pleite. Meike Schlecker, die Juniorchefin, muss es an diesem Tag hinter sich bringen, die Lage zu erklären, das Ende des Familienreichtums. Die anderen, der Vater, die Mutter und der Bruder, haben sie vorgeschickt.

Meike Schlecker ist 38 Jahre alt und Geschäftsführerin, aber sie kennt sich nicht aus mit solchen Situationen, sie schwitzt im Gesicht, guckt nervös auf die Tischdecke, sieht aus wie ein scheues Tier, ausgeliefert den Blitzlichtern der Fotografen, den Fragen der Journalisten, all dem, was die Familie Schlecker so lange ausgesperrt hat aus ihrer Welt.

Meike Schlecker ist die Gefangene der Umstände.

Irgendwann, ziemlich am Ende der Pressekonferenz, als eine Journalistin, die zu spät gekommen ist, eine Frage stellt, fährt es dann aus Meike Schlecker heraus: „Ich glaube, Sie haben das nicht verstanden: Es ist nichts mehr da.“ Ein Satz, der so nicht geplant war. Der zeigt, wie viel Verzweiflung hinter einer starren Fassade liegen kann. Ein Satz, der ahnen lässt, dass das Eingeständnis des Scheiterns in dieser Familie besonders schwer wiegt.

Ein Satz, der auch die Frage aufwirft, was es heißt, wenn Milliardäre sagen, es sei nichts mehr da. Eine Familie, deren Vermögen noch 2011 auf 1,95 Milliarden Euro geschätzt wurde. 70.000 Euro pro Monat blieben nun, wird das Manager Magazin später melden. Der Insolvenzverwalter prüft die Kontobewegungen der vergangenen zehn Jahre, ob Geld beiseitegelegt wurde. Die Antwort von Meike Schlecker an diesem Januartag geht so: „Ich will mich nicht beschweren, und wir werden auch zurechtkommen. Aber es ist kein signifikantes Vermögen mehr da. Das Vermögen meines Vaters war stets das Unternehmen.“

Die Sätze laufen im Radio, abends im Fernsehen, man kann sie sich auf YouTube angucken, und es ist ja wirklich ein Ding. Die Drogeriemarktkette ist pleite. Nichts mehr da.

Es ist auch das Ende des Patriarchen Anton Schlecker.

Neun Tage später, am 8. Februar, wird es seinem Sohn Lars Schlecker vor Journalisten in Wien herausrutschen: dass das Familienoberhaupt Anton Schlecker sich im August oder September zurückziehen, die Geschäfte an ihn und seine Schwester übergeben werde. Es ist ein heller Wintertag mit Sonne, aber Lars Schlecker sitzt im fahlen Neonlicht des Souterrains eines mittelmäßigen Wiener Hotels.

Das autoritäre Moment der Katastrophe

Er ist 40 Jahre alt, eine üppige Mähne über einer schmächtigen Gestalt, er sieht nicht aus wie ein Drogeriemarktbetreiber, eher wie ein spitzgliedriger Komponist. Anders als seine Schwester spricht er mit einem aufgeräumten Lächeln über die Zukunft – so als sei er froh, sich endlich gegen seinen Vater durchgesetzt zu haben. So als hätte in diesen Angelegenheiten immer noch die Familie das Sagen – und nicht der Insolvenzverwalter.

Es ist nicht klar, wie sehr der 67 Jahre alte Patron Anton Schlecker versucht, weiter im Hintergrund die Fäden zu ziehen. So wie er das immer getan hat. Anton Schlecker hat sich ja nie reinreden lassen. Zugeständnisse hat er nur unter Druck gemacht.

Er ist das autoritäre Moment der Katastrophe.

Auch als der Insolvenzverwalter Arndt Geiwitz am 29. Februar verkündet, dass im Zuge der Sanierung rund die Hälfte aller Schlecker-Filialen geschlossen werden muss, dass etwa jeder zweite Job bei Schlecker wegfällt, steht für Geiwitz der Schuldige fest: Anton Schlecker. Es klingt wie eine Abrechnung, als der Anwalt über die „Intransparenz des Unternehmens“ herzieht, die „sehr vielen Arbeitnehmerauseinandersetzungen“ beklagt, den „Imageverlust“.

