Spiel des Lebens

KARRIEREN Vor 30 Jahren drohte Deutschland Massenarbeitslosigkeit. Heute droht der Fachkräftemangel. Die Jugend kann sich auf ein Leben in der Vollbeschäftigung freuen. Wie wächst man mit solchen Aussichten auf? Ein Vater betrachtet seine Kinder

■ Beschreibung: Wird im eigentlichen Sinne des Wortes fast nie erreicht. Auch bei guter Wirtschaftslage klaffen Angebot von Jobs und Nachfrage nach Arbeitsplätzen auseinander. Manche Leute wohnen dort, wo es zu wenig Jobs gibt, wollen aber nicht umziehen. In Boomregionen fehlen dann die geeigneten Bewerber. Auch in guten Zeiten gehen Betriebe pleite, und Tausende werden arbeitslos.

■ Beschönigung: Der Begriff Vollbeschäftigung ist ein Euphemismus. Davon geredet wird, wenn nur noch etwa zwei Prozent arbeitslos sind. In Deutschland wäre das etwa eine Million Menschen. Heute gibt es noch knapp drei Millionen Arbeitslose.

VON HANNES KOCH
(TEXT) UND MICHAEL SZYSZKA (ILLUSTRATION)

Über der Bühne hängt die Orgel, seit Jahren kaputt. Das grelle Licht dieses Augustmorgens fällt durch die hohen, bemalten Fenster. Es ist warm, fast muffig in der Aula des Röntgen-Gymnasiums in Remscheid-Lennep. 160 Schüler und Schülerinnen der zwölften Klasse hoffen auf die große Pause. Vorne hinter dem Stehpult auf der Bühne schwitzt unser Direktor. Immer wieder holt er sein Stofftaschentuch hervor und tupft seine Stirn ab. Die Rede scheint auch ihn anzustrengen. Er will uns damit auf unser Berufsleben vorbereiten.

Mit meinen 18 Jahren habe ich eigentlich schon klare Vorstellungen von meinem künftigen Job. Denn ich erlebe gerade den ersten richtigen Politisierungsschub. Im Dritte-Welt-Laden an der Kleinstadtkirche neben Wilhelm Conrad Röntgens Geburtshaus verkaufen wir regelmäßig Kaffee aus Nicaragua. Ich erfahre, dass Jutetaschen besser sind als Plastiktüten und Atomkraftwerke gefährlich. Um davon möglichst vielen zu erzählen und die Welt besser zu machen, will ich Lehrer werden. Die Schule macht Spaß, alles klappt prima, außer mit den Mädchen. Lehrer scheint ein guter Job für mich zu sein.

Graue Menschenschlangen vor dem Arbeitsamt

An diesem Vormittag des Jahres 1980 rät unser Direktor in seinem beige karierten Jackett allerdings: „Versucht bitte nicht, Lehrer zu werden. Es gibt viel zu viele Studenten, die das auch wollen. Die sind später alle arbeitslos.“ Dieses Zitat habe ich damals nicht mitgeschrieben. Es ist mir in Erinnerung geblieben. Auch vor vielen anderen Berufen warnt unser Direktor. Ich weiß nicht mehr genau, vor welchen. Aber ich bekomme in diesem Moment in der Aula den Eindruck, dass das alles ganz schön schwierig werden kann.

Die Aussichten sind überhaupt eher trübe. Es droht doch einiges: die große Depression, Umweltkatastrophen, ein Weltkrieg. Und dann: die sogenannte Massenarbeitslosigkeit. In der „Tagesschau“ zeigen sie graue Menschenschlangen vor Arbeitsämtern. Die sozialliberale Regierung unter Helmut Schmidt stürzt dann auch, weil sie es nicht schafft, die Arbeitslosigkeit zu senken. Hans-Dietrich Genscher wechselt mit seiner FDP die Seiten und verhilft 1982 Helmut Kohl zur Kanzlerschaft. Unerfreuliche Zeiten sind das, in vielerlei Hinsicht.

1975 suchen offiziell 1,1 Millionen Leute in Deutschland eine Arbeit. 1985 sind es schon 2,3 Millionen Erwerbslose – Nachkriegsrekord. Da liegt die Quote bei 9 Prozent. Der Wohlfahrtsstaat scheint am Ende zu sein, das Versprechen der sozialen Marktwirtschaft, des Wohlstands für alle, ausgedient zu haben. Ist die Leiter des sozialen Aufstiegs abgesägt? Es entsteht die Redensart von der „Zweidrittelgesellschaft“. Wenn Linke diesen Begriff verwenden, bedeutete das: Ein Drittel der Bevölkerung wird dazu verdammt sein, arm zu bleiben.

