Die Grenze des Wohlstands

BESITZ Bei Mindestlohn oder Rente geht es auch um die Frage, wo Armut anfängt. Aber hängt das Gefühl, arm zu sein, wirklich nur von Geld ab? Vier Begegnungen

Prozent der Frauen und 18,1 Prozent der Männer in Deutschland waren 2012 von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen Quelle: Statistisches Bundesamt

Euro Schulden hatten überschuldete Menschen 2012 im Durchschnitt Quelle: Statistisches Bundesamt

Prozent der deutschen Kinder und Jugendlichen haben zwischen 2000 und 2010 langfristig in Armut gelebt Quelle: Unicef

Prozent der Fälle von Überschuldung wurden 2012 von Arbeitslosigkeit ausgelöst Quelle: Statistisches Bundesamt

Wohnungslose lebten schätzungsweise 2012 in Deutschland. Offizielle Erhebungen gibt es hierzu nicht Quelle: Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe

Prozent ihres Haushaltsnettoeinkommens mussten Menschen 2011 für Wohnkosten aufwenden. Bei armutsgefährdeten Menschen lag der Anteil bei 50 Prozent

Quelle: Statistisches Bundesamt

VON STEFFI UNSLEBER
(TEXT) UND ANDRÉ WUNSTORF (FOTOS)

Prolog

Über Geld spricht man nicht. Diesem Satz meiner Eltern habe ich oft widersprochen. Natürlich müsse man über Geld reden, wie soll man sonst gegen schlechte Löhne und zu niedrige Sozialleistungen kämpfen.

Wer durch Deutschland reist, um über Armut zu sprechen, erfährt, warum es doch schwierig ist: Menschen, die ihren Kontostand zeigen, machen sich verletzlich. Kontostände legen Intimes offen. Sie scheinen etwas darüber zu verraten, ob man im Leben erfolgreich ist oder gescheitert.

Untere Mittelschicht

„Ich entstamme einer Unterschichtsfamilie und erfüllte lange Zeit klischeehaft die Erwartungen der Gesellschaft an eine Frau dieser Schicht“, schrieb Jutta Oel Mitte August in einer E-Mail an die sonntaz. „Im Alter von über 40 Jahren entschloss ich mich noch mal zu einer Ausbildung, machte mein Abitur und studiere heute mit 51 Jahren. Im Rahmen des Abiturs setzte ich mich mit Schichtzugehörigkeit auseinander. Ich stellte mit Überraschung fest, dass ich zur Mittelschicht gehöre. Mit meinen finanziellen Engpässen, ohne jegliche Ersparnisse erschien mir das absurd.“

Jutta Oel lädt normalerweise niemanden ein. Sie schämt sich – für die Piefigkeit ihrer Holzmöbel, wie sie sagt, für ihre papiernen Ikea-Lampen, „nicht stylish, nicht minimalistisch, nicht edel“.

Und jetzt soll sie noch über Armut sprechen, sich erinnern, wie das war. Von der Gefriertruhe erzählen, die ihre Eltern am Anfang des Monats mit Brot gefüllt haben, aus Angst, sich am Ende des Monats keines leisten zu können. Von den Omaschuhen sprechen, wegen derer sie in der Schule gehänselt wurde.

Sie schrieb weiter: „Ich wünsche wieder als Unterschicht bezeichnet zu werden. Nicht weil ich das gerne wäre, sondern weil es der Wahrheit entspricht. Ich komme gerade so über den Monat. Ich kann keine Rücklagen bilden. Ich kann nicht für mich sorgen. Der verlorene Zahn bleibt leider unersetzt.“

In den Koalitionsgesprächen verhandeln die Spitzen von Union und SPD gerade über einen flächendeckenden Mindestlohn. Er hätte enorme Folgen: In Ostdeutschland würde jeder Vierte und in Westdeutschland jeder Achte mehr verdienen, ergab eine Studie des Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle, die auf den Zahlen des Sozioökonomischen Panels von 2011 basiert – seit 30 Jahren werden hierfür dieselben 20.000 Menschen befragt, zu ihrem Einkommen, ihrer Gesundheit, ihrer Bildung. Im ostdeutschen Gastgewerbe und in der Landwirtschaft läge der Mindestlohn sogar über den durchschnittlich gezahlten Löhnen. Er würde verhindern, dass Menschen trotz ihres Berufs arm sind.