Die öffentliche Schelte des Insolvenzverwalters, eines Rechtsanwalts, steht für den totalen Kontrollverlust des Familienoberhaupts Anton Schlecker. Eines Mannes aus einfachen Verhältnissen, der die Dinge immer im Griff behalten wollte, auch zuletzt noch, als längst 23 Herren in grauen Anzügen in die Ehinger Firmenzentrale eingefallen waren, um sich kritisch über die Bilanzen zu beugen, um zu retten, was noch zu retten ist.

Eine westdeutsche Aufsteigergeschichte

Das Ende passiert also wieder in Ehingen, dort, wo alles vor Jahrzehnten begann, und zwar mit Wurst. Anton Schlecker arbeitete als Kind im Geschäft des Vaters mit, einer Metzgerei in der Bahnhofstraße, die Mutter stand hinter der Theke. Nach dem Krieg hat der Vater Fleischkonserven an die französischen Besatzungssoldaten verkauft, nun gehören der Familie 17 Schlachtereifilialen und eine Fleischfabrik. Der Vater ist einer, der das Geld zusammenhält, eine Obstkiste soll ihm als Nachttisch gereicht haben, sagen die Ehinger, sie erinnern sich: Als Junge hatte Anton Schlecker keine Zeit zum Spielen, musste oben in der Wohnung Tüten kleben, den Laden putzen, die Blutkannen aus der Schlachterei durchrühren für die Blutwurst.

Letztlich ist der international tätige Unternehmer Anton Schlecker nie wirklich über diese kleine Stadt in der schwäbischen Provinz hinausgewachsen, wo er in den sechziger Jahren als junger Metzger begann, eine sehr westdeutsche Aufsteigergeschichte auch.

Dafür ist er mit 21 Jahren jüngster Metzgermeister in Baden-Württemberg. Es reicht ihm nicht. 1967 eröffnet er am Rand von Ehingen den ersten Supermarkt. „Schleckerland“. Eine Sensation: Die Kunden können sehr unterschiedliche Produkte in einem einzigen Laden kaufen; und weil sie sich Wurst, Waschmittel und Marmelade selbst in den Einkaufswagen schichten, sind die Preise niedrig.

Ehingen liegt am Rande der schwäbischen Alb, aus allen Dörfern ringsum kommen auf einmal die Leute angefahren, laden sich den Kofferraum voll. Anton Schlecker eröffnet vier weitere Supermärkte.

In die Metzgerei kommt eine Rolltreppe

Als 1974 die Preisbindung im Handel fällt, als die Hersteller nicht mehr vorschreiben dürfen, was ein Produkt kostet, sieht Schlecker eine neue Chance: das Discountgeschäft. Schlecker erkennt: Er kann Markenartikel billiger anbieten, wenn er am Drumherum spart, an Verkäuferinnen und an der Ausstattung der Läden. Ein Jahr später macht er in Kirchheim unter Teck seinen ersten Drogeriemarkt auf. In die Metzgerei seines Vaters in der Ehinger Bahnhofstraße lässt er eine Rolltreppe einbauen, ab sofort werden unten Lebensmittel verkauft, im ersten Stock Putzmittel und Handcreme. Zwei Jahre später betreibt er schon mehr als 100 Drogerien.

Auf dem Gewerbeaufsichtsamt lässt sich Schlecker als „eingetragener Kaufmann“ registrieren. Das bedeutet: ganzer Gewinn, volles Risiko, volle Haftung. Schlecker will seinen Erfolg alleine schaffen, ohne Banken, ohne Geldgeber, ohne Strategieberater. Ohne Fremde. Er sitzt um 6.45 Uhr im Büro, kümmert sich um die Immobilien, um die Ausdehnung seines Imperiums, seine Frau Christa, eine Fremdsprachensekretärin, funktioniert als Personal- und Einkaufsabteilung. „Abends um 19 Uhr gehen wir dann wieder nach Hause. Unsere Arbeit ist unser Leben“, so beschreibt Schlecker später im Jahr 2010 in einem der seltenen Interviews seinen Tag.

Auch die Woche folgt einem straffen Programm: Montag bis Mittwoch Büroarbeit in Ehingen. Donnerstag bis Samstag Kontrolltour mit seiner Frau Christa. Unangemeldet fährt dann das Ehepaar Schlecker in einem Sportwagen vor den Filialen vor, gucken, ob die Regale sauber sind, die Deoroller in den vorgesehenen Fächern stehen, ob die Verkäuferinnen alles richtig machen. Abends führt das Ehepaar Industriepartner der jeweiligen Gegend in einem Restaurant zum Essen, handelt die Konditionen aus.