Heute, gut 30 Jahre später, hat mein 14 Jahre alter Sohn gerade seinen ersten Job klargemacht – einen Platz für das dreiwöchige Praktikum, das Schüler von Oberschulen in der neunten Klasse absolvieren müssen. Die kleine Firma, die Elektrofahrräder entwickelt und produziert, hat ihre Werkstatt in einem rötlichen Backsteingebäude eines alten Berliner Industriegebiets. Drinnen ist alles in hellen Farben gestrichen, auf den Werkbänken liegen saubere rote und blaue Werkzeuge, edel designte Broschüren werben für 2.000-Euro-Räder. Diese Firma sieht nicht aus wie eine Schlosserei, eher wie eine Zahnarztpraxis.

„Hier, probier das mal aus“, fordert der jugendliche Chef meinen Sohn auf. Er präsentiert ein fettes Mountainbike, das fast einem Motorrad ähnelt. Mein Sohn steigt auf, tritt leicht in die Pedale und zieht davon. Die Elektromotor beschleunigt das Rad zügig auf 40 Stundenkilometer. „Voll cool“, sagt er, als er zurückkommt. Das Praktikum ist gesichert, die Firma hat eine Arbeitskraft mehr. Die E-Bike-Branche boomt. Alle fünf Beschäftigen haben gut zu tun: Motoren anpassen, einbauen, Räder montieren, ausliefern. „Hier gibt es jede Menge zu schrauben“, verspricht der Chef.

Eine Woche später liegen die Praktikumsunterlagen zu Hause im Briefkasten. Für meinen Sohn ist es eine Einladung ins Berufsleben, eine Ahnung von Erfolg, von dem Gefühl, dass er gebraucht wird – ganz anders als der Start meines beruflichen Weges, der mit der Warnung meines Direktors begann.

Es scheint heute ein anderes Lebensgefühl zu sein – entspannter und zuversichtlicher. Wenn alles gut läuft, steuert die Gesellschaft, in der meine Kinder ihre ersten Jobs finden, auf die Vollbeschäftigung zu. Wie wächst eine Generation mit solchen Aussichten auf?

„Hast du den Eindruck, dass du dir später einmal den Beruf aussuchen kannst, den du möchtest?“, frage ich meinen Sohn. Seit der Bewerbung für das Praktikum unterhalten wir uns öfter über solche Themen. „Das hängt auch vom Glück ab“, antwortet er. „Ich will später nichts arbeiten, was mir keinen Spaß macht. Irgendetwas findet sich schon, das Spaß macht.“

„Mir sind fünf Prozent Inflation lieber als fünf Prozent Arbeitslosigkeit“

HELMUT SCHMIDT, 1979

„Wir werden die Arbeitslosigkeit und die Zahl der in Deutschland lebenden Ausländer halbieren“

HELMUT KOHL, 1982

„Vollbeschäftigung bleibt unser Ziel für eine menschliche Gesellschaft“

ANGELA MERKEL, 2011

Meine Tochter ist schon ein bisschen weiter. Sie ist siebzehn, hat das Praktikum hinter sich, außerdem mehrere Infoveranstaltungen zur Berufsorientierung an ihrer Schule. In zwei Jahren wird sie wohl Abitur machen. Auch sie ist erst mal optimistisch: „Wenn man Bock darauf hat, wenn man gut darin ist, kann man den Beruf machen, den man machen möchte.“

Im Frühjahr 2014 sind 3 Millionen Menschen in Deutschland arbeitslos. Klingt viel im Vergleich zu den 1980er Jahren. Im Verhältnis zur gestiegenen Zahl der Bevölkerung und der Arbeitskräfte liegt die Quote aber nur noch bei 6,6 Prozent. Tendenz: sinkend, nicht steigend wie vor 30 Jahren. Und so wird es weitergehen, sagen viele Ökonomen. Das hat mit der teilweise erfolgreichen Wirtschaftspolitik des vergangenen Jahrzehnts und der vergleichsweise guten Konjunktur zu tun, aber nicht nur.