Es gibt zunehmend Menschen, auch im liberal-intellektuellen Milieu, die sagen: Der Staat ist verantwortlich, dass da unten alles funktioniert, auch wenn uns das nicht betrifft. Sonst ist der soziale Frieden in Gefahr.

Aber wie hoch muss der Mindestlohn sein, damit Menschen, die Vollzeit arbeiten, nicht arm sind? 8,50 Euro mal 8 Stunden Arbeit pro Tag mal 22 Arbeitstage pro Monat macht 1.496 Euro brutto. Für einen Singlehaushalt 1.081,43 Euro netto.

Reicht das? Ist das zu viel? Zu wenig? Wo fängt Armut an?

Sind Hartz-IV-Empfänger arm? Menschen mit Wohnung, Heizung, Essen und Trinken, Kleidern? Ein Leben, das beschwerlich ist und manchmal auch entwürdigend, aber in dem die Grundbedürfnisse doch erfüllt werden – ist es arm? Und falls ja: Arm an was?

Die kreative Boheme nennt sich gern arm. Es ist ein Lebensgefühl, dieses Abenteuer, gerade so über die Runden zu kommen, auf Flohmärkten einzukaufen, Möbel vom Sperrmüll zu klauen, containern zu gehen, niedrige Bedürfnisse zu haben. Wer will mit 25 schon reich sein?

Und wie ist es mit 40? Wenn die Zähne marode werden? Man vielleicht eine Familie ernähren möchte, es aber nicht kann? Wenn man in der U-Bahn schwarzfährt, trotz Vollzeitjob?

Der Himmel hängt tief in Fernwald, einem kleinen Ort bei Gießen. Jutta Oel wohnt in einem unscheinbaren Mehrfamilienhaus, hellgelb verputzt, in einer unscheinbaren Dorfstraße. Sie sitzt auf dem Bett, in Jogginghose und barfuß. Eine 51-jährige, mollige Frau, die mit ihren langen dunkelbraunen Haaren und trotz der Fältchen um den Mund noch mädchenhaft aussieht. Aufgewachsen ist sie in einem Dorf in der Nähe, erzählt Jutta Oel, in einem Haus, das keine Toilette hatte und in dem sich die vier Kinder ein Zimmer geteilt haben. Sie waren arm, aber sie hat das nicht so empfunden.

Sie war zehn, als sie in ein anderes Dorf gezogen sind. In ein Haus, in dem es eine Toilette gab und zwei Zimmer für die Kinder. „Wir hatten mehr als vorher“, sagt Jutta Oel, „aber in dem neuen Dorf gab es keine großen Familien. Durch unsere Kinderschar und die altmodische Kleidung wurden wir als arm bewertet.“

Sie blieb es, auch nachdem sie geheiratet hatte. Bis sie vierzig war, war ihr Leben geprägt von Gerichtsvollziehern, Mahnschreiben und Räumungsklagen. Ihr Mann verdiente als Bäcker 900 Mark, oft war er arbeitslos, dabei kostete die Miete schon 600 Mark. Sie selbst hatte ihre Ausbildung zur Chemielaborantin geschmissen und ging dann putzen, aber sie war so übergewichtig, dass ihr beim Wischen auf den Knien die Kniescheiben wegrutschten. Sie fand eine Stelle als Zeitungsausträgerin, in der Dunkelheit schlich sie um die Häuser. Es gab damals für Dicke noch keine Kleidung, sagt sie. In dem Katalog, in den sie schaute, fand sie auf 300 Seiten genau ein Kleidungsstück, das ihr passte.

Dann ließ sie sich den Magen verkleinern und fing an bei der Lebenshilfe zu putzen. Sie machte dort eine Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin, am Abendgymnasium Abitur, jetzt studiert sie soziale Arbeit – und arbeitet bei der Lebenshilfe noch als Pflegerin. Aus den 1.300 Euro netto sind inzwischen 1.700 Euro geworden.