Pünktlich zum Tischtennisspiel mit alten Schulfreunden kehren die Schleckers samstags wieder heim. Die Tischtennisrunde heißt „Saunaclub“, vielleicht weil das verrufener klingt. Zum Club gehören Lehrer, Schlossermeister, andere Mittelständler. Es gibt Leute in Ehingen, die behaupten, der Saunaclub sei das einflussreichste Gremium der Stadt. Schleckers Woche endet mit einem Sonntagsfrühstück in der Familie. Am Frühstückstisch, so hat es der Sohn Lars Schlecker in einem Interview 2011 beschrieben, habe der Vater seinen Kindern schon früh das Geschäft erklärt.

Die beiden Kinder schickt Schlecker auf die Urspringschule, eine zwischen Hügeln und Wald gelegene Privatschule etwa zehn Kilometer von Ehingen. Vielleicht lässt sich auch das als Versuch werten, Kontrolle über die Zukunft seiner Familie zu bewahren.

Am 23. Dezember 1987 entgleitet Anton Schlecker die Kontrolle allerdings bereits für etliche Stunden. Die Familie kehrt abends von einer Weihnachtsfeier zurück. Zu Hause in Ehingen warten drei maskierte und bewaffnete Männer. Zwei von ihnen laden die beiden Kinder, den 16 Jahre alten Lars und seine zwei Jahre jüngere Schwester, wieder in den Jaguar des Vaters und fahren mit ihnen ins Dunkle. Der dritte Mann bleibt bei den Eltern.

In einer fünf Kilometer entfernten Hütte an einem Fischteich werden die Geschwister gefesselt, sie sind die Geiseln, sie müssen warten. Ein Bewacher bleibt bei ihnen. Der zweite Geiselnehmer fährt zurück zum Haus der Eltern. Anton Schlecker bekommt zu hören: 18 Millionen Mark. Oder er werde seine Kinder nicht lebend wieder sehen.

Die Schleckers haben später nie über die Entführung gesprochen. Die Eltern haben nie gesagt, wie es ist, wenn das Leben der Kinder davon abhängt, wie schnell man eine Geldsumme besorgt. Ob sie Fehler gemacht haben. Ob sie vielleicht zu hoch gepokert haben. Die Kinder haben nie erzählt, wie es gewesen ist, Opfer eines Verbrechens zu sein, nur weil der Vater ein erfolgreicher Geschäftsmann ist; wie es ist, eingesperrt zu sein im Dunkeln und vor einem steht ein Unbekannter mit einer Waffe. Ein Drama, in dem vieles angelegt ist, was die Schleckers heute ausmacht.

Anton Schlecker in seiner Villa mit zwei Geiselnehmern, die ihn bedrohen, hat begonnen mit den Geiselnehmern zu verhandeln, ein stundenlanges Geschacher. Er hat versucht, wieder die Kontrolle zu übernehmen. Er handelte nicht nur die Forderungen der Kidnapper auf 9,6 Millionen Mark herunter, über diese Summe war er versichert. Anton Schlecker holte auch noch ein Schulheft aus dem Zimmer seines Sohnes und schrieb den Entführern eine Liste. Auf der Liste stand, was sie alles erledigen müssten, um an das Geld zu kommen. Es ist so: Anton Schlecker hat wieder das Steuer übernommen.

Am nächsten Morgen brach Schleckers Prokurist mit der vereinbarten Summe auf zur Geldübergabe. Die Erpresser machten sich mit dem Auto des Prokuristen davon, verschwanden spurlos. Lars und Meike Schlecker, inzwischen alleine gelassen in der Fischerhütte, schafften es, sich von den Handschellen zu befreien und ins Freie zu laufen.

Die Suche nach den Entführern der Kinder

Elf Jahre suchte die Polizei nach den Entführern. Elf Jahre sind eine lange Zeit, in der Mutmaßungen wachsen konnten. Da das Lösegeld der Versicherungssumme entsprach, blühte das Gerücht, Anton Schlecker hätte die Entführung fingiert, um zu kassieren. Eine Behauptung, die die Polizei schnell als unhaltbar zurückwies. Aber das Gerede war in der Welt.