Ich bin 1961 geboren. In ganz Deutschland kamen in jenem Jahr rund 1,3 Millionen Kinder zur Welt. In den Jahrgängen meiner Kinder, 1997 und 1999, waren es jeweils nur noch rund 800.000. Das Minus wird noch deutlicher, wenn man es ins Verhältnis setzt zur gestiegenen Bevölkerungszahl des wiedervereinten Deutschland. „Demografischer Wandel“ heißt dieses Phänomen in der Sprache der Politik. Der Anteil der Jungen an der Bevölkerung nimmt ab, der der Älteren steigt.

Was die Berufsaussichten meiner Kinder betrifft, stelle ich mir die Auswirkungen so vor: Wenn meine Jahrgangsgefährten und ich in etwa 15 Jahren allmählich in Rente gehen, werden meine Kinder gerade ihre ersten bezahlten Stellen antreten. Sie sind aber 500.000 weniger, als wir es waren. So hinterlassen wir jede Menge freie Arbeitsplätze. Unternehmen, Verwaltungen und Institutionen müssen sich dann um die viel zu wenigen Bewerber streiten. Goldene Zeiten für meine Kinder. Sie können sich ihren Arbeitsplatz aussuchen, eine Menge Geld verdienen. Das ist doch Fortschritt.

Es gibt Hinweise, dass ich gar nicht so falsch liege. Die Organisation for Economic Cooperation and Development, OECD, in der 34 westliche Industrieländer zusammengeschlossen sind, sieht schon „Vollbeschäftigung“ in Deutschland kommen. „Gute bis sehr gute Aussichten auf dem künftigen Arbeitsmarkt“, bescheinigt Robert Helmrich vom Bundesinstitut für Berufsausbildung in Bonn denen, die heute zur Schule gehen. Schon jetzt finden Altenheime kaum Pfleger und Krankenhäuser kaum Schwestern. Überall ist von „Fachkräftemangel“ die Rede. Die Bundesregierung hat vor einiger Zeit eine Internetseite eingerichtet mit der Adresse www.mangelberufe.de. Das sagt doch alles.

Oder nicht? Ich frage Sabine Klinger. Sie ist Wirtschaftswissenschaftlerin am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur in Nürnberg. Eine ihrer Aufgaben ist es, die zukünftige Entwicklung zu prognostizieren. „Ich stolpere über den Begriff Vollbeschäftigung“, sagt die Forscherin.

Einerseits, erklärt Klinger, werde das, was sie Erwerbspersonenpotenzial nennt, wohl von 44,3 Millionen Menschen 2010 auf rund 38 Millionen im Jahr 2025 sinken. Diese Zahl umfasst alle Erwerbstätigen, Erwerbslosen und die Personen der sogenannten stillen Reserve, die grundsätzlich arbeiten würden, es aber aus diversen Gründen nicht tun. Darunter sind auch Millionen Ausrangierte, die nach jahrelanger Arbeitslosigkeit kaum noch Chancen auf bezahlte Stellen haben, weil sie etwa nicht mehr ausreichend qualifiziert sind. Entscheidend, sagt Klinger: Unter dem Strich fehlten in gut zehn Jahren im Vergleich zu heute insgesamt 6,3 Millionen potenzielle Arbeitskräfte.

Andererseits ergänzt die Forscherin: „Wenn die Zahl der verfügbaren Arbeitskräfte zurückgeht, verschwindet nicht unbedingt die Arbeitslosigkeit.“ Ihre Botschaft ist weniger optimistisch, als ich gehofft hatte. Für das Jahr 2025 rechnet ihr Institut mit etwa 1,5 Millionen Erwerbslosen. Das ist die Hälfte der heutigen Zahl. Die Arbeitslosenquote läge dann immer noch zwischen 3 und 4 Prozent. Unter „Vollbeschäftigung“ versteht man dagegen eine noch niedrigere Erwerbslosigkeit von 2 bis 3 Prozent. „Es ist schwer vorstellbar, dass die Arbeitslosenquote so weit abnimmt“, sagt Klinger, „immerhin gibt es sehr große regionale Unterschiede, und ohne eine tragfähige Qualifikation wird die Arbeitssuche auch in Zukunft schwierig sein“.

