Die Verwandlung

JUGENDKULTUR Wer heute als Teenager richtig provozieren will, wird nicht Punk oder Skin, sondern Salafist. Wie zwei junge Islamisten vom Märtyrertod träumen. Der eine vor dem Rechner, der andere vor Gericht

Männer sollen für den „Islamischen Staat“ mindestens kämpfen, bis zu 50.000 könnten es sein. Quellen: CIA, Hisham al-Hashimi, Militärexperte im Irak

Dollar im Monat zahlt der IS einem Kämpfer aus Indonesien. Hinzu kommen 50 Dollar für seine Frau und 25 Dollar für jedes Kind Quellen: UN, Institute for Policy Analysis of Conflict

Jahre alt waren die jüngsten Islamisten, die Deutschland Richtung Syrien verlassen haben. Der älteste war 64 Jahre alt Quellen: Verfassungsschutz und Polizei

Aufrufe hat das beliebteste Video auf dem YouTube-Kanal des Salafisten Pierre Vogel Quelle: YouTube

Prozent von 378 für eine Analyse überprüften Islamisten, die Deutschland Richtung Syrien verlassen haben, sind in Deutschland geboren Quelle: Analyse des Verfassungsschutzes

Prozesse gegen Kämpfer und Unterstützerinnen von Milizen in Syrien gibt es derzeit an deutschen Gerichten. Drei weitere stehen unmittelbar bevor Quelle: Generalbundesanwalt

VON SABINE AM ORDE
UND SEBASTIAN KEMPKENS

Das Wort „konvertieren“ hat Gabriel Lehner von einem Fußballkommentator bei einem Spiel des FC Bayern München gelernt. Lehner hatte sich schon länger gewundert, dass Franck Ribéry, der schmale Franzose mit dem buschigen Ziegenbart, vor jedem Anpfiff seine Arme vor die Brust hebt und mit den Handflächen nach oben betet. Ribéry sei Muslim, sagte der Kommentator. Konvertit.

Man kann also die Religion wechseln, vom Christentum zum Islam, verstand Gabriel Lehner damals vor dem Fernseher. Heute, kaum zwei Jahre später, ist er 16 Jahre alt und selbst Muslim. Es hat sich schon gelohnt, sagt er. „Wenn man betet, bekommt man ja die Belohnung erst nach dem Tod, oder?“ Aber Allah zahle vielleicht einen Vorschuss. „Oder?“

Da ist zum Beispiel die Sache mit seinen Eltern. Die streiten immer noch häufig, aber seltener als früher. Die Noten sind besser geworden. Und er fühlt sich anders, sicherer, vor allem, wenn er im Koran liest. Das könnte Allahs Vorschuss sein.

Gabriel Lehner wohnt in Österreich, nahe der Grenze zur Schweiz. Es gibt einen Gebirgsfluss und die Berge sind mit Nebel verhangen. In der Mitte des Ortes liegt Lehners Schule, daneben das Hotel, in dem er bald eine Ausbildung zum Koch anfangen soll.

Lehner tippt auf seinem Handy herum, ein Fuß an der Hauswand. Sein Gesicht ist rund, der Blick skeptisch. Wenn er nicht weiß, was er sagen soll, knackst er mit den Fingern. Er würde sich gern einen Bart wachsen lassen, wie alle guten Muslime. Doch da wächst noch nicht mal ein Flaum.

Gabriel Lehner ist bereit, von seinem Lebenswandel zu erzählen, unter Bedingungen. Seine Eltern dürfen nichts erfahren. Er will anonym bleiben. Deshalb ist sein Name geändert. Auch seine Freunde haben andere Namen.

Seine Welt hat sich im vergangenen Jahr radikal verändert. Es ging so schnell, dass sogar er erschrak, als kürzlich zwei Männer vom Verfassungsschutz zu Hause vor der Tür standen. Obwohl er es hätte ahnen können, sagt er. Weil er Ungläubigen den Tod gewünscht hat. Weil er einer der Jungen ist, vor denen Politiker, Polizei und Geheimdienste warnen. Junge Männer, die eben noch Bayern-Spiele im Fernsehen sahen und jetzt Propaganda-Videos der Terrormiliz „Islamischer Staat“. Die eben noch von der Meisterschaft träumten und jetzt vom Sieg des Kalifats.