Erst elf Jahre später wurden die drei Täter geschnappt. Sie waren bei einem Bankdirektor eingestiegen, er wohnt in Ehingen ganz in der Nähe der Schleckers. Die drei Täter bekamen hohe Gefängnisstrafen.

Man kann sich fragen, was so ein Erlebnis mit einer Familie macht.

Die Schleckers haben darüber nichts erzählt. Es gibt eine ARD-Dokumentation über die Entführung, dort kommen Polizisten, Anwälte und Richter zu Wort. Die Schleckers schweigen, auch als Geschäftsmann gibt Anton Schlecker kaum Interviews, nur der Lebensmittelzeitung schickte er regelmäßig Mitteilungen, in denen er die Steigerung von Filialzahlen und Umsatz ankündigte. Ansonsten hielt er es wie die Aldi-Brüder Theo und Karl Albrecht und der Lidl-Chef Dieter Schwarz: Er schirmte sich ab.

Um das Grundstück in einem Neubauviertel von Ehingen hat die Familie eine hohe Mauer gezogen, Überwachungskameras aufgehängt, ein abgeschottetes Leben gelebt. Die Schleckers zeigen sich weder in der Stadt noch in einem Verein. Kein Mitglied der Familie oder des Unternehmens macht beim Rotary Club Ehingen oder beim örtlichen Lions Club mit. Selbst beim „Schlecker Cup“ tauchen die Schleckers nicht auf, obwohl sie die Sponsoren dieses Ereignisses sind, obwohl sie mit diesem Handballturnier jedes Jahr Profispieler aus ganz Europa in die kleine Stadt bringen. Auch die Mitglieder des Saunaclubs schweigen. In Ehingen hört man diesbezüglich vor allem die Antwort: „Da beißen Sie hier auf Granit.“

Wer etwas über die Schleckers erfahren will, muss sich daher auf andere Quellen stützen, auf alte Zeitungsartikel, auf das Umfeld. Man kann in Ehingen herumlaufen, den Oberbürgermeister befragen, Menschen sprechen, die mit den Schleckers zu tun hatten, auch in Berlin, kann mit Angestellten und Betriebsräten reden. Es sind nur Schnipsel, die man findet. Am Ende ergeben sie trotzdem ein Bild.

Und immerhin, ein Familienfoto haben die Schleckers herausgegeben. Es zeigt eine Mutter, einen Vater und zwei pubertierende Kinder, die sich in einer Wohnzimmerkulisse mit Teppich und Stilmöbeln aufgestellt haben. Meike Schlecker lässt die Arme hängen, zieht den Mund schief, sie trägt eine Achtzigerjahre-Dauerwelle, einen bunten Pullover mit Fledermausärmeln und einen Jeansrock. Ihr Bruder Lars guckt lässig in die Kamera.

Die Kinder haben nie verraten, wie es ist, mehr oder weniger unter Geheimhaltung aufzuwachsen. Ein ehemaliger Mathelehrer der Schlecker-Kinder aus der Privatschule sagt heute: „Ich hab mich gewundert, dass die beide jetzt ins Management aufgestiegen sind, dass die überhaupt das Geschäft des Vaters übernehmen wollen. So wie ich die beiden von früher kenne, hätte ich das nie gedacht.“ Mehr will der Lehrer nicht sagen.

Wenig dringt von den Schleckers nach außen: Lars Schlecker soll als Teenager in der Disko Hundert-Mark-Scheine angezündet haben, erzählen die Leute in Ehingen.

Er selbst sagt im Februar nach dem Termin in dem Wiener Hotel, als die meisten Journalisten schon abgezogen sind zur nächsten Wirtschaftsmeldung und er nicht mehr dasitzen muss mit durchgedrücktem Rücken, sondern ein wenig formlos herumstehen kann, der Pressesprecher hört gerade weg: „Ich habe als junger Mensch andere Dinge im Kopf gehabt, als in die Fußstapfen meines Vaters zu treten.“ Sein Grinsen verschmiert.

Sie schotten sich ab, das Familienfrühstück fällt aus

Als die Kinder erwachsen sind, bricht die Zeit der Familienfrühstücke in Ehingen erst mal ab. Lars und Meike Schlecker gehen raus in die Welt, studieren an Privatuniversitäten in Barcelona, London und Berlin. Meike Schlecker heiratet einen Investmentbanker in London, Lars Schlecker eine Architektin in Berlin.