Weitere Gründe: Unternehmen stellen sich auf den Mangel an Arbeitskräften ein und rationalisieren freie Stellen weg. Roboter werkeln in Fabrikhallen, Computer in Büros. In den kommenden 20 Jahren könnte in den USA jeder zweite Job wegen der Automatisierung gefährdet sein, haben Wissenschaftler aus Oxford errechnet. Außerdem werden mehr Frauen arbeiten als heute. Auch könnten mehr Zuwanderer nach Deutschland kommen. Und meine Generationsgefährten und ich müssen oder möchten vielleicht länger arbeiten als üblich. Warum soll ich mit 67 aufhören, Artikel zu schreiben? Die Rente wird eh nicht üppig ausfallen.

Was heißt das also für meine Kinder? Ihre Berufsaussichten sind tatsächlich viel besser, als meine es waren, auch wenn nicht jede Ausbildung zu Traumjob, Glück und Geld führt. Was soll ich ihnen bei dieser Ausgangslage raten?

Vor einiger Zeit kam meine Tochter mit einem erstaunlich klaren Plan aus der Schule. Dort hatte ein Seminar stattgefunden mit Beratern der Arbeitsagentur: Was sind eure Stärken, an welchen Tätigkeiten habt ihr Spaß, welche Berufe könnten damit zusammenhängen? „Ich könnte Produktdesign studieren“, erklärte sie und klang dabei entschlossen.

Natürlich habe ich mir schon Gedanken über meine Zukunft gemacht. Ich gehe ja in die 11. Klasse und mache bald Abitur. Danach möchte ich auf jeden Fall studieren. Am liebsten würde ich später forschen, ich sehe mich im Labor stehen und durch Mikroskope gucken. Deswegen will ich etwas in Richtung Biologie studieren. Ich kann mir aber auch vorstellen, in die Landwirtschaft zu gehen, wie mein Vater. Das hat ja auch mit Biologie zu tun. Meine Mutter sagt manchmal, dass sie das nicht so gerne will. Aber ich glaube, sie macht nur Spaß. Meine Eltern haben beide nicht studiert. Mein Vater ist in seiner Familie in die Landwirtschaft hereingewachsen, meine Mutter ist gelernte Friseurin. Das war damals in der DDR wohl ein guter Beruf. Heute arbeitet sie in der Chemiebranche. Da macht sie aber jeden Tag dasselbe, darauf hätte ich keine Lust. Meine Eltern unterstützen mich in meiner Entscheidung zu studieren. Ich soll aber auf jeden Fall etwas machen, womit man hinterher einen Job bekommt. Aber ich weiß ja auch nicht, wie der Arbeitsmarkt sein wird, wenn ich fertig bin mit dem Studium. Das weiß man ja vorher nie. Im Prinzip könnte ich alles machen, wo mir der Numerus clausus nicht im Weg steht. Es gibt viele Studienfächer, für die man heute extrem gute Noten braucht. Ärztin könnte ich wohl nicht werden. Aber ich will sowieso in Holland studieren, da gibt es keinen NC. Dort würde ich auch Bafög bekommen, in Deutschland nicht, weil meine Eltern zu viel verdienen. Außerdem gefallen mir die Menschen dort, die sind viel offener. Frieda Jäger, 17 Jahre, besucht die 11. Klasse eines Gymnasiums in Halle an der Saale Ruth Asan hat Jugendliche in Deutschland interviewt und ihre Zukunftspläne protokolliert.

Dass sie aus dem Stand eine so konkrete Berufsidee entwickelte, die ihr Interesse an Zeichnen, Malen, Formen und Gestaltung aufnimmt, freute mich. Aber ich erzählte ihr auch von meinen Zweifeln: Den wenigsten Designern gelingen bleibende Entwürfe. Die meisten grübeln über Polstermustern für Autositze, Kunststoffverkleidungen für Waschmaschinen oder machen schlicht Werbung. Will man das sein – ein kreativer Gehilfe für die Gewinne der Konzerne?

Das weiß meine Tochter auch nicht. Auf ihre Art ist sie ähnlich kritisch, wie ich es damals im Dritte-Welt-Laden war. Außerdem steht sie ganz am Anfang der großen Berufslotterie. Mittlerweile klingt sie etwas weniger sicher, wenn sie über ihre Zukunft redet: „Einen genauen Beruf weiß ich noch nicht. Aber es könnte etwas mit Design zu tun haben.“ Und dann seufzt sie manchmal und sagt: „Alles ganz schön schwierig.“

Eine Information, die sie aus der Berufsberatung in der Schule mitbrachte, war diese: In Deutschland gibt es derzeit rund 9.000 Studiengänge, mit denen man den Bachelor-Abschluss an der Universität erwerben kann. Dazu kommen etwa 350 Berufsausbildungen plus in Berlin mehrere hundert schulische Ausbildungen an den Oberstufenzentren oder beruflichen Fachschulen. Wer soll sich da zurechtfinden?