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Manchmal enden solche Geschichten in einem holzvertäfelten Gerichtssaal wie dem in Frankfurt am Main.

„Wollten Sie auch als Märtyrer sterben?“, fragt der Richter. Ruhig schaut er den pummeligen jungen Mann mit dem Vollbart an, der auf der Anklagebank sitzt. Zur grauen Jogginghose trägt der ein weinrotes T-Shirt, seine Schultern hängen, dem Blick des Richters weicht er aus.

„Ich wünsche es mir immer noch“, antwortet er.

Sein Anwalt blickt auf: „Ich möchte Sie bitten, diese Frage zurückzustellen.“ Hinter der Panzerglasscheibe, die im Saal II des Oberlandesgerichts die Zuschauer von Richtern, Verteidigern und Angeklagtem trennt, wird getuschelt.

„Sie würden also gern als Märtyrer sterben?“, fragt der Richter etwas später nach.

„Das ist mein Wunsch, aber ich werde es nicht schaffen. Es ist eine ehrenvolle Sache.“ Der Anwalt beantragt eine Pause.

Es ist Ende Oktober, der vierte Verhandlungstag im ersten Prozess gegen einen IS-Kämpfer in Deutschland. Kreshnik B. soll sich im Juli 2013 der Terrorgruppe „Islamischer Staat im Irak und Großsyrien“ angeschlossen haben, die sich jetzt „Islamischer Staat“, kurz IS, nennt. Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung und Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat, lautet die Anklage. B. habe sich aus religiösen Gründen mit der Ideologie des IS identifiziert, das syrische System stürzen und einen islamischen Gottesstaat schaffen wollen. Er sei bereit gewesen, für diese Ziele zu sterben.

Am Freitag hielten Bundesanwaltschaft und Verteidiger ihre Plädoyers. Weil B. gestanden und ausgesagt hat, forderte der Staatsanwalt nur vier Jahre und drei Monate Haft. Mit seinen Wertvorstellungen aber sei B. noch nicht wieder in Deutschland angekommen. In einer Woche fällt das Urteil.

Kreshnik B. ist 20 Jahre alt. Wie Gabriel Lehner saß auch er mal in seinem Jugendzimmer und wartete, dass ihm ein Bart wächst. Die Eltern Kosovo-Flüchtlinge, muslimisch, aber nicht sehr religiös. Kreshnik B. machte den Realschulabschluss, spielte Fußball in der B-Jugend von Makkabi Frankfurt, dem jüdischen Sportklub. Ein freundlicher, unauffälliger Typ, erinnert sich ein früherer Mitspieler.

Mit 16 fing er an zu beten, fünfmal am Tag. Als er die Schule wechselte, lernte er eine Clique von Jungs kennen, die viel über den Krieg in Syrien sprachen. Er sei fassungslos gewesen, wie brutal die syrische Regierung gegen die eigenen Leute vorgehe, heißt es in einer Erklärung, die sein Anwalt im Prozess verliest. Die Jungen spielten mit dem Gedanken, selbst in den Dschihad zu ziehen.

Der Verfassungsschutz weiß von mehr als 550 Menschen, die seit 2012 aus Deutschland in den Krieg in Syrien oder in den Irak gegangen sind. 180 sollen zurückgekehrt sein, 30 von ihnen haben selbst gekämpft. 60 Deutsche wurden getötet, mindestens neun sollen sich als Selbstmordattentäter gesprengt haben.

Unter den Ausgereisten sind viele junge Männer mit Migrationshintergrund, gescheiterter Bildungskarriere und deutschem Pass, aber auch 14 Prozent Konvertiten, 11 Prozent Frauen.

„Es sind unsere Söhne und Töchter“, hat Innenminister Thomas de Maizière vor Kurzem in einem Interview gesagt. Sie seien in unsere Schulen gegangen, in unsere Moscheen. „Wir tragen für deren Radikalisierung Verantwortung.“ Warum Jugendliche aus Frankfurt oder Bonn von der archaischen Gewalt des IS derart fasziniert sind, darauf hat auch er keine Antwort.