Trotzdem. Sie sagt, sie wartet in der Universität auf den Moment, in dem die anderen merken, dass sie nicht hierhergehört, dass alles nur ein Bluff ist und sie die Putzfrau.

Sie sammelt Münzen, in leeren Smoothie-Flaschen, Ein-Cent-Münzen, Zwei-Cent-Münzen, Zwei-Euro-Stücke. Die Flaschen stehen aufgereiht in ihrem Bücherregal. Ihre Mutter hat das auch so gemacht. Wenn sie Geld brauchten, haben sie die Münzstapel in Papier gerollt und zur Bank gebracht.

Jutta Oel ärgert sich darüber, wie materialistisch sie ist, dass sie sich an dem Geld erfreuen kann. Obwohl sie das Gefühl von Armut nie verlassen hat. Sie hat keine Rücklagen. Keine wohlhabenden Tanten oder Onkel, die ihr aushelfen könnten.

Das letzte Mal, als ihr Auto kaputt war, hat sie sich für 900 Euro ein neues gekauft. Sie hat alle Smoothie-Gläser geleert und Geld von ihrer Tochter geliehen. Eigentlich müsste sie jetzt sparen, damit sie sich ein Auto kaufen kann, wenn sie das nächste Mal ein neues braucht. Doch das tut sie nicht. Sie gibt alles aus für Genuss, den sie früher nicht bezahlen konnte.

Ist Jutta Oel Mittelschicht? Oder arm?

Die Grenze verwischt. Die Mittelschicht ist in den vergangenen Jahren dünner geworden, ein Teil von ihr ist in die Unterschicht abgerutscht. Deshalb versucht sich die bürgerliche Mitte jetzt nach unten abzugrenzen. Wegen der Ansteckungsgefahr. „Ja, komisch, nicht?“, sagt Silke Borgstedt. Sie leitet die Sozialforschung des Berliner Sinus-Instituts, in dem man versucht, gesellschaftliche Milieus in Diagrammen abzubilden. „Das ist wie bei einer Grippe.“

Interessant ist, sagt sie, dass dasselbe Milieu in den Neunzigern noch einen anderen Namen hatte: aufstiegsorientiertes Milieu. Heute geht der Blick eher in die entgegengesetzte Richtung: Man weiß vor allem, wo man nicht hinwill.

In den „Hagener Arbeitsberichten zur Soziologischen Gegenwartsdiagnose: Die Angst der Mittelschicht vor dem Abstieg“ nennen die Autoren das den „Spill-over-Effekt“ der Abstiegsangst. Sie schreiben: „Trotz individueller Nichtbetroffenheit schwappt die Sorge um die eigene materielle Zukunft auf die besser qualifizierten Mittelschichten, ohne dass dieser Verunsicherung eine objektive Verschlechterung der eigenen Lage entspricht.“

„Es gibt Eltern“, sagt Silke Borgstedt, „die sagen so Sachen wie: ,Ja, wir fanden das Mädchen ganz nett. Aber die hat ja kein richtiges Pausenbrot dabei. Unsere Tochter kann zwar mal was abgeben, aber eigentlich wollen wir das nicht.‘ “ Sie denkt nach und sagt dann sehr langsam: „Man möchte, glaube ich, dass um einen herum alles ganz normal ist.“

Wann sich Jutta Oel das letzte Mal arm gefühlt hat?

„Als meine Tochter nach der Trennung von ihrem Freund weinend auf ihrem Bett saß, 2005. Sie hat gerade eine Ausbildung gemacht und arbeitete noch einmal in der Woche in der Disco. Aber sie hatte kein Geld für eine Winterjacke.“

Und Jutta Oel, die die ganze Zeit sachlich von ihren Wunden berichtet hat, verliert die Fassung. Ihr Gesicht wird rot, die Augen werden feucht.

„Ich weiß nicht“, sagt sie, „warum das so wehtut.“ Sie will das trotzdem erzählen.