Meine Kinder sind nicht nur optimistisch – sie spüren auch eine große Offenheit, eine vielleicht etwas zu große. Alles ist möglich. Tausend Optionen, die es schwierig machen, eine davon auszuwählen. Die Idee, zu studieren, könnte auch deshalb attraktiv sein, weil dann noch ein paar Jahre mehr Zeit ist, bis man sich entscheiden muss, womit man sein Geld verdient.

Mein Sohn steht sowieso noch am Anfang seiner professionellen Orientierung. „Ich würde gerne irgendetwas entwickeln – Produkte, die man benutzen kann, die das Leben vereinfachen. Es gibt an Computern so viel zu verbessern.“ Oft unterhalten wir uns über Phänomene wie die Google-Brille und intelligente Kühlschränke, die sich merken, welche Lebensmittel ihre Besitzer kaufen, und sie selbstständig nachbestellen. Wir entwerfen lustige Science-Fiction-Welten, es ist ein spielerisches Ausprobieren von Gedanken und Möglichkeiten. Dabei belasse ich es einstweilen. Mein Sohn ist 14 Jahre alt. Viel Zeit. Er wird schon auf eine Idee kommen.

Jugendliche sind knapp, begehrt und teuer

Berufsberatung durch Eltern, Lehrer und andere Autoritäten hat sowieso begrenzte Wirkung. Das ist zumindest meine Erfahrung. Mit 19 Jahren schlug ich die Warnung meines Schuldirektors in den Wind und begann, Lehramt zu studieren. Früher hatte ich auch mal Flugzeugingenieur werden und bei der Bundeswehr in Hamburg studieren wollen. Damit wäre ich in die Fußstapfen meines Vaters getreten, der von 1933 bis 1945 Soldat der deutschen Armee war. Glücklicherweise traf ich gerade noch rechtzeitig die richtigen Freunde – Kriegsdienstverweigerer, Langhaarige, Neil-Young-Fans. Wir gingen demonstrieren, ich trat den Grünen bei. Später verschob sich das Berufsziel Weltverbesserung leicht. Ich legte zwar noch das Lehramtsexamen ab, wurde dann aber Journalist.

Dass ich als Erster meiner Familie studieren würde, war normal damals. Millionen armer Leute hatten während des Wirtschaftswunders ein Ziel: Aufstieg in die Mittelschicht durch harte Arbeit und Bildung. Meine Mutter hatte eine Ausbildung zur medizinischen Laborassistentin gemacht, mein Vater Abitur. Nach dem Krieg fing er beim Finanzamt an. Dass ich einen möglichst hohen Abschluss anstreben sollte, war für sie keine Frage.