Wie kann eine Gesellschaft darauf regieren? Mit strengeren Antiterrorgesetzen?

Bislang sind es vor allem Geheimdienste, Polizei und Justiz, die sich in Deutschland um IS-Sympathisanten kümmern. Im Fall von Kreshnik B. wird die Frage juristisch beantwortet.

Es geht auch um das Bild, das man sich von diesen Menschen macht: Sind es hassgetriebene Kampfmaschinen? Oder Suchende? Junge Männer, die in etwas hineingeraten sind? Und: Gibt es etwas dazwischen?

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Es sind kalte Tage im Oktober und November in Österreich. Die Dunkelheit bricht früh herein. Gabriel Lehner will in kein Café oder Gasthaus, um sich in Ruhe zu unterhalten. Stundenlang läuft er über abgeschiedene Wege voller Laub, am Fluss entlang, den Berg hinauf. Manchmal so schnell, dass er stolpert.

Er hat eine Verwandlung durchgemacht, gemeinsam mit seinen besten Freunden Mahmud und Arian.

Früher, erzählt Lehner, war er „so einer, der die ganze Zeit Scheiße baut und sich schlägert“. Zu fünft wohnt seine Familie in einer Dreizimmerwohnung, die Eltern schlafen im Wohnzimmer. Lehner klaute mit Freunden Motorroller und schmiss sie in den Fluss. Er warf mit Steinen Autoscheiben ein. Dann fasste die Polizei einen von ihnen. Lehner und seine Freunde beschlossen, vorsichtiger zu werden.

In den Sommerferien vor einem Jahr fingen Mahmud und Arian an, im Koran zu lesen wie ihre Eltern. Sie saßen am Skaterplatz in der Nähe des Sees und die beiden erzählten von der Klugheit dieses 1.400 Jahre alten Buchs. Von Versen, Suren, die Dinge in der Natur erklärten, die erst viel später bewiesen wurden. Lehner überprüfte die Storys im Internet. Er fand keine Widersprüche.

Nach den Ferien schenkten Mahmud und Arian ihm einen Koran. Im Oktober fragten sie, ob er nicht auch Muslim werden wolle. Wenig später stand er in einer Moschee im Nachbarort und sprach das Glaubensbekenntnis. „Ich bezeuge: Es gibt keinen Gott außer Allah und ich bezeuge, dass Mohammed der Gesandte Allahs ist.“ So fing es an.

Lehner betete mindestens dreimal am Tag, auf seiner grauen Jacke in seinem Zimmer. Seine Eltern, beide Christen, sollten nichts mitbekommen. Die Mutter fragte immer mal wieder, was los sei, aber er blockte ab.

Er lud sich Muslim Pro herunter, eine App, die ihn ans Gebet erinnert, hörte auf, Musik zu hören, und traf fast nur noch Freunde, mit denen er über den Islam sprechen konnte. Im Fastenmonat Ramadan ging er ohne Frühstück aus dem Haus.

Heute, im Dunkeln auf einer Bank im Wald, spricht Lehner mit großem Ernst über die Zeit, aber auch aufgeregt wie jemand, der frisch verliebt ist. Alhamdulillah, Dank sei Allah. Er sagt die islamischen Floskeln Silbe für Silbe.

Auf YouTube schaute er nach seiner Konversion Videos von Pierre Vogel, dem Star der deutschen Salafisten-Szene. Er las Ratschläge für gutes muslimisches Leben. Auch zu Fragen wie Zähneputzen, Kleidung, Sex. Bald glaubte er, Vogel zu kennen, ohne ihm je begegnet zu sein.

Auf ask.fm, einem sozialen Netzwerk, tauschte Lehner sich mit anderen Muslimen aus. Darf ich eine Freundin haben, die Christin ist? Die Fragen veränderten sich, als die Terrorgruppe IS in Syrien eine Stadt nach der anderen übernahm. Ist es verboten, mit Kuffar, den Ungläubigen, zu sprechen? Was hältst du vom IS?

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„Ich bin dahin gegangen, um meine Geschwister zu unterstützen“, sagt Kreshnik B. im Saal II des Frankfurter Oberlandesgerichts. Er meint nicht seine Schwestern, die wie an jedem Prozesstag in der vordersten Reihe des Zuschauerraums sitzen. Sondern die Muslime in Syrien.