Auf die Frage, ob seine Kinder einmal die Nachfolge übernehmen sollen, antwortet Anton Schlecker einem Journalisten 2004: „Wenn eines meiner Kinder will, dann kriegt es die lange Leine.“ Auch das klingt eher nach Gängelei. Trotzdem kommen die Kinder nicht los von ihm, ziehen zurück nach Ehingen. Meike Schlecker hat in Barcelona über das Online-Geschäft von Schlecker ihre Abschlussarbeit geschrieben, jetzt baut sie auf dem Grundstück der Eltern in Ehingen ein Anwesen. Lars Schlecker renoviert in einem Nachbardorf einen alten Bauernhof.

Das Geschäft des Vaters brummt.

In den Neunzigern eröffnen jedes Jahr an die tausend neue Schlecker-Filialen, das bedeutet: Bis zu drei neue Schlecker-Märkte pro Tag. Das muss man sich mal vorstellen. Drei neue Filialen täglich. Es gibt Leute, die Witze machen deswegen, sie sagen: „Schließ gut ab, wenn du in Urlaub fährst, sonst ist hinterher der Schlecker drin.“

Der Höhepunkt ist 2007. In jenem Jahr gehören Schlecker mehr als 14.000 Läden in dreizehn Ländern.

Anton Schlecker trägt da schrill gestreifte Versace-Hemden, lässt Formel-1-Motoren in seine Sportwagen einbauen, taucht damit aus seiner Tiefgarage auf, fährt in der Gegend herum. Am Stadtrand von Ehingen baut er eine siebenstöckige Firmenzentrale mit Spiegelglasfassade. Für Ehingen ist das fast ein Wolkenkratzer. Gleich daneben betreibt Schlecker eine Tankstelle, ein Möbelgeschäft, einen Baumarkt, eine Kantine mit günstigem Mittagstisch. Es ist alles da in Schleckerland, das Ziel ist erreicht: er kann sich alleine versorgen, ist von niemandem abhängig, für die Blutkannen sind jetzt andere zuständig.

Sein Büro richtet Schlecker mit Mahagoni ein, Besucher bekommen Kalender geschenkt mit Botschaften wie „Wenn Du willst, schaffst Du alles“ oder das Buch „Der Fürst“ von Machiavelli, er dürfte das als Hinweis auf eine eigene gelungene Unternehmensführung gemeint haben. Dabei folgt er als Kaufmann nur dem alten Gebot der schwäbischen Hausfrau: Sparsamkeit.

Die Filialen sind oft klein und in schlechten Lagen, Schlecker zahlt wenig Miete, hält die Kosten gering. Die schlichte Ausstattung der Läden suggeriert, dass auch die Preise niedrig seien.

Von diesem Kundenirrtum lebte die Firma lange Zeit.

Neue Filialen ließ sich Schlecker von der Industrie zu günstigen Konditionen einrichten und mit Ware vollstellen. Auf die Ware bekam er so hohe Rabatte, dass der Gewinn aus den neuen Filialen auch Verluste der bestehenden Läden kaschieren konnte. Außerdem gewährte ihm die Industrie lange Zahlungsfristen. Meist hatte Schlecker die Produkte längst verkauft, wenn er die Lieferanten bezahlen musste. In der verbleibenden Zeit konnte er das Geld sogar noch anlegen. Schlecker musste sich daher tatsächlich kein Geld von Banken leihen. Sein Deal mit den Lieferanten funktionierte wie ein immer wieder neuer Kredit über etliche hundert Millionen Euro. Nicht nur die Waren in den Läden, sondern auch die Expansion konnte er damit finanzieren.

Ein Rennwagen auf der Überholspur

Ähnlich wie ein Schneeballsystem konnte diese Strategie aber nur so lange gut gehen, wie Schlecker immer neue Filialen aufmachte. Sobald das Wachstum nachließ, brachen die Gewinne ein. Der Ertrag der einzelnen Läden war zu niedrig. Es war abzusehen, dass sich seine Filialen irgendwann gegenseitig die Kunden wegnehmen würden.