Das war das Programm, das ich weiterverfolgte, als ich selbst längst Vater war. Einmal saßen wir mit Freunden auf der Terrasse, unsere Kinder waren gerade fünf und sieben. Eine Freundin sagte: „Ich will ihnen keinen Druck machen. Abitur muss nicht unbedingt sein.“ Die mittlere Reife reiche aus, überlegte sie, dann eine Lehre, die Lebenszufriedenheit gehe vor, ihre Kinder sollten nicht dem ständigen Leistungsstress ausgesetzt sein.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich mir nie existenzielle Sorgen machen muss. Wenn man ambitioniert ist, kann man heute immer etwas finden. In den Nachrichten hört man ja, dass sie besonders für Ausbildungsberufe immer Leute suchen. Da bin ich optimistisch. Bei meiner Mutter war das anders, sie hat Abitur in der DDR der Wendezeit gemacht. Sie hatte eine unsichere Zukunft vor sich und konnte nicht das studieren, was sie eigentlich wollte. Mein Vater war gerade aus Litauen gekommen und konnte gar nicht studieren, weil sie so früh ein Kind bekommen haben. Ich habe schon in der Grundschule angefangen, leistungsorientiert zu arbeiten. Das kam vom Leistungssport, Eiskunstlauf.Seit der Oberstufe beschäftige ich mich intensiv mit meiner Zukunft. Meine Mutter ist Berufsberaterin für Abiturienten, sie füttert mich mit Informationen. Dabei haben mich meine Eltern aber nie in eine bestimmte Richtung gedrängt. Sie haben sogar eher versucht, mich ein bisschen in meiner Leistungsfixiertheit zu bremsen. „Schalt mal nen Gang zurück“, hat mein Vater manchmal gesagt. Ich habe in den letzten Jahren an mehreren praxisnahen Workshops zur Berufsorientierung teilgenommen, die junge Frauen in technische Berufe locken sollen. Bei mir hat’s funktioniert: Ich will Mechatronik studieren. Danach will ich Entwicklungsingenieurin werden, in der Forschung oder der freien Wirtschaft. An dem Beruf reizt mich, dass man kreativ sein und viel reisen kann. Ob ich damit glücklich werde, steht aber trotzdem noch in den Sternen. Ich habe schon Angst, dass ich trotz der ganzen Infos, die ich eingeholt habe, irgendwann merke, dass ich dem Studium nicht gewachsen bin. Noch mehr Angst habe ich aber, dass ich bisher noch gar nicht entdeckt haben könnte, wofür ich wirklich brenne. Anonym [Name ist der Redaktion bekannt], 18 Jahre, hat gerade ihr Abitur an einem Gymnasium in Berlin gemacht

„Nein“, hielt ich dagegen, „mit Abitur und Studium ist die Wahrscheinlichkeit viel höher, dass die Kinder ein cooles Leben haben.“ Meine Frau schaute mich irritiert an. Ich ließ mich nicht davon abbringen: Je besser die Ausbildung, je höher der Abschluss, desto angenehmer das Leben.

So erzählte ich das auch meinen Kindern immer wieder. „Dann habt ihr mehr Wahlmöglichkeiten, könnt mehr gestalten, verdient mehr Geld.“ Diese Ansage finde ich noch immer richtig. Mittlerweile gestehe ich mir ein, dass sie auch von meiner 1970er-Jahre-Angst vor der hohen Arbeitslosigkeit gespeist wird. Denn damals paarte sich das Ideal vom Aufstieg durch Bildung mit dem Versuch, drohenden Abstieg mittels Bildung zu verhindern. So oder so: Meine Kinder richteten sich danach. Auch für sie ist klar, dass sie zur Uni gehen.

Während der vergangenen Jahre dachte ich immer, diese Einstellung sei gedeckt von ganz oben. Politiker und Bildungsexperten bemängelten doch dauernd, dass hierzulande zu wenige Abiturienten zur Uni gingen. Das Studium wird vernachlässigt! Deutschland braucht mehr Hochqualifizierte! Oder habe ich mich verhört? Denn neuerdings lese ich das Gegenteil: Es gebe zu viele Studenten, zu wenige Lehrlinge. Eric Schweitzer, Präsident der Handelskammern, sagt etwa: „Der Trend zur Akademisierung um jeden Preis muss gestoppt werden. Viele Eltern denken leider: Mein Kind ist nur dann ein gutes Kind, wenn es studiert.“

Ich auch? Natürlich nicht. Und doch beunruhigen mich solche Aussagen. Habe ich meine Kinder schlecht beraten?

Sabine Klinger vom Berufsforschungsinstitut in Nürnberg zählt tatsächlich einige aussichtsreiche akademische Berufe auf, mit denen man später gutes Geld verdienen kann. So haben Elektro- und Maschinenbauingenieure, Softwareentwickler, Unternehmensberater, Anwälte, Steuer- und Verwaltungsexperten sowie Ärzte später sehr gute Perspektiven. Ich bin erleichtert.

Klinger sagt aber auch: „Arbeitskräftemangel wird es vor allem im mittleren Segment geben.“ Teilweise heute und in einigen Jahren noch mehr gesucht würden Altenpfleger, Krankenschwestern, technische Facharbeiter, die Maschinen einrichten und warten, Meister für Sanitärtechnik, Dachdecker, die Solaranlagen montieren, sowie viele andere handwerkliche und gewerbliche Qualifikationen. Vielleicht ist Design für meine Tochter also gar nicht so schlecht, das ist ja fast Handwerk.