„Haben Sie das auch in der Familie besprochen?“, fragt der Richter.

„Ab und zu“, antwortet B.

„Haben die Ihre Pläne ernst genommen?“

„Nein.“

„Aber Sie haben es ernst gemeint?“

„Ja.“

Auch Kreshnik B. kennt Prediger wie Pierre Vogel. Was alle gemeinsam haben, die aus Deutschland für den IS in den Krieg ziehen: Kontakte zur salafistischen Szene.

Salafisten behaupten, sie verstünden den Islam wie die Salaf, die Gefährten des Propheten Mohammed im 7. Jahrhundert. Nicht alle wollen ihre Vorstellungen mit Gewalt durchsetzen, aber keiner akzeptiert abweichende Deutungen des Koran. Die Unterteilung in Gut und Böse ist strikt. Salafist zu werden ist die maximale Provokation: eine radikale Jugendkultur.

Am 2. Juli 2013 stieg Kreshnik B. mit sechs anderen in einen Bus nach Istanbul. Dort wurden sie abgeholt und an die syrische Grenze gebracht. Die Männer rannten über die Grenze, dahinter wartete ein Auto, das sie in ein Militärcamp brachte.

In Syrien leistete B. den Treueeid auf den IS. Er lernte im Crashkurs, mit Pistolen und Sturmgewehren umzugehen, bekam Kleidung, Verpflegung, Taschengeld und eine Kalaschnikow. Bisher kannte er diese Welt nur aus Videos.

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Im Internet fand Gabriel Lehner schnell Prediger, die den Krieg gegen Ungläubige rechtfertigten. Als Anfang 2014 draußen Frost auf den Wiesen lag, grub er sich tiefer ein, schaute Onlineclips. Wenn ein Kalifat ausgerufen werde, müsse jeder Muslim sich anschließen, hörte er. Jede Sure schlug er nach. Alles stimmte. Wenn es also einen Dschihad, einen Krieg für Allah gibt – muss man ihn nicht unterstützen?

Immer Freitags geht er in die Moschee, meist mit Mahmud und Arian. Mit der S-Bahn fahren sie zehn Minuten in den nächsten Ort. An Wochenenden sitzen türkische, arabische und tschetschenische Männer auf der Terrasse vor dem Haus und trinken Tee, Kinder laufen herum.

Die Gemeinde bietet Nachhilfestunden in Mathematik oder Deutsch an, im Aufenthaltsraum schauen Männer Fußball.

Ein Sprecher der Moschee steht oben im Gebetsraum, niedrige Decke, schwere Teppiche. Wie die Gemeinde mit IS-Unterstützern umgehe? Der Mann verschränkt die Armee: „Nein, nein, so was haben wir hier nicht. Radikaler Islam ist gut, aber nicht so.“ Und wenn es doch welche gibt? „Was sollen wir tun? Zum Freitagsgebet kommen mehr als 100 Leute, wir können nicht alle fragen, was sie denken.“

Hasspredigten, sagen Experten, seien kaum das Problem. Das Problem sei, dass die meisten Moscheen die jungen Leute gar nicht mehr ansprechen.

Wenn Gabriel Lehner im Gebetsraum sitzt, wo mal Arabisch, mal Türkisch, mal Tschetschenisch gesprochen wird, versteht er fast nichts, nur das Allahu akbar nuschelt er immer mit. Die Menschen in den Chats und Videos sprechen eher seine Sprache. Eine Sprache der Bilder.

Im Sommer dieses Jahres stieß er auf „Flames of War“, ein einstündiges Video aus Syrien. Lehner sah die Männer des IS durch Schützengräben rennen, zum Anfassen nahe. Er hörte den Atem des Kameramanns und sah IS-Kämpfer, die nachts ein Regiment der syrischen Armee überrennen, Verwundeten in den Kopf schießen und Allahu akbar rufen, Gott ist groß. Von Kugeln getroffene Dschihadisten krümmen sich auf dem Schlachtfeld. Sie schreien vor Schmerz. Doch eine Stimme aus dem Off sagt, dass sie für Allah sterben und ihre Seele ins Paradies kommt.