„Es hätte ja Lösungen gegeben. Man hätte zwei Jacken übereinander anziehen können. Aber dass Bianca so viel arbeitet und sich so elementare Sachen wie eine Winterjacke nicht leisten kann …“

Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Berlin-Mitte, ein repräsentativer Bau aus roten Steinen.

Markus Grabka forscht im dritten Stock, am Ende eines langen Flures, man muss dreimal um die Ecke biegen, bis man sein Büro erreicht. Es ist schmal und dunkel, voller Papierstapel, auf dem Boden, im Regal.

Markus Grabka, ein zarter Mann mit Halbglatze und Brille, betreut hier das Sozioökonomische Panel. Um Armut zu messen, gibt es verschiedene Konzepte. Von absoluter Armut spricht man weltweit, wenn ein Mensch weniger als 1,25 Dollar pro Tag hat, erklärt er. In Deutschland haben die Menschen fast immer mehr als das. Nur Obdachlose dürften weniger zur Verfügung haben – doch darüber gibt es bloß Schätzungen.

Wichtiger für die Gesellschaft in Deutschland ist das Konzept der relativen Armut. Hier teilt man die Haushaltsnettoeinkommen in zwei Hälften: eine reichere und eine ärmere. Den Mittelpunkt nennt man Median. 2011 lag er bei 1.643 Euro.

Die Armutsgefährdungsgrenze liegt bei 60 Prozent des Medians, im Moment bei 986 Euro. Jeder sechste Deutsche liegt darunter. Es gibt Risikogruppen: junge Erwachsene in Singlehaushalten, Alleinerziehende, Rentner, vor allem Rentnerinnen.

Eine andere Möglichkeit, Armut zu messen, ist das Konzept der „materiellen Deprivation“. Sind drei von neun Kriterien erfüllt, dann gilt ein Mensch oder eine Familie als arm.

Die Kriterien bilden eine Checkliste, die jeder für sich abhaken kann: Kann man die Miete oder die Rechnungen für Strom, Gas oder Heizung rechtzeitig bezahlen? Die Wohnung angemessen heizen? Unerwartete Ausgaben selbst bestreiten? Jeden zweiten Tag Fleisch, Fisch oder eine gleichwertige vegetarische Mahlzeit essen? Jährlich eine Woche Urlaub außerhalb der eigenen Wohnung machen?

Weitere Kriterien: Fehlen eines Autos. Einer Waschmaschine. Eines Telefons. Eines „Farbfernsehgeräts“.

Man verwendet dieses Konzept, um die Länder der EU miteinander zu vergleichen. 2009 war in Deutschland jeder Achte materiell depriviert, in Bulgarien und Rumänien war es beispielsweise jeder Zweite.

Doch wie gewichtet man diese Punkte: Ist es nicht viel schlimmer, in Finnland keine Heizung zu haben als in Griechenland? Das Konzept ist nicht besonders robust, sagt Markus Grabka. Er öffnet eine PowerPoint-Folie mit Zahlen aus dem Sozioökonomischen Panel. Wo beginnt Armut?, steht darauf.

Darunter stehen die vier Armutsschwellen nach dem Konzept der relativen Armut. An erster Stelle: Prekärer Wohlstand, 70 Prozent des Medians der Haushaltsnettoeinkommen in Deutschland, 2011 bedeutete das für einen Ein-Personen-Haushalt 1.150 Euro.

Es folgen: Armutsgefährdung bei 60 Prozent, 986 Euro; relative Einkommensarmut bei 50 Prozent, 822 Euro; und bei 40 Prozent, 657 Euro, schließlich: Armut.

Nur: Was bedeuten diese Zahlen in der Realität?

Wie schneiden die Menschen, die diese Zahlen betreffen, auf der Checkliste der materiellen Deprivation ab? Wer hat zwei Paar Schuhe und wer nicht? Wer kann abgetragene Kleidung durch neue ersetzen und wer nicht? Wer hat ein Handy? Wer kann einmal im Monat ins Kino gehen?