Wo nichts ist, werden wir sein

Meine Eltern wollen beide, dass ihre Kinder erfolgreich sind. Mein Vater ist Ende der 1970er mit seiner Familie nach Deutschland gekommen. Danach hat er meine Mutter in der Türkei geheiratet und sie nach Deutschland geholt. Ich weiß gar nicht, ob sie Schulabschlüsse haben. Mein Vater arbeitet auf dem Bau, meine Mutter ist nach der fünften Klasse von der Schule abgegangen. Meine älteren Brüder studieren schon beide. Ich wollte eigentlich Elektriker werden, aber meine Mutter meinte, ich soll lieber was anderes machen. Sie hat mich dann auf ein Praktikum bei einer Anwaltskanzlei gebracht. Seitdem steht für mich fest, dass ich Verkehrsanwalt werden will.Dafür muss ich nach dem Mittleren Schulabschluss noch ans Gymnasium. Mit meinem Notendurchschnitt von 1,8 schaffe ich das bestimmt. Das sah aber nicht immer so aus. Ich war vorher an einer Schule, an der ich die Lehrer nicht mochte und sie mich auch nicht. Da hatte ich gar keine Lust aufs Lernen. An meiner jetzigen Schule fühle ich mich sehr wohl. Ich habe freiwillig eine Klasse wiederholt, der Unterricht macht mir hier sogar Spaß. Im Beruf will ich vor allem Erfolg haben und Spaß. Mein Kühlschrank soll immer voll sein. Und ich will in Deutschland bleiben. Es muss nicht unbedingt Berlin sein, aber hier bin ich aufgewachsen.Emre Çam, 16 Jahre, besucht die 9. Klasse einer Integrierten Sekundarschule in Berlin

Deutschland, die Exportwirtschaft, die zusehen muss, dass sie besonders gute Produkte anbietet. So ist das doch auch. Braucht man dafür nicht geniale Ingenieure und Wissenschaftler, immer innovativer als die Konkurrenz? Das neue Lob der Lehre und des Handwerks kommt mir da eher seltsam vor. Findet das nur ein Industriechef oder sagen das auch Menschen, die Jugendliche wie meine Tochter beraten?

An einem Nachmittag treffe ich Wiegand Schulze. Er ist Lehrer an der Sophie-Scholl-Sekundarschule im Berliner Bezirk Schöneberg, an der Schule meiner Tochter. Schulze berät die Schüler bei der Berufsorientierung. Er trägt schwarze Jeans, kariertes Jackett, graubraunen Schal und weißes Pony.

Schulze ist besorgt: Er bekommt ständig Anfragen von Betrieben, die Lehrlinge suchen. Gerade heute wieder – er holt den Brief aus seiner Tasche. Eine Berliner Fensterbaufirma braucht dringend Metallbauer und Tischler. Der Chef stellt die Festanstellung nach der Ausbildung in Aussicht.

„Doch von den fast 200 Schülern des 10. Jahrgangs unserer Schule interessieren sich nur 2 für eine Berufsausbildung“. Schulze wird jetzt fast empört: „2 von 200, das ist 1 Prozent.“ Der Lehrer sieht einen „falschen Drang zum höheren Abschluss.“ Falsch deshalb, weil sich viele Schüler mit dieser Entscheidung leistungsmäßig überfordern und scheitern. „Sie wären in einer Berufsausbildung besser aufgehoben“, sagt Schulze, „Abitur und Studium sind überbewertet. Gute Berufsausbildungen bringen auch gute Jobs.“ Deutschland sei eben nicht nur eine Exportwirtschaft für Maschinen, Fahrzeuge und Kraftwerke, die besonders viele Entwickler, Designer und Organisationsgenies brauche. „Unsere einheimische Wirtschaft halten Friseurinnen, Kellner, Verkäufer, Schlosser, Zahnarzthelferinnen und Müllmänner am Laufen.“

Nur mal hypothetisch – wie wäre es, wenn meine Kinder Handwerker würden? Bei diesem Gedanken fällt mir auf, dass ich den Aufstiegsehrgeiz meiner Eltern doch nicht mehr so weitergebe, wie ich ihn inhaliert habe. Ich denke nicht, dass meine Kinder unbedingt eine höhere Bildung und eine bessere Arbeit brauchen, als ich sie habe. Wenn sie das Niveau halten, bin ich schon zufrieden. Interessante Veränderung. Lässt nun der Druck der 1970er nach? Weil ich meine soziale Position und die meiner Kinder weniger bedroht sehe, als meine Eltern es taten?