Lehner war fasziniert von der Stärke des IS. Männer, die bereit waren, für Allah zu sterben.

Die Internetstrategie des IS ist professionell. Die Propagandavideos sind aufwendig produziert. Etwa 12.000 Twitter-Accounts sind laut US-Terrorexperten mit dem IS verbunden.

Am Abend sitzt Gabriel Lehner auf einer Bank, den Rücken zum Fluss, und schwärmt vom Islam. Wenn sich jemand nähert, wird er nervös. Ein Mann schiebt sein Fahrrad vorbei, Lehner hält inne, „ja, guten Abend auch“. Erst als der Mann um die Ecke biegt, sagt er: „Ich habe die Wahrheit erkannt, wirklich tief drin in mir, so was hatte ich noch nie.“

Es macht ihn stolz, als IS-Anhänger dazuzugehören, sagt er. „Ich fühle mich gut, wenn ich die Kämpfer sehe. Fast schon wie was Besseres.“

Mit Mahmud und Arian feierte er bald jedes Ölfeld, das die Krieger einnahmen.

Lehner schuf sich einen neuen Avatar, ein zweites Ich auf ask.fm: Muslim an-Nimsawi. An-Nimsawi, der Österreicher. Am Computer schnitt er das Logo des IS aus und legte es auf einen brüllenden Löwen, weil die Kämpfer sich oft als Löwen bezeichnen.

„Das geht an die PKK, alevitische Kurden und an die Jesiden!“, schrieb er: „Keep calm and kill kuffar“ – Ruhe bewahren und Ungläubige töten. Lehner fühlte sich herausgefordert von Nutzern mit „Anti-IS“-Profilen und bombardierte sie mit Nachrichten: „Jaa ich liebe diese Löwen für ALLAH. Schau mal sie sind soo erfolgreich und werden bekämpft von der ganzen Welt.“

Vor allem genoss er es, jungen, radikalen Muslimen aus Wien oder Hamburg schreiben zu können, als würde er sie schon lange kennen.

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„Niemals wird dich jemand mehr lieben als deine Familie, auch deine Brüder da nicht.“ Klar schallt die Frauenstimme aus dem schwarzen Lautsprecher in der Ecke des Frankfurter Gerichtssaales. Kreshnik B.s Schwester Aferdita schreit fast ins Telefon.

„Wenn ihr mich liebt, kommt ihr nach Syrien“, antwortet Kreshnik B. Er klingt weit weg, der Ton ist verzerrt, es rauscht.

„Du hast versprochen, uns zu besuchen.“

„Ich würde kommen, aber es ist zu riskant.“

„Du Lügner, du hast versprochen zu kommen. Willst du deine Mutter nicht mehr lebend erleben? Sie hat dich geboren.“ B. stammelt, nuschelt. Dann sagt er: „Ich will gar nicht mehr nach Deutschland.“ Kurz darauf stoppt der Richter die Aufnahme.

Als die Familie begriff, dass Kreshnik Ernst gemacht hatte, schaltete sie die Sicherheitsbehörden ein. Lieber sollte ihr Nik ins Gefängnis, als in Syrien zu sterben. Aferdita, B.s große Schwester, die anders als ihre Eltern perfekt deutsch spricht, redete mit der Polizei. Die Beamten hörten Telefone ab, überwachten Mails und Skype-Chats.

Aferdita B. ist 22 Jahre alt, stämmig, das Gesicht ungeschminkt, die Haare zum Pferdeschwanz gerafft. Sie studiert Architektur, noch lebt sie bei den Eltern in Frankfurt-Rödelheim. Schaut Kreshnik B. zur Familie herüber, lächelt sie.

Sie hat den Kontakt mit ihm gehalten, ihn gedrängt, wieder anzurufen. „Geh nicht mehr in den Krieg, Nik“, hat sie immer wieder ins Telefon gerufen, als er von Scharfschützenausbildung oder Selbstmordattentätern schwärmte. Er sei jetzt 19, mit 25 werde er alles bereuen. „Ihr seid dumme Kinder!“

Mit 20 anderen Ausländern hatte man B. zunächst in die syrische Stadt Hama gebracht. Später, in Aleppo, wurde er für Wach- und Sanitätsdienste eingeteilt, dreimal war er bei Kampfeinsätzen dabei, einer davon mit tausend IS-Kriegern. Europäer, so schildert er das, sollten hinten den Rückzug sichern. „Die Araber und Tschetschenen haben uns nicht viel zugetraut.“

So versuchen Staaten, Islamisten von Gewalt abzuhalten:

■ Vorsorge: Beim britischen Programm „Radical Middle Way sprechen traditionelle, aber Gewalt ablehnende muslimische Geistliche vor jungen Muslimen.