Prekärer Wohlstand

Berlin-Neukölln, eine ruhige Straße in Rixdorf, Michaela Donnoso, rund 1.000 Euro: Prekärer Wohlstand, armutsgefährdet in sozialen Risikosituationen.

Um die nackte Glühbirne, die in der Küche von der Decke hängt, ist Backpapier geschlagen. Dahinter baumelt ein Mobile aus gefalteten Vögeln. Michaela Donnoso, weißes T-Shirt, dunkles Haar, kocht Kaffee. Sie könnte eine Studentin sein, die gern feiert und gern reist, hübsch und unbeschwert, sie lacht immer wieder, ein tiefes, kehliges Lachen.

Lange hat sie darüber nachgedacht, ob sie über ihre finanzielle Lage sprechen will. Es ist ihr peinlich, weshalb sie auch nicht möchte, dass ihr richtiger Name hier erscheint. Sie sagt: „Manchmal fühlt man sich arm. Und manchmal nicht.“

Michaela Donnoso ist 35 und jobbt seit ihrem Abitur. Sie war Hostess, Küchenhilfe und Nanny. Gerade massiert sie im Casino, sie steht hinter Pokerspielern, die sich während langer Sitzungen entspannen sollen, und gräbt ihre Hände in fremde Schultern. Das Geld kommt unregelmäßig, in großen Mengen, die lange reichen müssten. Meistens sind sie schnell aufgebraucht. Dann sind da die Schulden. 2.000 Euro, im Moment.

Das Erste, was so richtig schiefgelaufen ist, waren die 1.000 Mark, die sie für eine Mitgliedschaft im Fitnessstudio zahlen musste. Sie hatte sich den Vertrag nicht richtig angeschaut. Ziemlich blöd gelaufen, sagt sie. Ein anderer Klassiker: die Bahncard nicht abbestellt.

„Bei mir war zum Glück noch nie ein Gerichtsvollzieher“, erzählt sie, „aber oft beinahe. Ich hatte schon eine Kontopfändung, Inkassobüros kenne ich noch und nöcher.“ Gerade stehen drei Beiträge der Krankenversicherung aus. Sie zahlt sie in 50-Euro-Schritten ab.

„Vor ein paar Jahren habe ich …“, sie stockt, „Oh Gott! Das sind so Sachen, die will man eigentlich gar nicht erzählen.“

Dann: „Irgendwann war ich in so einer blöden Lage, dass ich so viele Rechnungen abstottern musste, hier 10 Euro, da 20 Euro, insgesamt 200 bis 300 Euro pro Monat, die ich einfach nicht hatte. Und dann, dann bin ich zu so einer, ich glaube 2009 war das, so als letzte Maßnahme, zu so einer, wie heißt das?“ Sie stoppt. „Zu einer klinischen Studie als Testperson.“

Es ging um Psychopharmaka. Zwei Fliegen mit einer Klappe, dachte sie, sie hatte eh Tinnitus. Fünf Wochen, 37 Tage lang lief die Studie, stationär, sie bekam 3.000 Euro – auf die Stunden gerechnet nicht wahnsinnig viel.

Michaela Donnoso sagt, sie würde gern etwas Stabiles, Sicheres machen, etwas, bei dem das Gehalt stimmt, selbst wenn ihr die Arbeit keine absolute Erfüllung bringt. Doch aus dem Jobben kommt sie irgendwie nicht heraus. Gerade verpackt sie für „Juwelo TV“ Juwelen aus Thailand.

Wolke 7 in Berlin-Mitte, erotische Massagen, das hat sie auch überlegt. „Ich habe es nicht gemacht“, sagt sie. „Aber man kommt an diese Stellen, wenn es so richtig brennt.“

Sie hat sich ein paar Ausbildungen angeschaut, aber die meisten, die sie interessieren, sind privat und kosten. Vielleicht wäre medizinische Bademeisterin etwas für sie.

Die Lage ist eh wieder brenzlig, sie hat keine Zeit, sich groß Gedanken um die Zukunft zu machen. Ein Job ist geplatzt, das hat sie total rausgehauen. Und sie war in diesem Jahr schon drei- oder viermal krank, einmal richtig lange, eine ganze Woche. Krank sein: Das heißt immer gleich Verdienstausfall.

