Demjanjuk verfolgt schweigend die Anklage

NS-PROZESS Im Münchner Verfahren gegen den mutmaßlichen Wachmann des Vernichtungslagers Sobibor verliest der Staatsanwalt die Anklage. Die Verteidigung beantragt die Einstellung des Verfahrens

BERLIN taz | John Iwan Demjanjuk schweigt weiter. Auch am zweiten Prozesstag gegen den mutmaßlichen KZ-Wächter machte der Angeklagte vor dem Münchner Landgericht von seinem Recht Gebrauch, keine Stellungnahme abzugeben. Immerhin erschien der 89-Jährige gebürtige Ukrainer geistig etwas reger als am Eröffnungstag.

Im Prozess verlas Staatsanwalt Hans-Joachim Lutz gestern die Anklageschrift. Darin wird Demjanjuk beschuldigt, als bewaffneter Wachmann im Nazi-Vernichtungslager Sobibor 1943 „bereitwillig an der Ermordung von mindestens 27.900“ jüdischen Männern, Frauen und Kindern mitgewirkt zu haben. Der Staatsanwalt sagte, der Angeklagte habe „in gefühlloser und unbarmherziger Gesinnung“ gemeinsam mit anderen Wachmännern und dem SS-Personal die Juden aus den Bahnwaggons in die Gaskammern getrieben. „Jeder Angehörige des Stammpersonals war an dem routinemäßigen Vernichtungsvorgang beteiligt.“

Demjanjuks Verteidiger Ulrich Busch beantragte die Einstellung des Verfahrens. Das Gericht könne nicht zuständig sein, weil Demjanjuk kein deutscher Amtsträger gewesen sei, argumentierte Busch. Zudem habe der Angeklagte bereits in Israel vor Gericht gestanden. Er dürfe nicht wegen des gleichen Delikts zweimal verurteilt werden. Tatsächlich wurde Demjanjuk in Jerusalem wegen seiner angeblichen Tätigkeit im Vernichtungslager Treblinka zunächst zum Tode verurteilt, später aber freigesprochen. Seine Arbeit in Sobibor stand nicht zur Debatte.

Über den Antrag wird das Gericht erst später entscheiden. Die Chancen einer Einstellung werden von Prozessbeobachtern aber als gering eingestuft. Busch hatte am Vortag für Empörung gesorgt, weil er Demjanjuk ein Opfer nannte, das mit den Juden im Lager gleichgestellt werden könne. KLAUS HILLENBRAND