■ Eingreifen: In den Niederlanden und Dänemark sollen unter anderem geschulte Pädagogen radikalisierte Muslime erkennen. Dann melden sie sie an eine Behörde, die etwa einen Mentor schickt.

■ Nachsorge: In Saudi-Arabien versuchen Lehrer und Psychologen mit moderatem Religionsunterricht, aber auch Sport- und Freizeitangeboten ehemalige Dschihadisten zu bekehren.

In den aufgezeichneten Telefonaten klingt das anders: Da ist er an der Front, verwundet, sein Kumpel angeschossen, drei Kämpfer tot. Er habe übertrieben, sagt er den Richtern. Er habe „heldenhafter“ dastehen wollen.

Immer wieder versuchte Aferdita B. ihren Bruder zur Rückkehr zu überreden. Sie tat das auf eigene Faust, eine Beratungsstelle wird in Frankfurt erst im Sommer 2014 gegründet.

Sozialarbeit mit radikalen Islamisten entwickelt sich in Deutschland nur langsam. Bundesweit gibt es eine Hotline mit vier Beratungsstellen, vom Innenminister finanziert. Hayat, auf Deutsch: Leben, ist eine davon. Claudia Dantschke berät von ihrem Büro in Berlin aus Eltern und versucht mit ihnen, Kinder am Ausreisen zu hindern. Die Familien, sagt Dantschke, seien oft „Teil des Problems, aber unbedingt auch Teil der Lösung.“

Es sind oft junge Leute aus Einwandererfamilien, die nach Identität suchen, nach ihrem Platz, gar nicht in erster Linie nach einer Religion. Dantschke fragt bei jedem: Was findet er bei den Islamisten, das ihm gefehlt hat? Orientierung. Bindung. Geborgenheit. Oft fielen in Gesprächen die gleichen vorgestanzten Antworten, sagt sie. Irgendwann aber gingen den Teenagern die Stanzen aus, dann sei da Verunsicherung: „Das ist die Chance“.

Das Innenministerium finanziert drei Teilzeitstellen bei Hayat, die Beratungsstelle ist für Berlin, die neuen Länder und besonders schwere Fälle bundesweit zuständig. 85 Familien betreut sie zurzeit. „Wir kommen nicht mehr hinterher“, sagt Dantschke.

Sie reist regelmäßig nach Österreich, um die Behörden zu beraten. Dort wird gerade erst ein Konzept für eine zentrale Anlaufstelle ausgearbeitet.

Als erstes Bundesland hat Hessen gerade ein Präventionsnetzwerk gegen Salafismus gegründet. Es reicht von Workshops zu Toleranz und Demokratie in Schulklassen bis zu einem Programm für inhaftierte Rückkehrer aus Syrien. Viereinhalb Stellen, zwei Honorarkräfte.

Anfang Dezember 2013 sagte Kreshnik B. bei einem Telefonat plötzlich: „Aferdita, du hast gesagt, du kommst in die Türkei und hilfst mir. Ich will nach Hause.“ Seine Schwester begann sofort, die Reise zu planen. B. solle seinen Onkel anrufen, der in Syrien für die Freie Syrische Armee kämpfte: „Damit er dich holt“. Mit ihrem Cousin flog sie in die Türkei und wartete.

Nach zwei Tagen taucht Kreshnik auf. An einem Donnerstag Mitte Dezember, fünf Monate nachdem der Bruder loszog, fliegen sie nach Frankfurt. Kreshnik B. wird am Flughafen festgenommen. Seitdem sitzt er in Untersuchungshaft.