Armutsgefährdung

Eine Kleinstadt in Unterfranken. Kopfsteinpflaster, die Häuser stehen eng. Martina Glaser, 39, und ihre Tochter Nadine, 8, wohnen hier. 1.123 Euro. Alleinerziehend und armutsgefährdet.

Man liest immer wieder von diesen Frauen: Sie können nicht arbeiten, weil sie ihre Kinder betreuen müssen. Und obwohl das Problem bekannt ist, scheint es keine Lösung zu geben.

Martina Glaser hat in einer Fabrik gearbeitet und konnte sich alles kaufen, was sie wollte. Bis sie schwanger wurde und der Freund sie verließ, als das Baby neun Monate alt war. Dann kam Hartz IV.

Dann ihr Gebärmutterhalskrebs. Die Eltern sind gestorben. Sie hatte zwei Bandscheibenvorfälle. Ein Hagel an traurigen Ereignissen. Dass sie ihr ziemlich zugesetzt haben, zeige sie kaum, sagt sie. „Innerlich sieht es ganz anders aus.“ Weil sie den Schein wahren möchte, will sie nicht, dass ihr richtiger Name in der Zeitung steht.

Bei Martina und Nadine Glaser sind die Möbel aus Massivholz. Die Küche ist aufgeräumt. Eine Schale mit Trauben, „die haben wir uns mal geleistet“.

Schön hier. „Geht so“, sagt Martina Glaser. Sie sitzt auf einem der Massivholzstühle, hat die Schultern hochgezogen. „Ist alles uralt.“ Die Haare trägt sie zurückgebunden, im Gesicht viel Make-up.

Ihre Zahlen hat sie alle parat.

Hartz IV? 639 Euro.

Unterhalt? 300 Euro.

Kindergeld? 184 Euro.

Vom Amt würden ihr und ihrer Tochter nur eine Zweizimmerwohnung zustehen. „Aber das geht ja irgendwo nicht“, sagt sie. „Ich kann ja nicht auf dem Wohnzimmersofa schlafen. Ich habe es mit dem Rücken, daher brauche ich mein Bett.“

Also zahlt sie fast doppelt so viel Miete, wie ihr das Amt erstattet: 550 Euro. Damit bleiben ihr 573 Euro im Monat. „Aber die habe ich nicht“, sagt sie. „Ich habe Minus auf dem Konto. Wenn’s hochkommt, kann ich im Monat 150 Euro abheben. Für alles.“

Wahrscheinlich, sagt sie, wäre es schön, wenn sie wieder einen Mann hätte, mit dem sie ihre Sorgen teilen könnte. Aber die letzten Male, per Onlinedating, hat es nicht funktioniert. Sie sei kompliziert, und ihre Ansprüche seien hoch.

Und dann sind da noch die Träume. Nadine, ihre Tochter, will endlich ans Meer. „Das geht halt nicht“, sagt Martina Glaser. Dass Nadine angefangen hat zu reiten, 12 Euro pro Stunde, eine Stunde pro Woche, erzählt sie, als sei es ein Vergehen: „Ich weiß, ein teurer Spaß. Aber sie jammert mir schon seit zwei Jahren die Ohren voll. Ich habe gedacht, vielleicht gefällt es ihr ja nicht. Jetzt habe ich halt Pech.“

Reiterstiefel hat sie für vier Euro auf dem Flohmarkt gefunden, statt eines Reiterhelms trägt Nadine ihren Fahrradhelm.

Das Schlimmste, sagt Martina Glaser, ist, dass sie sich nichts Schönes mehr kaufen kann. „Ich denke mir dann: Nee, das Geld brauchst du fürs Essen. Ich rechne alles in Essen um.“

Relative Einkommensarmut

Dann sind da noch die Träume. Ihre Tochter will endlich ans Meer. „Das geht halt nicht“, sagt Martina Glaser

Berlin-Reinickendorf. Die Mieten sind hier günstig, weil die Flugzeuge, die nach Tegel wollen, über die Dächer donnern. Brigitte Milhaud, 73 Jahre, 770,26 Euro. Relative Einkommensarmut.