■ Pleite: Der Insolvenzverwalter Arndt Geiwitz sucht zurzeit nach Investoren. Das Insolvenzverfahren soll Ende März eröffnet werden. Dann möchte Geiwitz mit einem Teil der Filialen „neu durchstarten“. Außerdem will er bis spätestens Ende Mai einen Investor präsentieren. Rund zwei Dutzend potenzielle Investoren hätten bereits Interesse signalisiert.

■ Schließungen: Anders als die Wettbewerber setzte Schlecker auf kleine Läden an jeder Straßenecke, deren Attraktivität zu wünschen übrig ließ. Von derzeit 5.400 Filialen sollen dieses Wochenende mehr als 2.200 Filialen das letzte Mal geöffnet sein.

■ Entlassungen: Mehr als 11.000 der 25.000 Mitarbeiter soll es treffen. Am Dienstag wurden erste Kündigungen ausgesprochen. Es laufen die Vorbereitungen für eine Auffanggesellschaft, in der die Betroffenen weiterqualifiziert werden können, ohne arbeitslos zu werden. In dieser Woche hatte es in Berlin eine grundsätzliche Einigung zwischen Bund und Ländern gegeben. Demnach sollen die Länder für den nötigen Kredit der Förderbank KfW von rund 70 Millionen Euro voll bürgen.

Vielleicht hat Anton Schlecker der Erfolg nicht gut getan. Vielleicht hat er gedacht, die Sache würde trotzdem und gegen alle Regeln ins Ziel fahren, ein Rennwagen auf der Überholspur. Heute kann man feststellen: Er ist gegen die Wand geknallt. Er hat die Kurve nicht gekriegt. Er hat nicht gemerkt, dass es in einem Wohlstandsland beim Einkaufen um mehr geht als um die Deckung eines Bedarfs.

Er hat nicht bemerkt, dass zum Beispiel die jungen Mütter, eine Kernzielgruppe des Drogeriemarktgeschäfts, dass die jungen Mütter nicht stecken bleiben wollen mit ihren Kinderwagen in den engen Gängen einer Rumpelkammer mit zugeklebten Fenstern. Dass man den jungen Müttern mit vielen Shampoosorten und Bioprodukten die Illusion eines luxuriösen Alltagsausflugs schenken muss, kurz, dass man die Kunden heutzutage mit einem angenehmen Einkaufserlebnis umschmeicheln muss.

Die Konkurrenz hat das verstanden.

Götz Werner etwa, der Chef der Drogeriemarktkette dm, lässt Wickeltische aufstellen, die Regale mit Bio vollstellen und schickt seine Beschäftigten zu Theater-Workshops. In Interviews lehnt er sich locker zurück, preist das Betriebsklima in seinen Geschäften, gibt anthroposophische Weisheiten von sich.

Zudem ist dm meist billiger. Acht Rollen Zewa-Klopapier – dm: 2,15 Euro, Schlecker: 3,49 Euro. Pflaster von Hansaplast – dm: 1,75 Euro, Schlecker: 3,15 Euro.

Anton Schlecker wirkte, als wäre er gedanklich in einer frühen Phase des Manchester-Kapitalismus hängen geblieben. Während er hinter dem Steuer eines immer wieder anderen Luxusautos auf der Bundesstraße gesichtet wurde – während er privat also die guten Seiten des Lebens zu schätzen wusste, setzte er beruflich auf alte Prinzipien: Knausern, Überwachen, Strafen.

Überwachungskameras und Taschenkontrollen

Das Managementprinzip, wonach Mitarbeiter eine wertvolle Ressource darstellen, ist bei Schlecker nie wirklich angekommen. Stattdessen blieb die Unternehmensführung misstrauisch. „Das Personal ist wie ein Möbelstück: Man kann es jederzeit verrücken oder abschaffen“, soll Christa Schlecker laut Financial Times einmal gesagt haben.

Seine Mitarbeiter lässt Schlecker mit Überwachungskameras bespitzeln, lässt Taschen kontrollieren, lässt Abmahnungen und Kündigungen schreiben, bezahlt unter Tarif. Er lagert Beschäftigte in eine Zeitarbeitsfirma aus, um Löhne zu drücken. Der Bundesarbeitsministerin dient er damit als Anlass für eine „Lex Schlecker“ gegen den Missbrauch von Zeitarbeit. Einmal schreit Anton Schlecker eine Betriebsratsvorsitzende an: „Sie sind eine blöde Kuh!“ Ein anderes Mal werden zwei Mitarbeiterinnen in ein Lager gesperrt mit der Drohung, sie erst wieder herauszulassen, wenn sie das Lager geputzt hätten. Schlecker-Filialen werden häufiger überfallen als andere Läden, weil die Verkäuferinnen oft allein arbeiten. Lange gab es in den meisten Geschäften nicht einmal ein Telefon, weil der Chef fand, die Angestellten sollten arbeiten, nicht telefonieren.