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Gabriel Lehner liest fast alles, was ihm zum IS unterkommt. Auch zum Prozess gegen Kreshnik B. „Ich wundere mich schon über diesen Kerl“, sagt Lehner. Er ist an einer Brücke angelangt, unten rauscht der Fluss, rechts geht es den Berg hinauf. „Erst hingehen und dann zurückkommen, das macht gar keinen Sinn.“ Wenn er selbst einmal unten sei, komme erst wieder, wenn hier die Scharia gelte. „Gehen wir zurück“, sagt er und trottet los.

Im Sommer besorgte sich Lehner die Telefonnummer von Firas Abdullah, einem 19-jährigen Österreicher, der sich den Dschihadisten in Syrien angeschlossen hat. Ich bin ein Bruder, schrieb er bei WhatsApp, was geht ab dort unten? Abdullah antwortete, sagt Lehner, dass es ihm gut gehe und dass es Spaß macht in Syrien. „Ich soll nicht die Lügen der Medien glauben, dass überall Köpfe rumliegen.“

Ein anderer Wiener tauchte in einem IS-Video auf und lud seine Brüder ein, nach Syrien zu kommen, um Schafe und Ungläubige zu schlachten. Lehner hatte ihm auf ask.fm erst vor ein paar Wochen zur Konversion gratuliert.

„Schon lustig“, sagt er. Ob er den Mut bewundert? Lehner lacht. „Nein, nein. Also bewundern nicht. Jeder Mensch ist gleich. Aber die, die dort sterben, bekommen den Märtyrertod. Das ist schon was Besseres.“

Mit Mahmud und Arian beschloss er: Sobald wir können, reisen wir auch nach Syrien. Sein Entschluss stehe, sagt Lehner. Man müsse die Ausreise nur gut planen, man brauche genügend Geld.

Über Enthauptungen spricht er wie ein kühler Militär: Soldaten und Kämpfer, die sich dem IS in den Weg stellen, dürfen hingerichtet werden.

Vor zwei Monaten kam Lehner aus der Schule zurück, es gab Abendessen und seine Eltern fragten komisches Zeug. Was hältst du eigentlich von den Terroristen in Syrien? Keine Ahnung, sagte er. Und diese Jungs, die da hinfahren, kennst du da wen? Nein, wieso, sagte er.

Dann schrie sein Vater plötzlich. Spinnst du jetzt komplett? Heute waren Männer vom Verfassungsschutz da, die haben erzählt, was du schreibst im Internet. Wir haben Angst, dass du da hinfährst und dich in die Luft sprengst, sagte seine Mutter.

Lehner weinte, er versuchte zu erklären, aber sie hörten nicht, sagt er, sondern drohten, ihn ins Heim zu geben. Bei Mahmud und Arian war der Verfassungsschutz auch gewesen. Die Eltern beschlossen, dass sich die Jungs nicht mehr sehen sollten.

„Aber wie soll das gehen?“, fragt Lehner, „wir gehen zusammen zur Schule.“

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Die Experten von den Beratungsstellen raten Eltern, mit den Kinder nicht auf Konfrontation zu gehen. Sie sollen zuhören, nachfragen. Je mehr Krach, desto mehr Distanz. Und desto mehr Nähe zu den Salafisten. Auch Aferdita B. hat mit ihrem Bruder gestritten. Aber sie blieb dran. Er blieb ihr kleiner Bruder. Als sie ausgesagt hat, wendet sich der Richter an sie. Er wolle sagen, dass er gut finde, wie sie reagiert habe: „Das hat Ihrem Bruder vielleicht das Leben gerettet.“

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Seit der Verfassungsschutz da war, erzählt Lehners Vater abends, welche Grausamkeiten er über den IS gelesen hat. Lügen, sagt Lehner. Klar sei es in Syrien gefährlicher als in Österreich, unmoderner eh. Aber er müsse gar nicht an die Front. Das Kalifat sei inzwischen wie ein Staat. Er könnte als Koch arbeiten.

„Wir wissen, dass wir nicht kämpfen können dort unten, man nimmt nicht einfach eine Waffe und schießt“, sagt Lehner. Er, Mahmud und Arian seien ja keine Verrückten.

■  Sabine am Orde, 48, ist Inlandskorrespondentin der taz

■  Sebastian Kempkens, 26, ist Autor der taz.am wochenende