Auf dem Sofa lilafarbene Kissen mit Rosenreliefs, an der Wand ein Druck von van Gogh, „Le Café de nuit“, er reicht fast vom Boden bis zur Decke.

Brigitte Milhaud hat lila Strähnen im grauen Haar, sie trägt einen lila Pullover und am Ring einen lila Stein. Lange hat sie in den USA gelebt, war dort mehrmals verheiratet – geblieben ist sie bei keinem Mann.

Vor 16 Jahren kam Brigitte Milhaud wieder nach Deutschland. Und dort kam bald der Rentenbescheid: 285 Euro für zwanzig Jahre Arbeit in Deutschland, 289 Euro für zwanzig Jahre Arbeit in Amerika. Sie war Serviererin. Hat gern gelebt. Immer alles ausgegeben.

„Wollen Sie sehen?“

Sie holt die Abrechnung der Grundsicherung aus der Schublade. Sie hat nur den letzten. „Ich lasse immer alles schreddern, weil ich immer denke, ich schäme mich so, wenn ich sterbe und jemand findet hier das Scheißzeug.“ Darum will auch sie nicht, dass ihr richtiger Name veröffentlicht wird.

Brigitte Milhaud hat im Monat 360 Euro – nach der Miete. Sie spart am Essen, kauft Lebensmittel, wenn sie im Angebot sind, verarbeitet sie zu Soßen und Eintöpfen und friert sie hinterher ein. Tomaten. Rosenkohl. Currywurst, die gibt es ohne Sauce für 55 Cent beim Wurststand um die Ecke. In ihrer Küche steht eine Spardose, dort steckt sie immer ein paar Euro rein. Am Ende des Jahres kauft sie sich davon etwas Besonderes, manchmal Kleider, manchmal Käse aus Rohmilch oder gute Rouladen.

Kürzlich war ihre Tochter aus Amerika zu Besuch, das erste Mal seit sechs Jahren. „Die ist ja so schickimicki“, sagt Brigitte Milhaud. Ihre Tochter habe sie eingeladen, in teure Restaurants, 50 Euro für ein Abendessen zu zweit. Brigitte Milhaud hat es leidgetan ums Geld.

Zum Schluss haben sie sich gestritten. „Hätte ich das bloß nicht gesagt“, sagt Brigitte Milhaud. „Sie hat die Lampe angemacht, aber es war ja schon Tageslicht. Und dann habe ich gesagt: Tschuldigung, musst du die Lampe anmachen? Da ist sie ja fast irre geworden: ,Ich geb dir das Scheißgeld dafür!‘ “

Sie lehnt sich zurück.

Was ist Armut, Frau Milhaud?

„Nicht ins Kino, nicht ins Theater gehen, das ist Armut. Ich war in den 16 Jahren, seit ich zurück bin, kein einziges Mal im Kino.“

Was Brigitte Milhaud auch schlimm findet: Dass sie sich die Medikamente für ihre chronische Bronchitis, Codein-Tropfen zum Beispiel, oft nicht aus der Apotheke holen kann, weil ihr das Geld für die Zuzahlung fehlt. Sie sagt, sie hatte ein schönes Leben, aber es ging ihr noch nie so schlecht wie heute.

Epilog

Die Grenze für Armut liegt in Deutschland bei 657 Euro.

In diesem Text sollte auch ein Mensch auftauchen, der nach offizieller Definition arm ist. Ein Obdachloser, ein Flüchtling, jemand, der Anspruch auf Hartz IV hätte und ihn nicht nutzt. Irgendwann habe ich an eine Frau gedacht, die ich nie in einem Artikel über Armut vermutet hätte, schon gar nicht, dass diese Frau das ärmste Beispiel darin werden würde: meine Oma.

Sie bekommt 539 Euro im Monat, eine kleine Landwirtschafts- und Witwenrente. Trotzdem ist immer sie diejenige, die anderen Geld gibt. Meinem Vater, der eine eigene Firma hat. Ihren drei anderen Kindern. Schwiegerkindern. Allen zwölf Enkeln.