Außerdem hätte ich nichts dagegen, wenn sie sich mit dem Abitur begnügten und dann eine Ausbildung absolvierten. Um Status geht es mir nicht. Wichtig finde ich, dass sie sich bemühen, ihre Fähigkeiten auszunutzen und nicht unter ihren Möglichkeiten zu bleiben. Wie käme ihnen das selbst vor, eine Berufsausbildung zu machen?

Ich war schon auf einer Reihe verschiedener Schulen. Nach der Grundschule kam erst die Hauptschule, dann konnte ich auf eine Realschule wechseln. Von der bin ich dann in der 8. Klasse geflogen. Auf der nächsten Schule hat es mir leider gar nicht gefallen. Gegen den Willen meiner Eltern bin ich dann auf eine Mittelschule gegangen. Sie wollten mich lieber auf eine Realschule schicken, aber ich kann auch hier einen Realschulabschluss machen. Danach will ich Abi oder Fachabi dranhängen und Psychologie studieren. Ich rede gerne mit anderen Menschen, auch und vor allem über ihre Probleme. Meine Freunde haben mir deshalb schon öfter gesagt, dass ich Psychologe werden sollte.Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass besonders Jugendberater überhaupt keine Ahnung haben, wovon sie reden. Das will ich besser machen. Einen Plan B habe ich bisher nicht. Ich bin zwar kein wirklich guter Schüler, aber ich bin einfach nur zu faul. Wenn ich mich einfach mal hinhocken würde, ist es schon realistisch, dass ich das Ganze mit der Psychologie so durchziehen kann. Jedenfalls realistischer, als Musiker zu werden, was mir auch Spaß machen würde. Meine Eltern haben beide mit Musik zu tun: Meine Mutter unterrichtet Querflöte und Klavier und mein Vater arbeitet für einen Showtechnik-Anbieter. Das war auch das Einzige, wo sie mich je unter Druck gesetzt haben: Ich sollte auf jeden Fall Instrumente lernen und ständig üben.Aaron Fleck, 15 Jahre, geht in die 9. Klasse einer Mittelschule im unterfränkischen Veitshöchheim

Offensichtlich habe ich mit meiner Indoktrination ganze Arbeit geleistet. Beide haben die intuitive Vorstellung, dass ihr Lernprozess erst abgeschlossen sei, wenn sie einen Uni-Abschluss besitzen. „Vorher ist man nicht komplett fertig, man weiß noch nicht alles über sein Fach“, meint mein Sohn. Andererseits haben beide Angst, später nur Theorie zu treiben. Sie wollen auch mit den Händen arbeiten. Praktische Arbeit betrachten sie als möglichen Teil einer guten Tätigkeit.

Ich konnte mir nie etwas anderes vorstellen als einen akademischen Schreibtischberuf. Für meine Kinder ist es anders: Ihnen erscheint das Studium wohl als eine Station auf dem Weg zu einem Ziel, das sie irgendwann erst noch genauer definieren müssen. Ich neige dazu, das als Zugewinn an Selbstbestimmung zu betrachten.

Was wird das für eine Gesellschaft sein, in der meine Kinder später arbeiten werden? Und noch eine Generation weiter gedacht: Welches Lebensgefühl geben sie vielleicht einmal ihren Kindern mit?

Der demografische Wandel und ein Arbeitsmarkt nahe an der Vollbeschäftigung könnten zu einer sozialeren Marktwirtschaft führen – weniger Konkurrenz zwischen Beschäftigten, mehr Sicherheit. Schließlich müssen die Unternehmen mehr Rücksicht auf ihre Mitarbeiter nehmen, weil diese knapp, begehrt und teuer sind.

„Träum weiter“, denke ich dann sofort. Die nächste Wirtschaftskrise kommt bestimmt. Die Globalisierung geht auch weiter. Oder der Wert des Euro steigt so stark, dass deutsche Unternehmen weniger Waren auf dem Weltmarkt verkaufen. Dann haben wir auch gleich wieder höhere Arbeitslosigkeit.

Aber ich komme auch aus einer anderen Zeit.

Hannes Koch, 52, ist sonntaz-Autor und freier Wirtschaftskorrespondent. Manchmal wünscht er sich, dass er Maurer, Musiker oder Volkswirtschaftsprofessor wäre