Winnenden blickt nach vorn

TRAUERFEIER Ein Jahr nach dem Amoklauf gedenken Angehörige und Freunde der Getöteten. Der Bundespräsident fordert weitere Konsequenzen

„Schießsport hat in Deutschland Vorrang vor Menschenleben“

KLAUS JANSEN, BDK

AUS WINNENDEN INGO ARZT

„Warum war gestern. Heute sind wir stark.“ Den Satz hielt am Donnerstag auf der Trauerfeier für die Opfer des Amoklaufs von Winnenden und Wendlingen vor einem Jahr ein Mann auf einem Schild vor sich. Er war im Sinne vieler Menschen, die vor der Albertville-Realschule zusammengefunden hatten, wo die meisten der 15 Opfer getötet worden waren. Nun standen die Menschen in der Kälte und dem Schnee, der sich wie eine passende Metapher zu ihnen gesellte. Ein Jahr haben sie verarbeitet, getrauert, gezürnt und gefragt, allmählich sind die Erinnerungen vielleicht gedämpfter, wie es auch ihre Stimmen vom Schnee sind.

„Das Wichtigste ist, weiterzugehen und nicht stehen zu bleiben“, sagte ein Schüler der Schule. Sie haben die Feier mitgestaltet, sie sollten nach vorn blicken und bekamen deshalb neben Bundespräsident Horst Köhler die meiste Redezeit. „Wir sind nicht an unserem Schicksal zerbrochen“, sagte auch der Winnender Oberbürgermeister Bernhard Fritz.

Niemand fragte den Mann mit dem Schild, wer er denn sei, und auch das war ein gutes Zeichen: Journalisten waren aufgefordert, die Menschen still trauern zu lassen. Fotografen und Kameramänner standen diszipliniert auf einer extra für sie eingerichtetn Empore.

Köhler forderte neben „klar definierten Berichterstattungsregeln“ für Medien nach Amokläufen auch einen neuen Anlauf im Waffenrecht: „Es kann auch viel geschehen – noch mehr als bisher –, damit gefährdete Menschen nicht an Schusswaffen gelangen“, sagte er. Noch die alte CDU/SPD-Bundesregierung hatte die Gesetze geändert, unter anderem können Waffenbesitzer nun unangemeldet kontrolliert werden, ob sie ihre Waffen auch tatsächlich in einem abgeschlossenen Tresor aufbewahren. Zudem ist es nun in Schützenvereinen erst ab 18 statt ab 14 Jahren gestattet, mit großkalibrigen Waffen zu schießen.

Journalisten waren aufgefordert, die Menschen still trauern zu lassen

Zum Jahrestag des Amoklaufs ist erneut eine Diskussion entbrannt, ob diese Maßnahmen ausreichen. Der Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), Klaus Jansen, ging gegenüber der Neuen Osnabrücker Zeitung mit der Politik hart ins Gericht. Das Hobby Schießsport habe in Deutschland nach wie vor Vorrang vor Menschenleben, sagte er. Stichproben in Baden-Württemberg hätten zudem ergeben, dass mehr als die Hälfte der Waffenbesitzer ihre Pistolen und Munition nicht wie vorgeschrieben unter Verschluss hielten. Zudem seien schwere Waffen im Privathandel legal, noch immer dürften Waffe und Munition in derselben Wohnung aufbewahrt werden.

Der innenpolitische Sprecher der SPD im Bundestag, Dieter Wiefelspütz, verteidigt die Regelungen gegenüber der taz. Grundsätzlich unterstütze er Köhlers Forderung. „Aber die Gesetze sind noch kein Jahr in Kraft und haben sich noch nicht entfaltet. Den Jahrestag zum Anlass zu nehmen, erneut nach Verschärfungen zu rufen, halte ich für unseriös“, sagte er. Zunächst müssten die jetzigen Regelungen evaluiert werden. Auch der CDU-Innenexperte Wolfgang Bosbach stellte sich gegen eine Verschärfung des Waffenrechts.

Gestern in Winnenden trauerten auch die Eltern der Opfer, die sich im Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden organisiert haben. Auch sie fordern eine radikale Verschärfung des Waffenrechts – aber eben nicht nur das. Sie setzen sich auch gegen Mobbing an Schulen, gegen Komasaufen und für mehr Schulsozialarbeiter ein.

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