Meine Oma wohnt in dem Haus, das sie gebaut hat. Sie zahlt keine Miete. Sie hat einen Garten, der sie ernährt. Hühner, die so viele Eier legen, dass sie mir jedes Mal, wenn ich sie besuche, eine Schachtel mitgibt.

Meine Oma geht nicht in Cafés und nicht ins Kino. Sie kann nicht Auto fahren, nur Traktor. Sie spült Margarineschalen aus und bewahrt sie auf – als Brotzeitdosen. Sie strickt Strümpfe.

Sie ist deshalb nicht arm, weil sie sich nicht arm fühlt. Weil sie so lebt, wie sie es von früher kennt. Und von den gewaltigen Wohlstandsgewinnen profitiert, die es in Deutschland in den letzten fünfzig Jahren gab. Wenn man sich vorstellt, wie es meiner Oma während ihrer Jugend ging, geht es ihr heute vergleichsweise großartig. Sie kann sich in dem Leben, das sie kennt, alle Wünsche erfüllen, die sie hat.

Armut definiert sich auch immer über Teilhabe. Darum ist die relative Armutsdefinition so wichtig: Armut beginnt an dem Punkt, ab dem man an der Gesellschaft nicht mehr teilhaben kann.

Meine Oma würde wahrscheinlich auch mit 100 Euro im Monat zurechtkommen, weil sie für ihre Freizeit kaum Geld braucht. Weil die Freizeitaktivitäten im Dorf kostenlos sind: In die Kirche gehen. Mit der Katze spielen. Spazieren gehen. Die Nachbarn besuchen. Zusehen, wie der Maibaum aufgestellt wird. Eigentlich kann man dort, wo sie wohnt, nur beim Bäcker Geld ausgeben.

Teile der Mittelschicht – das lässt sich an den Zahlen des Sozioökonomischen Panels ablesen – sind ins Prekäre abgestürzt, aber nicht so viele, wie man vermuten könnte. Wenn alle Einkommen um 1.000 Euro angehoben werden würden, wäre nach dem Konzept der relativen Armut immer noch jeder sechste Deutsche armutsgefährdet – also genau so viele Menschen wie vorher. Das Armutskonzept bildet eben keine kollektiven Wohlstandsgewinne ab, sondern arbeitet mit Verhältnissen. Es sagt etwas über die Kluft zwischen Arm und Reich. Wird sie größer, gelten mehr Menschen als arm.

Fängt jemand gerade an zu arbeiten, fühlt er sich reich. Hört er auf zu arbeiten, fühlt er sich arm, weil er einen anderen Lebensstandard kennt.

Michaela Donnoso, die Masseurin, kann nicht sagen, ob sie arm oder reich ist, weil es bei ihr Ausschläge nach oben und unten gibt und es ihren Freunden ähnlich geht. Für Martina Glaser, die Alleinerziehende, und Brigitte Milhaud, die Rentnerin, ist die Situation vermutlich so unangenehm, weil sie plötzlich mit weniger auskommen mussten – und mit weniger als ihre Verwandten und Freunde.

Meine Oma ist trotz geringen Einkommens zufrieden, da sie jetzt wesentlich bequemer lebt als noch vor einigen Jahrzehnten. Und Jutta Oel fühlt sich besser als früher, weil sie so viel Geld hat wie nie zuvor.

„Ich bin ja eine sogenannte Aufsteigerin“, schreibt sie in einer E-Mail. „Nur manchmal kommt dieses Gefühl wieder. Ich setze dann ‚arm‘ mit ‚minderwertig‘ und ‚ausgeschlossen‘ gleich. Kein guter Moment, doch ich kann mich normalerweise schnell wieder erden. Es geht mir ja gut. Sogar beim nicht bezahlbaren und somit unersetzten Zahn habe ich Glück. Man sieht die Lücke nicht mal beim Lachen.“

Steffi Unsleber, 26, ist sonntaz-Redakteurin

André Wunstorf, 34, ist freier Fotograf in Berlin