Man kann sagen: Anton Schlecker war der böseste Chef Deutschlands. Er tat nichts, um diesen Ruf loszuwerden. Er schwieg. Dass zu viel Verschwiegenheit in einer Medienwelt schaden kann, wenn sie schuldbewusst wirkt und arrogant – das hat er nicht verstanden. Er hielt einfach fest an seinem Prinzip.

Irgendwann musste Anton Schlecker doch einlenken. Auch weil das Bundesarbeitsgericht ihn gezwungen hat, er einigte sich mit der Gewerkschaft, zahlte Tariflohn, ließ Telefonleitungen in jede Filiale legen. Und weil man einen Neuanfang nicht mit den alten Gesichtern verkaufen kann, schob Schlecker seine Kinder vor. Die beiden gaben Interviews, versprachen, alles besser zu machen, ließen sich vor Bäumen im Sonnenschein fotografieren, redeten von einem Zukunftsprogramm namens „Fit for Future“.

Aber da war es bereits 2010. Da war der Ruf schon ruiniert, da waren die Kunden schon zur Konkurrenz gelaufen. Da schrieb Schlecker schon jahrelang Verluste. Da waren Lars und Meike Schlecker längst wieder am Wegziehen aus dem beschaulichen Ehingen, am Umziehen in Maisonette-Wohnungen in Berlin-Mitte und anderswo, da war aus Schleckers Lebenswerk ein Arbeitsplatz für neumodische Wochenendpendler geworden. Vielleicht hatte Schlecker die Leine zu lang gelassen. Vielleicht bedeutet Familie immer auch einen Fluch.

2010 erinnerte Anton Schlecker jedenfalls längst an Erich Honecker in den letzten Tagen der DDR. Schlecker als Mehrgenerationenprojekt kam zu spät. Das Unternehmen war alles andere als fit, die Kontrolle dem Patriarchen verloren gegangen.

Larsi-Boy bei den Betriebsrätinnen

Heute führt ein Insolvenzverwalter die Geschäfte, es wird ein Investor gesucht, über 2.000 Filialen machen zu, über 11.000 Mitarbeiter müssen mit Kündigungen rechnen, der Staat soll für sie eine Auffanggesellschaft bezahlen.

Und die Schlecker-Kinder wollen immer noch alles besser machen.

Als der Insolvenzverwalter Anfang Februar im thüringischen Oberhof mit den Betriebsräten von Schlecker spricht und Lars Schlecker überraschend reinschneit, da wollen sie ihm das auch glauben, die Betriebsrats-Frauen, deren Zukunft in der Schwebe hängt. Sogar einen kurzen Film haben sie bei dem Termin gedreht und auf die Ver.di-Website gestellt. Lars Schlecker sitzt dünn und schüchtern lächelnd da, die Haare stehen wuschelig vom Kopf, ein sympathischer junger Chef, der den leidgeprüften Betriebsrätinnen höflich seine Aufwartung macht, er wirkt ja wirklich viel netter als sein Vater, wenn er Sätze sagt wie: „Es muss sich was ändern“ und „Wir wollen Schlecker am Markt halten“. Und da wollen die rund fünfzig Frauen, die hier an den langen Tischen lehnen, auch gerne mithelfen, da nennen sie ihn untereinander bereits „unseren Larsi-Boy“, so viel Vertrauensvorschuss ist da.

Die Frage ist, wie viel von den Eltern in den Kindern steckt? Wie weit reicht der Schatten des Vaters? Und was passiert mit einem straff hierarchisch geführten Unternehmen, wenn das Oberhaupt scheitert?

Anfang Februar in Wien hat Lars Schlecker erklärt: „Wir halten als Familie zusammen wie Pech und Schwefel.“ Das muss nicht immer ein Vorteil sein.

Kirsten Küppers, 39, ist sonntaz-Autorin. In ihrer Nachbarschaft in Berlin schließen zwei von drei Schlecker-Filialen